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Wer sind die Reichsbürger? | Reichsbürger | bpb.de

Reichsbürger Editorial Wer sind die Reichsbürger? „Man kann einen Reichsbürger nicht überzeugen“. Von Fantasietiteln bis zur Kettensäge: Ein Gespräch mit Andreas Ferkau über Einschüchterung, Behördenalltag und die Grenzen von Bürgerfreundlichkeit Verschwörungsideologischer Souveränismus und Rechtsextremismus Die Prozesse gegen die Gruppe Reuß. Einblicke in das Denken der Angeklagten Ideologische Brücken. Über den Zusammenhang von Esoterik, Rechtsextremismus und dem Reichsbürgermilieu Exportierte Staatsverweigerung? Zum globalen Einfluss der US-amerikanischen Sovereign Citizens Vom Kontrollverlust zur Ideologie. Psychosoziale Dynamiken der Rekrutierung von Reichsbürgern

Wer sind die Reichsbürger?

Sophie Schönberger

/ 17 Minuten zu lesen

Reichsbürger sind als Untersuchungsobjekt ein moving target. Ihre Organisationsformen und ihre Ideologie sind fluide. Was sie vereint, ist die Ablehnung der staatlichen Strukturen der Bundesrepublik, die sie aber nicht bekämpfen, sondern schlicht als inexistent imaginieren.

Es ist noch nicht einmal zehn Jahre her, da hat die Frage danach, wer die Reichsbürger sind, wahlweise ein irritiertes Achselzucken, ein Augenrollen oder ein glucksendes Lachen hervorgerufen. Reichsbürger, so dachte man damals, seien harmlose Spinner. Männer (eher selten auch Frauen), die Spaß daran hatten, eigene Flaggen und Wappen, eigene Ausweise und Führerscheine zu entwerfen. Mühsam für die Polizei, wenn es einmal zu Diskussionen um diese Scheinpapiere kam, aber ansonsten ungefährlich.

Diese Einschätzung änderte sich grundlegend, als im Herbst 2016 ein Mitglied der Reichsbürgerszene auf seinem Grundstück im fränkischen Georgensgmünd einen Polizisten erschoss. Nicht nur die Öffentlichkeit, auch die Verfassungsschutzbehörden haben die Szene der Reichsbürger seitdem deutlich intensiver in den besorgten Blick genommen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Wahrnehmung des Phänomens und der von ihr ausgehenden Bedrohung schließlich im Dezember 2022 mit der Verhaftung von Mitgliedern der rechtsterroristischen Vereinigung um Heinrich Prinz Reuß – einer der größten Anti-Terror-Einsätze in der Geschichte der Bundesrepublik.

Annäherungen an ein diffuses Phänomen

Vor diesem Hintergrund verwundert es ein wenig, dass die Frage nach den Reichsbürgern heute zwar nicht mehr dieselben wahlweise amüsierten, irritierten oder abwiegelnden Reaktionen wie vor zehn Jahren auslöst, die Antwort aber immer noch vergleichsweise vage bleiben muss. Denn die Forschung darüber, wer die Reichsbürger sind, steht tatsächlich immer noch ganz am Anfang. Die Schwierigkeit, das Phänomen zu fassen, liegt im Untersuchungsobjekt selbst begründet. Denn wenn es irgendein übergreifendes, bestimmendes Merkmal der Reichsbürgerszene gibt, über das sie sich beschreiben lässt, dann ist das zunächst einmal ihre extreme Heterogenität.

