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Der Gazastreifen im Nahostkonflikt | Naher Osten | bpb.de

Naher Osten Editorial „Alles außer Hetze ist sagbar“. Ein Gespräch über die Auswirkungen des Nahostkonflikts in Berliner Klassenzimmern Traumatisiert. Die israelische Gesellschaft nach dem 7. Oktober - Essay Der Gazastreifen im Nahostkonflikt Vernetzt, fragmentiert. Terrororganisationen im iranischen Schattenreich Irans neues Selbstverständnis. Zwischen innenpolitischer Transition und außenpolitischem Aufstieg Der Nahe Osten zwischen Aufbruch und Staatszerfall. Ein Rückblick Im weltpolitischen Machtgefüge Der 7. Oktober als Wendepunkt? Neue Impulse für eine Friedenslösung - Essay

Der Gazastreifen im Nahostkonflikt

Jan Busse

/ 17 Minuten zu lesen

Eine wechselhafte Geschichte, kriegerische Auseinandersetzungen und prekäre Lebensbedingungen prägen seit vielen Jahren die Lage im Gazastreifen. Eine nachhaltige Friedenslösung erscheint notwendiger denn je.

Am Morgen des 7. Oktober 2023 überwanden Terroristen der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen aus dem Gazastreifen die Sperranlagen zu Israel, ermordeten etwa 1.200 Menschen und nahmen über 230 Personen als Geiseln. Das Attentat versetze die israelische Gesellschaft und die Weltöffentlichkeit in einen Schockzustand, nicht nur aufgrund seiner entsetzlichen Brutalität, sondern auch, weil niemand es für möglich gehalten hatte, dass die israelischen Sicherheitsmaßnahmen so einfach zu überwinden waren. Israel reagierte daraufhin mit einem beispiellosen militärischen Einsatz im Gazastreifen.

Seit dem Beginn des Kriegs hat sich die Lage in Gaza zu einer an Dramatik kaum zu übertreffenden humanitären Katastrophe zugespitzt. Im März 2024 waren mindestens die Hälfte aller Gebäude und fast 70 Prozent aller Wohnhäuser durch israelische Angriffe beschädigt oder zerstört. Laut Vereinten Nationen waren 80 Prozent der Bevölkerung – rund 1,7 Millionen Menschen – zu diesem Zeitpunkt als Binnenvertriebene an die südliche Grenze zu Ägypten geflüchtet. Es starben durch israelische Angriffe über 30.000 Palästinenser, geschätzte 70 Prozent davon Frauen und Kinder. Über 70.000 wurden verletzt, Tausende weitere Personen gelten als vermisst. Aufgrund der durch den Krieg verursachten humanitären Notlage warnte das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen wiederholt vor der akuten Gefahr einer Hungersnot.

Israel scheint derzeit weit davon entfernt, die eigenen Kriegsziele – Zerstörung der Hamas und Befreiung aller Geiseln – zu erreichen. Die Kämpfe dauern an, das Tunnelnetzwerk der Terrororganisation scheint in weiten Teilen intakt, und die Hamas ist immer noch in der Lage, Raketen auf Israel abzufeuern. Die Geiseln konnten bislang – mit Ausnahme von insgesamt drei Personen – nicht durch Kämpfe, sondern nur durch Verhandlungen befreit werden. Und selbst wenn es Israel langfristig gelingen sollte, die militärischen Fähigkeiten der Hamas auszuschalten, würde sie als Massenorganisation weiter über eine starke Verankerung in der palästinensischen Gesellschaft verfügen.

Angesichts der andauernden Eskalation mit Folgen für die gesamte Region und der existenziellen Notlage der Bevölkerung stellt sich nicht nur die Frage, wie die Kampfhandlungen im Gazastreifen schnellstmöglich beendet werden können, sondern auch, welche Perspektiven es für das Gebiet gibt und wie sich diese mit einer nachhaltigen Regelung des Nahostkonflikts insgesamt verbinden lassen.

Geschichte des Gazastreifens und des Nahostkonflikts

Der Gazastreifen erstreckt sich entlang des östlichen Mittelmeers auf einer Länge von 45 Kilometern und hat eine maximale Breite von 14 Kilometern. Mit einer Fläche von etwa 365 Quadratkilometern ist das Gebiet kleiner als das Bundesland Bremen, hat aber mit 2,3 Millionen mehr als dreimal so viele Einwohner und ist damit eines der am dichtesten besiedelten Gebiete weltweit (siehe Karte in dieser Ausgabe).