Die Verfassungsschutzbehörden definieren Reichsbürger in einem sehr allgemeinen Sinn als „Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Dazu berufen sie sich unter anderem auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht. Sie sprechen den demokratisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten die Legitimation ab oder definieren sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend.“

Wie unterschiedlich die Menschen und Anschauungen sind, die sich hinter dieser sehr allgemeinen Definition verbergen, verrät ein kurzer Blick auf ein paar exemplarisch ausgewählte, bekannte oder auch unbekannte Fälle. Zu den prominentesten Angehörigen der Reichsbürgerszene gehört zweifellos Heinrich Prinz Reuß, ein Frankfurter Immobilienunternehmer Jahrgang 1951. Als Spross eines ehemals regierenden Fürstenhauses erzählte er gerne von der Großartigkeit der Monarchie. Seine Hinwendung zum Reichsbürgertum hängt vermutlich eng mit der Tatsache zusammen, dass seine 2019 verstorbene Mutter für die Enteignungen seiner Familie in der sowjetisch besetzten Zone in der Zeit zwischen 1945 und 1949 keine Entschädigungen durchsetzen konnte und alle entsprechenden Gerichtsprozesse verlor. Ab 2019 wurden seine reichsbürgerlichen Verschwörungserzählungen zunehmend nach außen sichtbar. Er sprach öffentlich von dem Leid, das durch die Abschaffung der Monarchie über die Menschen gekommen sei, und behauptete, sein Urgroßvater habe sich bei der Abdankung 1918 ein „Rücktrittsrecht“ vorbehalten, das seine Familie später ausgeübt habe, ohne jedoch als legitime Herrscherfamilie anerkannt zu werden. Im Dezember 2022 wurde er verhaftet, weil er zusammen mit einer Gruppe sehr unterschiedlicher Personen so etwas wie einen Putsch plante – darunter eine ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete und ein ehemaliger Bundeswehroffizier, der der QAnon-Verschwörungserzählung anhängt.

Von ganz anderen Dingen getrieben war demgegenüber Wolfgang Plan, der Reichsbürger, der im Oktober 2016 auf seinem Grundstück einen Polizisten erschoss. Er kommt aus schwierigen Familienverhältnissen. Obwohl er keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, fasste er beruflich Fuß – bis er mit Anfang 30 bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Zehn Jahre lang bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente, danach eröffnete er eine Schule für chinesische Kampfkunst, die ihn allerdings in den finanziellen Ruin trieb.

Zur Reichsbürgerideologie fand er im Internet, vor allem über die sozialen Medien. Seine dortigen Beiträge waren eine eigenwillige Mischung aus esoterisch angehauchten Beschwörungen des Weltfriedens, Reichsbürgerpropaganda und der Verherrlichung von Schusswaffen. Einige Monate vor seiner Bluttat schaltete er in der örtlichen Presse eine Anzeige mit seiner „Lebenderklärung“. Unter Bezugnahme auf eine päpstliche Bulle aus dem Jahr 1540 und ein englisches Gesetz von 1666 proklamierte „der lebendige beseelte Manne aus Fleisch und Blut (…) tatsächlich auf diesem Planeten, genannt Erde, voll anwesend“ zu sein: „Ich bin immer noch am Leben und weder auf hoher See, noch sonst irgendwo im Universum verschollen.“ Diese Erklärung, die durch mehrere Fingerabdrücke aus roter Tinte von Zeugen „beglaubigt“ wurde, verschickte er auch an verschiedene Behörden. Später meldete er sowohl sein Gewerbe als auch seinen Wohnsitz ab und machte gegenüber den Behörden geltend, er sei unbekannt verzogen, obwohl er weiter in seinem Haus in der fränkischen Kleinstadt lebte. Um sein Grundstück malte er eine dicke gelbe Linie, welche die „Staatsgrenze“ markieren sollte. Hier verschanzte er sich und tötete sein Opfer, als die Behörden seine illegalen Waffen einziehen wollten.

Nicht gewalttätig, dafür aber wohl eines der prominentesten Mitglieder der Reichsbürgerszene war demgegenüber Xavier Naidoo, einer der kommerziell erfolgreichsten Popsänger Deutschlands überhaupt. Schon 2011, als seine Karriere noch relativ erfolgreich verlief, fabulierte er in einem Interview im ARD-Morgenmagazin darüber, dass Deutschland immer noch ein besetztes Land sei. Deutschland habe keinen Friedensvertrag und sei dementsprechend auch kein echtes Land. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er für Irritationen gesorgt, weil er in dem Lied „Raus aus dem Reichstag“ aus dem Jahr 2009 antisemitische Klischees über die Bankiersfamilie Rothschild bediente. In einem anderen Stück desselben Albums deutete er an, dass die Terroranschläge auf das World Trade Center, die Londoner U-Bahn und die Vorortzüge von Madrid von der CIA verübt worden seien. Später rutschte er immer weiter in verschiedene Verschwörungstheorien, unter anderem der QAnon-Szene, ab. Nachdem seine musikalische Karriere zum Erliegen kam, sagte er sich im Frühjahr 2022 von der Reichsbürger- und Verschwörungsszene los. Aufgrund von früheren Äußerungen in den sozialen Medien ist allerdings noch ein Strafverfahren wegen Volksverhetzung gegen ihn anhängig.

Und dann gibt es noch die vergleichsweise unauffälligen Anhängerinnen und Anhänger der Szene, die den Großteil der Bewegung ausmachen dürften, von denen die Öffentlichkeit aber nur selten Notiz nimmt. Ein Beispiel von Tausenden, das wir nur aus einem Gerichtsprozess kennen, ist etwa die Grundschullehrerin, deren richtigen Namen wir aus Gründen des Datenschutzes nicht kennen. Im Herbst 2022 wird sie aus dem Schuldienst entfernt, weil sie schwerwiegend gegen die beamtenrechtliche Pflicht zur Verfassungstreue verstoßen hat. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 39 Jahre alt, ledig und kinderlos. Ihr ursprünglich großes Engagement als Lehrerin hat nach den dienstlichen Beurteilungen in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Ihr Abrutschen in die Reichsbürgerszene wird den Kolleginnen und Kollegen im Lehrerzimmer im Sommer 2020 bewusst. Bei einer Diskussion im kleinen Kreis erklärt sie, dass Deutschland nach wie vor von den Alliierten bzw. den Amerikanern besetzt sei und keine Verfassung habe. Es gelte nach wie vor das Kriegsrecht, und das Grundgesetz habe keine Geltung. Wie Kollegen im weiteren Verlauf entdecken, weist auch ihr Whatsapp-Status zu diesem Zeitpunkt ausführliche reichsbürgertypische Inhalte auf. Dort werden Fragen gestellt wie:

Wusstest du, dass alle Gerichte, Staatsanwaltschaften, Städte, Gemeinden, Behörden und Ämter PRIVATE Organisationen sind?

Du wirst fassungslos sein und dich betrogen fühlen. Du wirst dich fragen: warum wusste ich davon nichts?

Wusstest du, dass die Verfassung des deutschen Kaiserreichs von 1871 noch immer gültig ist?

Wusstest du, dass die BRD kein Staat, sondern lediglich ein Verwaltungsorgan der Alliierten ist?

Als das Schulamt ein Disziplinarverfahren gegen sie einleitet, versucht die Frau noch, sich zu erklären, stellt alles als ein Missverständnis dar. Sie sei von den reichsbürgertypischen „Thesen“ gar nicht unbedingt überzeugt, sondern hinterfrage nur kritisch die Realität. Später verweigert sie jede weitere Stellungnahme, bestellt keinen Anwalt. Zum Gerichtstermin erscheint sie nicht. Das Urteil des Gerichts hingegen ist klar: Wer die Geltung des Grundgesetzes und die verfassungsmäßige Struktur der Bundesrepublik Deutschland infrage stellt und auch entsprechend nach außen handelt, kann in dieser Bundesrepublik nicht Beamter sein. Frau S. wird aus dem Dienst entfernt.