Gaza im September 2023 (mr-kartographie, Gotha) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Seit Beginn des Nahostkonflikts vor rund 100 Jahren kam dem Gazastreifen immer wieder eine besondere Rolle zu. Nach heftigen Kämpfen im Zuge des Ersten Weltkriegs beendete der britische General Allenby am 9. November 1917 – eine Woche, nachdem sich das Vereinigte Königreich in der Balfour-Erklärung für die Gründung eines jüdischen Staats ausgesprochen hatte – die osmanische Herrschaft über den Gazastreifen und in der Folge auch über ganz Palästina. Der Völkerbund übertrug dem Vereinigten Königreich daraufhin die Mandatsverwaltung über dieses Gebiet, das im Zuge der Entstehung des politischen Zionismus seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch zum Ziel jüdischer Migration aus Europa geworden war. Zeitgleich bildete sich ein palästinensisches Nationalbewusstsein heraus, das sich während der Mandatszeit in Abgrenzung zum Zionismus immer stärker manifestierte.

Erst seit dieser Zeit lässt sich überhaupt vom Nahostkonflikt sprechen. Denn es handelt sich keineswegs um eine jahrhunderte- oder gar jahrtausendealte Auseinandersetzung, sondern um einen Konflikt zweier konkurrierender nationalistischer Bewegungen – dem jüdischen Zionismus und dem palästinensischen Nationalismus – mit dem jeweiligen Ziel der Errichtung eines unabhängigen Staats auf demselben Territorium. Bereits während der Mandatszeit griffen beide nationalen Bewegungen zu Gewalt, sowohl gegen die Zivilbevölkerung der jeweils anderen Gruppe, als auch gegen die als Besatzungsmacht wahrgenommene britische Administration. Infolge des Arabischen Aufstands (1936–39) schlug London 1937 erstmalig die Teilung des Gebiets in einen arabischen und einen jüdischen Staat vor. Eine Idee, die man zehn Jahre später im UN-Teilungsplan aufgriff. Dieser Plan sah 56 Prozent des Territoriums für einen jüdischen und 43 Prozent für einen arabischen Staat vor – das Gebiet um Gaza hätte zusätzlich noch Teile der angrenzenden Negev-Wüste umfasst. Er stieß jedoch auf Ablehnung der arabischen Länder, unter anderem da er ihnen angesichts der klaren arabischen Bevölkerungsmehrheit von 70 Prozent als unausgewogen erschien. Als sich das Vereinigte Königreich 1948 aus Palästina zurückzog und Israel daraufhin seine Unabhängigkeit ausrief, erklärten die arabischen Nachbarn dem neu gegründeten jüdischen Staat den Krieg.

Israel ging siegreich aus diesem ersten arabisch-israelischen Krieg hervor und konnte sein Gebiet im Vergleich zum UN-Teilungsplan deutlich vergrößern. Ägypten eroberte den Gazastreifen, Jordanien das Westjordanland und Ost-Jerusalem. Als abgegrenztes und so bezeichnetes geografisches Gebiet ist der Gazastreifen daher ein unmittelbares Ergebnis dieses Kriegs. Das Gebiet mit den heute bekannten Grenzen entstand somit durch den zwischen Israel und Ägypten 1949 vereinbarten Waffenstillstand. Völkerrechtlich ist der Verlauf der daraus resultierenden "Grünen Linie" (Waffenstillstandsdemarkation) bis heute bedeutsam, da sie einen zentralen Bezug für den möglichen Grenzverlauf im Rahmen einer Zweistaatenregelung darstellt.

Während des Kriegs flohen von insgesamt 700.000 Palästinensern rund 200.000 im Zuge der von ihnen als "Katastrophe" (arabisch Nakba) bezeichneten Ereignisse aus dem israelischen Kernland in den Gazastreifen. Seither bilden dort die Flüchtlinge des Kriegs von 1948 und ihre Nachkommen eine deutliche Bevölkerungsmehrheit von 70 bis 80 Prozent. Mit der Fluchterfahrung verbundene Narrative spielen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft, und das 1949 eingerichtete Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) leistet seitdem einen essenziellen Beitrag im Hinblick auf humanitäre Hilfe, Gesundheitsversorgung und Bildung.

Zwischen 1949 und 1967 lebte die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens unter ägyptischer Militärverwaltung. Die Fedajin genannten, nationalistischen palästinensischen Guerillagruppen, für die der Gazastreifen mit seinen Flüchtlingslagern ein wichtiges Zentrum bildete, verübten ab 1949 immer wieder Angriffe auf das israelische Staatsgebiet. Vor allem, um gegen die Kämpfer vorzugehen, besetzten die israelischen Streitkräfte während der Suezkrise im Herbst 1956 für vier Monate das Gebiet und töteten bei zwei Massakern – in Khan Yunis und Rafah – mehrere Hundert Zivilisten. Während sich Ägyptens charismatischer Präsident Gamal Abdel Nasser in seiner anti-israelischen Rhetorik für die Palästinenser einzusetzen schien, unterdrückte er gleichzeitig eigenständige nationalistische Bestrebungen. Sowohl die von Jassir Arafat 1959 gegründete Fatah als auch die von ihr später dominierte Palästinensische Befreiungsorganisation PLO waren daher vom Exil aus geführte Organisationen, mit zunächst nur losen Verbindungen nach Gaza und ins Westjordanland.

Unter israelischer Besatzung

Die arabisch-israelischen Spannungen eskalierten im Juni 1967 im Sechstagekrieg, in dem Israel innerhalb kürzester Zeit die feindlichen Streitkräfte ausschaltete und den Gazastreifen, den Sinai, das Westjordanland, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen eroberte. Für die Palästinenser hatte die arabische Niederlage, auch "Rückschlag" (arabisch Naksa) genannt, mit dem Beginn der israelischen Besatzung und Besiedlung erhebliche Folgen. Seitdem kontrollieren die israelischen Streitkräfte die palästinensischen Gebiete auf der Grundlage von Militärdekreten und der Berufung auf den von der britischen Mandatsverwaltung 1945 verhängten Ausnahmezustand. Als die Likud-Partei ab 1977 erstmals den Premierminister stellte, forcierte Israel den Siedlungsbau, da man darin ein religiös-ideologisch motiviertes Unterfangen sah. Gerade angesichts seiner hohen Bevölkerungsdichte und der ohnehin prekären Lebensbedingungen der Flüchtlingsbevölkerung sorgte die Militär- und Siedlerpräsenz im Gazastreifen nicht nur für erhebliche Einschränkungen im palästinensischen Alltag, sondern führte auch immer wieder zu gewaltsamen Konfrontationen. Diese eskalierten im Dezember 1987 in einem palästinensischen Aufstand gegen die israelische Besatzung, der ersten Intifada, die auch auf das Westjordanland übergriff und bei der insgesamt rund 400 Israelis und 1.500 Palästinenser starben.

Unmittelbar zu Beginn der Intifada gründete sich im Gazastreifen aus dem palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft die Hamas, die fortan das Streben nach nationaler Unabhängigkeit mit dem Ziel der Islamisierung der Gesellschaft kombinierte. Wesentlicher Bestandteil ist dabei die grundsätzliche Ablehnung Israels als jüdischem Staat. Insbesondere die oft zitierte Hamas-Charta von 1988 enthält zahlreiche anti-jüdische Diffamierungen. Das Zusammenwirken der Propagierung des gewaltsamen Kampfs gegen Israel – aus der Sicht der Hamas eine legitime Form des Widerstands – und islamisch begründetem Engagement in sozialen Fragen trug zu ihrer Popularität bei. So wurde die Organisation zu einer vor allem im Gazastreifen fest verankerten Massenorganisation und damit zum größten Rivalen von PLO und Fatah.

Überrumpelt von den Ereignissen in der Heimat rief die PLO 1988 im Exil die palästinensische Unabhängigkeit aus. Zwar handelte es sich um einen rein symbolischen Akt, der aber de facto die Anerkennung Israels bedeutete und so den Weg für die Oslo-Abkommen ebnete. Die damit einhergehende Bereitschaft, sich beim Streben nach einem unabhängigen Staat auf die 1967 besetzten Gebiete zu beschränken und dabei auf diplomatische Mittel statt auf Gewalt zu setzen, unterschied die PLO von da an maßgeblich von der Hamas.