Neben diesen Einzelfiguren, die tatsächlich den Großteil der Szene ausmachen, gibt es auch einzelne organisierte Reichsbürgerstrukturen. In der öffentlichen Wahrnehmung nehmen sie häufig eine deutlich größere Rolle ein, als es ihrer zahlenmäßigen Bedeutung entspricht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich solche Gruppierungen oft deutlich einfacher beobachten und beschreiben lassen als die häufig isolierten, vor allen Dingen in sozialen Medien aktiven und über diese vernetzten „Einzelkämpfer“. Wenn allerdings die größte Veranstaltung im Bereich der Reichsbürgerszene im Jahr 2024 von lediglich etwa 500 Teilnehmern besucht wurde, zeigt das an, wie gering die organisierten Strukturen ausgeprägt sind.

Die bekannteste organisierte Form des Reichsbürgertums ist dabei sicherlich immer noch das „Königreich Deutschland“ in Sachsen-Anhalt. Der ehemalige Koch Peter Fitzek, der wegen kleinerer Delikte seit vielen Jahren immer wieder Konflikte mit der Justiz hatte, gründete vor mehr als zehn Jahren in Wittenberg so etwas wie eine esoterische Reichsbürger-Hippie-Kommune mit monarchischem Anstrich, die potenzielle Anhängerinnen und Anhänger vor allem damit zu locken versuchte, dass sie völlige Freiheit von Steuern und Abgaben versprach – gleichzeitig aber diverse Modelle entwickelte, um von diesen Personen Geld in die eigenen Kassen spülen zu lassen. Nach jahrelangen Ermittlungen sprach das Bundesinnenministerium im Frühjahr 2025 schließlich ein Vereinsverbot für das „Königreich Deutschland“ aus.

Extremismus von Männern in der zweiten Lebenshälfte

Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen und der wenig spezifischen Definition des Phänomens bleibt es schwierig, die Frage danach, wer die Reichsbürger eigentlich sind, zufriedenstellend zu beantworten. Eine gewisse Annäherung kann aber über bestimmte soziodemografische Merkmale erfolgen. Wollte man den typischen Reichsbürger beschreiben, so würde man einen Mann in der zweiten Lebenshälfte skizzieren. Knapp 70 Prozent der Szeneangehörigen sind Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zufolge männlich, wobei der Frauenanteil in den vergangenen Jahren leicht gestiegen ist – nicht zuletzt aufgrund von Familienverbünden, die gesammelt in das Reichsbürgermilieu abgedriftet sind. Mit einem Alter von 50 Jahren ist der durchschnittliche Reichsbürger deutlich älter als typische Anhänger anderer extremistischer Ideologien. Diese Besonderheit lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass Anhänger der Reichsbürgerideologie häufig überhaupt erst im Alter zwischen 40 und 50 Jahren mit dem Milieu in Berührung kommen. Die meisten Angehörigen der Szene weisen bis zu ihrer Radikalisierung so etwas wie „bürgerliche Normalbiografien“ auf. Lediglich eine erhöhte Affinität zu Waffen fällt auf, wobei die Behörden hier in den vergangenen Jahren intensiv tätig geworden sind. Bis Ende 2021 wurden nach Informationen des Bundesamtes für Verfassungsschutz mindestens 1050 Angehörigen der Szene die waffenrechtliche Erlaubnis entzogen. Dies bedeutet, dass ursprünglich rund 14 Prozent der Szeneangehörigen über eine solche Erlaubnis verfügt haben. Für das Jahr 2023 gehen die Behörden davon aus, dass noch etwa 400 Reichsbürger über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügen – genauso viele wie im Vorjahr, obwohl in dem Jahr 200 waffenrechtliche Erlaubnisse von Reichsbürgern entzogen oder zurückgegeben wurden. Damit wurde zwar die Quote der waffentragenden Reichsbürger auf 1,6 Prozent gesenkt. Es kann aber bisher offensichtlich noch nicht zuverlässig verhindert werden, dass Reichsbürgern auch neue waffenrechtliche Erlaubnisse ausgestellt werden.