Neben der Anerkennung zwischen PLO und Israel regelten die Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 vor allem Fragen der palästinensischen Selbstverwaltung im Westjordanland und im Gazastreifen. 1994 kehrte Jassir Arafat nach Palästina zurück und wurde im Gazastreifen von Zehntausenden jubelnd empfangen. Zum de facto Regierungssitz wurde zwar das nördlich von Jerusalem gelegene Ramallah, Gaza fungierte aber als wichtiges politisches Zentrum. Arafat trug nun als Präsident der neu gegründeten Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) die Verantwortung für die Selbstverwaltung der palästinensischen Bevölkerung. Volle Kontrolle überließ man in den Oslo-Abkommen den Palästinensern formal jedoch nur in den Bevölkerungszentren im Westjordanland und im Gazastreifen, während die israelischen Streitkräfte die Kontrolle über die jüdischen Siedlungen und daran angrenzende Gebiete behielten.

Allerdings gab es sowohl auf israelischer wie auch palästinensischer Seite entschiedene Gegner des Friedensprozesses, die statt einer Kompromissregelung Maximalforderungen durchsetzen wollten. Die Hamas sabotierte Friedensbemühungen durch Terroranschläge auf israelische Ziele und stellte damit zugleich die Autorität der PA und den Verhandlungskurs der PLO infrage. Parallel dazu setzte die israelische Seite den Siedlungsbau unvermindert fort, sodass die Zahl der Siedler im Gazastreifen zwischen 1992 und 2000 von 4.300 auf 6.700 anstieg, während sie sich im Westjordanland von 100.000 auf 193.000 fast verdoppelte. Nachdem bei den Verhandlungen in Camp David im Sommer 2000 ein letzter Versuch gescheitert war, die strittigen Endstatusfragen zu klären, entlud sich die Frustration darüber im Herbst 2000 in der zweiten Intifada.

Abkopplung, Machtübernahme und Folgen

Angesichts der Gewalt während der zweiten Intifada setzte sich in Israel die Idee einer Abkopplung von der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten durch. Im Westjordanland begann ab 2003 der Bau von Sperranlagen, die der Internationale Gerichtshof ein Jahr später aufgrund ihrer Abweichung von der Grünen Linie für völkerrechtswidrig erklärte. 2005 zog die israelische Regierung alle Truppen aus dem Gazastreifen ab und räumte – gegen massiven Widerstand der Siedlerbewegung – alle dortigen Siedlungen, da deren Schutz mit hohem Aufwand verbunden war und dem Gebiet – anders als beim Westjordanland – nur eine geringe religiöse und historische Bedeutung beigemessen wurde. Da der Abzug nicht mit der PA abgestimmt war, instrumentalisierte ihn die Hamas propagandistisch, in dem sie ihn als Erfolg ihres bewaffneten Kampfs darstellte.

2006 trat die Hamas erstmalig bei den Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat an, nachdem sie 2005 die Kommunalwahlen im Gazastreifen deutlich gewonnen hatte. Dennoch überraschte der Sieg bei den Parlamentswahlen 2006 nicht nur die Hamas selbst, sondern auch die konkurrierende Fatah und die internationale Gemeinschaft. Es kam zu innerpalästinensischen Auseinandersetzungen, die in der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 mündeten und zur bis heute andauernden Spaltung zwischen Hamas und Fatah führten.

Bereits 2006 riegelte Israel in Reaktion auf die Entführung des Soldaten Gilad Schalit den Gazastreifen ab. Aufgrund der israelischen Kontrolle über Landgrenzen, Meereszugang, Luftraum und elektromagnetisches Spektrum gilt damit der Gazastreifen trotz des Truppenabzugs von 2005 weiterhin als besetzt. Personen und Güter können das Gebiet seitdem nur sehr begrenzt verlassen oder hineingelangen, sodass die Bevölkerung in hohem Maße von internationalen Hilfslieferungen abhängig ist und kaum über Perspektiven für ökonomische oder persönliche Entwicklung verfügt. Zusätzlich leidet die Bevölkerung nicht nur unter wiederkehrenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas – 2006, 2008/09, 2012, 2014, 2021 –, die mit Zerstörungen und Traumatisierung einhergingen, sondern auch unter der repressiven Herrschaft der islamistischen Machthaber.