Was genau jeweils als Auslöser für die Hinwendung zur Reichsbürgerszene dient, ist bisher noch wenig erforscht. Erste Einzelstudien legen nahe, dass es sich häufig um eine Reaktion auf Rückschläge, Frustrationen und andere problematische Erfahrungen im privaten oder beruflichen Bereich handelt: Die Flucht in die Welt der Reichsbürger ermöglicht es dann, den bisherigen, brüchig gewordenen Lebenskontext symbolisch zu verlassen und sich einer neuen Lebenswelt zuzuwenden, die von diesen Zumutungen befreit ist. Das „Reichsbürgersein“ erscheint in diesem Sinne als individuelle Problemlösungsstrategie, um den Enttäuschungen zu entkommen, die das Leben bereithält. Welche individuellen Probleme genau dabei jeweils bestehen und inwiefern die Reichsbürgerideologie einen Weg zu ihrer Lösung bereithält, dürfte allerdings im Einzelnen so vielgestaltig sein wie die Szene selbst. Das Spektrum ihrer Mitglieder reicht von gefestigten Rechtsextremisten über Personen, die lediglich Geschäftsinteressen verfolgen, Querulanten, Esoterikern, Verschwörungsideologen bis hin zu Trittbrettfahrern mit reiner Zahlungsverweigerungsabsicht und geistig verwirrten bzw. psychisch erkrankten Menschen.

Baukasten ideologischer Fragmente

Diese große Bandbreite der Motive, sich der Szene anzuschließen, spiegelt sich wider in dem diffusen, baukastenartigen System von Fragmenten, aus denen sich die Ideologie der Reichsbürger zusammensetzen lässt. Denn die eine Reichsbürgerideologie gibt es schlicht nicht. Es sind vielmehr immer wiederkehrende, sich aber auch durchaus wandelnde und ergänzende ideologische Versatzstücke, die in unterschiedlichen Varianten und Kombinationen von den Anhängerinnen und Anhängern der Szene genutzt werden. Je nach Bedarf werden diese Fragmente abgewandelt, neu zusammengestellt, angereichert oder auch wieder verworfen. Gemeinsam ist diesen Elementen, dass sie der bestehenden Rechtsordnung sowohl die Legitimität als auch die Geltung absprechen.

Die konkreten Erzählstränge, mithilfe derer diese Delegitimierung erfolgt, sind vielfältig, zum Teil widersprüchlich und innerhalb der Szene gewissen Moden ausgesetzt: Die Bundesrepublik ist eine GmbH, Deutschland ist noch besetzt, das Deutsche Reich besteht (in näher zu bestimmender Form) fort. In jüngerer Zeit sind auch Strömungen erkennbar, die nicht (primär) auf die Fortexistenz des Deutschen Reiches, sondern vielmehr auf die der DDR abstellen. Immer wieder tauchen neue Begründungselemente auf, andere geraten in den Hintergrund. Trotz dieser enormen Vielgestaltigkeit lassen sich drei wesentliche Elemente ausmachen, die in verschiedener Form immer wieder in den ideologischen Bruchstücken auftauchen: eine besondere Fixierung auf das (vermeintlich geltende) Recht, ein starker Bezug zur jüngeren deutschen Geschichte sowie eine hochgradige Besessenheit von der eigenen Subjektstellung.

Die Rechtsfixierung macht dabei so etwas wie den „Markenkern“ der Reichsbürgerideologie aus. Sie manifestiert sich vor allen Dingen in der reichsbürgertypischen Grunderzählung, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht oder jedenfalls nicht legitimerweise existiert und das Deutsche Reich (in erster Linie dasjenige von 1871) fortbesteht. Diese Narrative wurzeln tatsächlich in einem historischen juristischen Streit über die Frage, was mit dem Deutschen Reich nach der vollständigen Kapitulation 1945 und der alliierten Besatzung sowie der nachfolgenden deutschen Teilung passiert ist. Praktisch ohne jede Relevanz, wurde in den Jahren der alten Bundesrepublik doch ein relevanter rechtswissenschaftlicher Streit um diese Frage geführt, der 1973 auch das Bundesverfassungsgericht erreichte. Die Reichsbürger benutzen gerne aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente aus dieser Diskussion, um dadurch ihre eigene Position mit quasi-amtlicher Autorität des Bundesverfassungsgerichts zu versehen. Den Widerspruch, den sie dadurch erzeugen, dass sie sich auf das Verfassungsgericht eines Staates beziehen, den sie selbst nicht anerkennen, halten sie dabei gerne aus. Aber auch andere rechtliche Texte ganz unterschiedlicher Art werden von den Reichsbürgern genutzt, um ihre Delegitimationsgeschichten fortzuspinnen. Die Berufung auf das Recht ermöglicht den Reichsbürgern dabei eine bestimmte Form von Selbsterhöhung und Selbstwirksamkeit, weil sie die Autorität des Mediums Recht auf sich selbst übertragen können. Das oft im Alltag erlebte Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins wird auf diese Weise gezielt bekämpft.

Eng verbunden mit der Rechtsfixierung ist der besondere Geschichtsbezug der Reichsbürger. Ein Großteil der Erzählungen resultiert daher bis heute aus den Besonderheiten von Besatzung und Deutscher Teilung nach 1945. Insbesondere die historische alliierte Besatzung bildet nach wie vor einen erstklassigen Nährboden für verschiedenste Verschwörungserzählungen über die Alliierten als geheime Mächte, die bis heute die „wahre“ Herrschaft über Deutschland innehätten. Damit sind die Reichsbürger hervorragend anschlussfähig an andere, auch international verbreitete (und häufig antisemitisch konnotierte) Verschwörungserzählungen von einem „Deep State“, der unerkannt die „wahre“ Herrschaft ausübt. Darüber hinaus spielt als historische Referenz auch immer wieder die Monarchie eine Rolle. Dieser Bezug ist eng verbunden mit der Behauptung, die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs, die Reichsverfassung von 1871, gelte fort. Auch Heinrich Prinz Reuß nahm öffentlich immer wieder Bezug auf monarchische Traditionen und monarchische Legitimation, nicht zuletzt, um seine eigene Stellung durch den Verweis darauf zu erhöhen, dass er einem ehemals regierenden Herrscherhaus entstammt. Nicht historisch verankert, aber gleichwohl dem historischen Gedanken der Monarchie entlehnt, sind darüber hinaus Versuche einzelner Reichsbürger, die vermeintliche Leerstelle des fehlenden Monarchen durch die Ausrufung der eigenen Person als monarchischer Herrscher zu füllen. Das „Königreich Deutschland“ unter „König“ Peter Fitzek war sicherlich das prominenteste Beispiel dieser Art. Gleichwohl betreffen entsprechende positive Bezugnahmen auf die Monarchie nur einen kleinen Teil der Szene, vor allem im stärker organisierten Teil des Milieus.

Der dritte ideologische Pfeiler der Reichsbürgerszene ist schließlich eine eher esoterisch angehauchte Seite, die in besonderem Maße die Subjektstellung des Individuums in den Blick nimmt. Im Fokus dieses ideologischen Spektrums stehen Identität und Selbstbehauptung des Einzelnen im Angesicht eines als in jeder Hinsicht illegitim verstandenen Herrschaftssystems. Diese Selbstbehauptung wird häufig durch eine gedankliche Unterscheidung zwischen „Mensch“ und „Person“ zu erreichen versucht. Teilweise wird diese Differenzierung auch als Unterscheidung zwischen natürlicher und juristischer Person rekonstruiert oder durch diese ergänzt. Während das eigentliche Individuum sich nur als „Mensch“ oder „Bürger“ entfalten kann, soll die Bezeichnung als „Person“ oder als „juristische Person“ eine Beziehung der Unselbstständigkeit oder auch Versklavung durch die „BRD-GmbH“ anzeigen. Das natürliche Ich wird also vom unterdrückten, zum System gehörenden Ich abgespalten. Auch die sogenannten Lebenderklärungen wie diejenige, die Wolfgang Plan kurz vor seinem Mordanschlag auf einen Polizisten veröffentlichen ließ, sind typischer Teil dieser Ideologie. Neben der besonderen Rechtsfixierung, die auch hier durch begriffliche Spitzfindigkeiten und pseudojuristische Dokumente und Erklärungen ihren Ausdruck findet, spiegelt sich wiederum die Grunddisposition der Hinwendung zur Reichsbürgerideologie als individuelle Problemlösungsstrategie, als Mittel, um Selbstwirksamkeit zu spüren und sich gegen eine als feindlich erlebte Umwelt zu behaupten.