Durch die Machtübernahme 2007 war die Hamas innerhalb des Gazastreifens für die Bevölkerung verantwortlich, baute Regierungsstrukturen auf und schickte eigene Polizeikräfte auf die Straßen. Ihre Position als De-facto-Herrscherin ermöglichte es der Organisation mithilfe von über Ägypten geschmuggelte Materialien, Raketen zu bauen und damit wiederholt Israel anzugreifen. Gegner des Gaza-Abzugs in Israel sahen sich daher darin bestätigt, dass es ein Fehler war, das Gebiet zu verlassen. Gleichzeitig hatte sich 2017 ein Kurswechsel hin zu größerem realpolitischem Pragmatismus angedeutet, als die Hamas in Ergänzung zur Charta von 1988 ein Grundsatzpapier vorlegte, in dem sie die Schaffung eines palästinensischen Staats in den Grenzen von 1967 und de facto die Existenz Israels zu akzeptieren schien. Mit dem Überfall vom 7. Oktober hat sich jedoch gezeigt, dass kompromisslose Vertreter innerhalb der Hamas, allen voran der als Drahtzieher des Anschlags geltende Jahia Sinwar, die Oberhand gewonnen haben.

Die Zustimmung der Bevölkerung im Gazastreifen für die Hamas war und ist keineswegs so umfassend, wie es gelegentlich scheint. Kurz vor dem 7. Oktober 2023 wäre die Liste der Hamas bei Parlamentswahlen laut Umfragen dort lediglich auf 44 Prozent gekommen. Über 70 Prozent betrachteten die Hamas-Regierung als korrupt. Trotz zu befürchtender Repressionen gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste gegen die Hamas, zuletzt Ende Juli 2023. Nach dem 7. Oktober stieg innerhalb der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland zwar die Popularität der Hamas, im Gazastreifen lag sie im Dezember 2023 jedoch nur bei knapp über 40 Prozent.

Auch auf israelischer Seite gewannen die Befürworter einer kompromisslosen Maximalforderung in den vergangenen Jahren an Zulauf. So folgte Benjamin Netanjahus Rückkehr ins Amt als israelischer Premierminister unmittelbar auf den Gazakrieg zum Jahreswechsel 2008/09.

Netanjahu zeigte von Anfang an kein ernsthaftes Interesse an einer verhandelten Konfliktregelung. Vielmehr bot ihm die Herrschaft der Hamas über den Gazastreifen einen willkommenen Vorwand, Verhandlungen mit PA-Präsident Mahmud Abbas abzulehnen, indem er behauptete, dass es aufgrund der Spaltung zwischen Fatah und Hamas auf palästinensischer Seite keinen Partner für Verhandlungen gebe. Aussöhnungsbemühungen, die darauf abzielten, die Blockade des Gazastreifens zu überwinden und eine einheitliche palästinensische politische Führung zu etablieren, scheiterten seitdem wiederholt vor allem an der mangelnden Bereitschaft beider Parteien, ihre Macht mit dem Rivalen zu teilen.

Statt einer Regelung des Konflikts stand für den israelischen Premierminister kurzfristiges Konfliktmanagement im Vordergrund, das darauf beruhte, die Spaltung aufrechtzuerhalten und notfalls militärisch gegen die Hamas vorzugehen. 2019 erklärte Netanjahu zudem gegenüber Abgeordneten seiner eigenen Partei, dass jeder, der einen palästinensischen Staat ablehne, die Zahlung von Geldern nach Gaza unterstützen müsse, weil durch die Aufrechterhaltung der Spaltung zwischen PA im Westjordanland und der Hamas in Gaza die Schaffung eines palästinensischen Staats verhindert werde. Dass Israel die Hamas in den Waffengängen nicht besiegte, steigerte wiederum deren Status als Anführerin des palästinensischen "Widerstands". Der Mangel an politischen Perspektiven für eine verhandelte Konfliktregelung verschärfte sich zusätzlich, als 2022 in Israel eine extrem rechte Regierungskoalition wiederum mit Netanjahu als Premier an die Macht kam und die exklusive Kontrolle über das gesamte Land zwischen Jordan und Mittelmeer zu einem zentralen Anspruch ihrer Politik erklärte.