Der Vorhang zu und alle Fragen offen

Am Ende dieses Beitrags ist die Frage, wer die Reichsbürger sind, immer noch nicht beantwortet. Lediglich ein paar Annäherungen sind gelungen. Die Schwierigkeit, die Personen und die von ihnen verfolgte Ideologie stringent zu beschreiben, liegt dabei nicht nur in der extremen Heterogenität der Szene begründet, sondern auch in den Ideologiefragmenten selbst. Denn das verbindende Element zwischen den sehr unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen besteht vor allem in negativen Erzählungen darüber, dass der Staat nicht legitim oder schon gar nicht existent ist. Gemeinsame positive ideologische Botschaften darüber, wie eine bessere, legitimere oder auch gerechtere Ordnung aussehen sollte, finden sich hingegen kaum. Reichsbürgererzählungen geht es in erster Linie um die Delegitimierung der bestehenden Rechtsordnung, nicht aber um die Legitimierung einer anderen. Gerade im Vergleich zu anderen verfassungsfeindlichen Bewegungen und insbesondere dem „klassischen“ Rechtsextremismus fällt auf, dass Reichsbürger den Kern ihrer Ideologie in aller Regel eben nicht darauf ausrichten, die herrschende Ordnung zu bekämpfen, sondern vielmehr, diese zu negieren. Das Staats- und Verfassungssystem bildet für Reichsbürger in aller Regel nicht eine Ordnung, die aktiv bekämpft und beseitigt werden müsste. Vielmehr wird dieses als etwas formal Inexistentes behandelt, das schon deshalb nicht bekämpft werden kann, weil es überhaupt nicht real existiert. Diese fehlende positive Vision eines Gemeinwesens schafft eine relativ niedrige Schwelle für die Anschlussfähigkeit der szenetypischen Erzählungen. Eine anspruchsvolle Einigung auf gemeinsame Ziele und ideologische Begründungen ist nicht nötig, um sich von den staatsdelegitimierenden Erzählungen der Reichsbürger ansprechen zu lassen. Gleichzeitig zeigt sich die Reichsbürgerideologie extrem anschlussfähig für beliebige andere Verschwörungserzählungen, die frei mit deren Versatzstücken kombiniert werden können. Die Übergänge der verschiedenen Szenen werden dabei zunehmend fluide.

So viele Fragen damit am Ende auch offenbleiben: Die Gefährlichkeit der Szene für den demokratischen Verfassungsstaat ist offensichtlich. Dabei liegt die größte Gefahr gar nicht in den spektakulären Einzelfällen, in denen einzelne Reichsbürger Gewalttaten verüben oder sogar einen Umsturz planen – so tragisch und dramatisch diese Fälle auch sind. Die noch größere, gleichwohl aber versteckte Gefahr liegt in dem nagenden Zweifel an der Legitimation unserer Rechtsordnung und ihrer Institutionen, den die Szene beständig nährt. Denn diesen Zweifel wieder auszuräumen, ist sowohl für den Staat und seine Institutionen als auch für die Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft eine immense Herausforderung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Holzhaider, Das Gesetz bin ich, in: Süddeutsche Zeitung, 19.10.2017, S. 3.

  2. Zuvor hatten einzelne Behörden das Problem bereits erkannt, waren damit aber in der Minderheit. Insbesondere in Brandenburg gab es schon vergleichsweise früh Ansätze der Behörden, das Problem zu erfassen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Im Verfassungsschutzbericht werden die Reichsbürger dort erstmals im Jahr 2012 erwähnt, Ministerium des Innern Brandenburg, Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2012, S. 90ff.