Auch jenseits der Ebene der politischen Führungen erhielten in den vergangenen 15 Jahren in beiden Gesellschaften Positionen Zulauf, die sich gegen eine verhandelte Konfliktregelung aussprechen. Die Zustimmung zur Zweistaatenregelung lag schon vor dem 7. Oktober auf beiden Seiten auf einem historischen Tiefstand. Im Dezember 2022 unterstützten sie nur noch rund ein Drittel der jüdischen Israelis und der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen. Dagegen befürworteten 30 Prozent der befragten Palästinenser und 37 Prozent der jüdischen Israelis eine Ein-Staaten-Regelung ohne gleiche Rechte und einer Dominanz der jeweils eigenen Gruppe.

Konfliktregelung statt Konfliktmanagement

Die weitere Entwicklung der Lage im Gazastreifen und des Nahostkonflikts insgesamt hängt insbesondere mit drei miteinander verknüpften Aspekten zusammen. Angesichts der humanitären Katastrophe sollte erstens ein sofortiges Ende aller Kampfhandlungen herbeigeführt werden. Dass die Zerstörung der Hamas und die Befreiung der Geiseln nicht nur schwer erreichbar, sondern auch miteinander unvereinbar scheinen, haben inzwischen nicht nur Mitglieder des israelischen Kriegskabinetts und der Militärführung, sondern auch Vertreter der US-Regierung zum Ausdruck gebracht.

Zweitens können durch den weiteren Kriegsverlauf unwiderruflich Fakten geschaffen werden, mit direkten Auswirkungen auf mittel- und langfristige Perspektiven sowohl für den Gazastreifen als auch für die Aussichten auf eine Konfliktregelung. Dies ist vor allem deshalb von Bedeutung, da ohne klaren Widerspruch und das Aufzeigen konstruktiver Optionen durch internationale Akteure bestehende Extrempositionen weiter gestärkt würden. So verletzt beispielsweise die vom israelischen Militär errichtete einen Kilometer breite Sperrzone entlang der Grenze des Gazastreifens dessen territoriale Integrität, da sie von der Grünen Linie abweicht und zugleich der palästinensischen Bevölkerung dort dringend benötigte Flächen entziehen würde. Dass es in der israelischen Führung bislang keinen klaren Plan für die Zeit nach den Kampfhandlungen gibt, spielt zudem der nationalreligiösen Siedlerbewegung und ihren extrem rechten Vertretern in der Regierung in die Hände, die offen die komplette Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und eine dauerhafte erneute jüdische Präsenz im Gazastreifen fordern. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass die massive Zunahme von gewaltsamen Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und Siedlern mit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland zu einem Kollaps der ohnehin geschwächten Palästinensischen Autonomiebehörde führen könnte. Trotz aller Dysfunktionalität und autoritärer Tendenzen bekennt sich die PA weiterhin zu einer verhandelten Zweistaatenregelung und sollte gerade angesichts des Popularitätsschubs der Hamas nach dem 7. Oktober nicht weiter geschwächt werden. Vielmehr sollte sie mittelfristig durch Wahlen mit neuer Legitimität ausgestattet und im Kapazitätsaufbau so gestärkt werden, dass sie auch eine zentrale Rolle bei der zukünftigen Verwaltung des Gazastreifens spielen kann. Hinzu kommt, dass sich der Gazakrieg schon jetzt destabilisierend auf die Region und insbesondere auf Ägypten und Jordanien auswirkt, die einzigen Nachbarstaaten, mit denen Israel Friedensverträge geschlossen hat. Eine weitere Verschärfung der Situation im Gazastreifen sowie eine fehlende Regelungsperspektive des Konflikts gefährdet somit auch die Sicherheit Israels. So bezeichnete der jordanische Premierminister Bisher Al-Khasawneh im November 2023 jegliche israelischen Versuche, die palästinensische Bevölkerung aus dem Gazastreifen zu vertreiben, als Kriegserklärung.

Drittens und damit verbunden, müssen die Perspektiven für den Gazastreifen mit einer nachhaltigen Friedensregelung verknüpft werden, um den Rückfall in ein reines Konfliktmanagement zu vermeiden. Gerade das Aufzeigen von entsprechenden Optionen sowie konstruktiven Alternativen zum bewaffneten Kampf sind wichtige Mittel, um der Hamas und anderen militanten Gruppen den Zulauf zu entziehen. Eine entsprechende Perspektive wäre auch eine zentrale Voraussetzung für das Engagement einer "wiederbelebten PA" im Gazastreifen, die andernfalls von der eigenen Bevölkerung als verlängerter Arm einer andauernden israelischen Besatzung wahrgenommen würde. So erklärte PA-Premierminister Mohammed Schtajjeh etwa im Oktober 2023, seine Behörde sei nicht bereit, "auf einem israelischen Panzer" nach Gaza zu kommen. Auch arabische Staaten werden nur bereit sein, sich am Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur zu beteiligen, wenn es Aussichten auf eine Konfliktregelung gibt, an deren Ende die Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staats steht. Zudem ist es im Interesse der Glaubwürdigkeit westlicher Staaten, im Kontext der Beendigung des Gazakriegs und einer nachhaltigen Konfliktregelung viel stärker als bisher auf die Einhaltung völkerrechtlicher Prinzipien zu bestehen. Andernfalls könnten die von Staaten des Globalen Südens geäußerten Vorwürfe, die USA und die EU würden die von ihnen vertretenen außenpolitischen Werte lediglich selektiv anwenden, langfristige Folgen für die strategische Zusammenarbeit haben.

Fazit

Angesichts der zunehmend ausweglos erscheinenden Eskalationsdynamik und der verhärteten Fronten zwischen den Konfliktparteien wäre ein umfassendes internationales Engagement von zentraler Bedeutung, um konstruktiv eine nachhaltige Konfliktregelung zu befördern. Ansonsten kann es weder für die palästinensische noch für die israelische Seite dauerhaft Frieden und Sicherheit geben. Ein solcher Ansatz scheint gerade aufgrund der Abhängigkeit beider Seiten von externer Unterstützung zielführend, während gleichzeitig diejenigen lokalen Akteure, die sich weiterhin für eine verhandelte Konfliktregelung einsetzen, gestärkt werden sollten. Den USA kommt in diesem Kontext als wichtigstem internationalen Akteur in der Region und engstem Verbündeten Israels eine wesentliche Rolle zu. Weil die USA jedoch aus palästinensischer und arabischer Sicht vielfach als zu parteiisch wahrgenommen werden, sollte die EU stärker als bisher die Position eines aktiven Vermittlers einnehmen.

Ein zu schaffender Rahmen für Verhandlungen sollte jedoch die Fehler des gescheiterten Oslo-Friedensprozesses vermeiden. Denn angesichts des asymmetrischen Machtverhältnisses zwischen Israel und den Palästinensern braucht es eine aktive und engmaschige internationale Einmischung. Statt Israelis und Palästinenser sich selbst zu überlassen, sollten klare Parameter zu den zentralen Streitfragen vorgegeben werden, innerhalb derer sich die Konfliktparteien einigen können. Diese Vorgaben sollten mit positiven und negativen Anreizen verbunden werden. Der vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell im Januar 2024 vorgelegte Friedensplan geht in eine solche Richtung. Auf regionaler Ebene könnte die bisher ausgebliebene Verknüpfung der Normalisierung zwischen Israel und einzelnen arabischen Staaten im Rahmen der "Abraham Accords" einerseits und der Palästinafrage andererseits eine konstruktive Wirkung haben. So erklärte Saudi-Arabien im Frühjahr 2024, dass es eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit Israel von einem Ende der Kampfhandlungen und der Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staats abhängig mache.

Fest steht: Der Nahostkonflikt ist zurück ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, und die weitere Entwicklung des Kriegs im Gazastreifen und Frage nach den Perspektiven für eine Konfliktregelung haben unmittelbaren Einfluss auf fundamentale Fragen der regionalen Sicherheit, die über den Nahen Osten selbst hinausreichen.

arbeitet als promovierter Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr in München. Sein gemeinsam mit Muriel Asseburg verfasstes Buch "Der Nahostkonflikt: Geschichte, Positionen, Perspektiven" ist 2024 in der elften Auflage erschienen.