  3. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2024, S. 120.

  4. In den Medien wird er meist als „Heinrich XIII. Prinz Reuß“ bezeichnet. Bei der römischen Ziffer hinter seinem Vornamen handelt es sich jedoch um eine familiäre Selbstbezeichnung, die an die alten Vorrechte des Adels erinnern soll, nicht um seinen bürgerlichen Namen.

  5. In der Presse wird immer wieder behauptet, er selbst habe diese Prozesse verloren, siehe etwa Christoph Koopmann, Der tut doch nichts, in: Süddeutsche Zeitung, 20.12.2022, S. 3; Reinhard Bingener et al., Aktion „Schatten“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.12.2022, S. 3. Anspruchstellerin und Klägerin war allerdings allein seine Mutter, vgl. insofern exemplarisch Verwaltungsgericht Gera, Urteil v. 26.1.2005, Aktenzeichen 2 K 1470/96 GE.

  6. Das Video der öffentlichen Rede ist abrufbar unter Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=QZA7xFL1N_o.

  7. Screenshots seiner Facebook-Seite sind in dem Youtube-Video enthalten, das die Gruppe „Sonnenstaatland“ über Wolfgang Plan erstellt hat: Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=96ehQwTA-1c. Bei der Gruppe handelt es sich um ein Satire- und Aufklärungsprojekt über die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter.

  8. Ein Bild dieser Erklärung findet sich unter Externer Link: https://wiki.sonnenstaatland.com/images/5/52/Wolfgang_Plan_Erklaerung.jpg.

  9. Näher zur Person Christoph Schönberger/Sophie Schönberger, Die Reichsbürger, München 2023, S. 51ff.

  10. Das Video ist abrufbar unter Externer Link: https://www.youtube.com/watch?v=SUzMWVP-K2s.

  11. So heißt es im Lied „Goldwaagen/Goldwagen“: „9/11, London und Madrid, jeder weiß, dass al-Qaida nur die CIA ist“.

  12. Näher zur Person Schönberger/Schönberger (Anm. 9), S. 47ff.

  13. Vgl. Xavier Naidoo wegen Volksverhetzung angeklagt, 13.6.2024, Externer Link: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/xavier-naidoo-volksverhetzung-anklage-staatsanwaltschaft-mannheim.

  14. Vgl. Verwaltungsgericht München, Urteil v. 25.10.2022, Aktenzeichen M 13L DK 22.348.

  15. Vgl. exemplarisch etwa Sebastian Leber, Wer sind die Reichsbürger?, in: Der Tagesspiegel, 8.1.2023, S. 12.

  16. Vgl. Bundesministerium des Innern (Anm. 3), S. 125.

  17. Vgl. Bundesanzeiger, Bekanntmachung eines Vereinsverbots gegen „Königreich Deutschland“ und seine Teilorganisationen, vom 3. April 2025, Bekanntmachung, 13.5.2025.

  18. Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ – Staatsfeinde, Geschäftemacher, Verschwörungstheoretiker, Juni 2023, S. 18.

  19. Vgl. Lars Legath, Reichsbürger und Selbstverwalter: Ein Fall für den Verfassungsschutz?, in: Christoph Schönberger/Sophie Schönberger (Hrsg.), Die Reichsbürger, Frankfurt/M. 2020, S. 23–36, hier S. 32; Gerrit Keil, Zur Abgrenzung des Milieus der „Reichsbürger“ – Pathologisierung des Politischen und Politisierung des Pathologischen, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 15/2021, S. 258f.

  20. Legath (Anm. 19), S. 32.

  21. Keil (Anm. 19), S. 259.

  22. Vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2021, S. 109.

  23. Vgl. Bundesministerium des Innern, Verfassungsschutzbericht 2023, S. 141. Im Verfassungsschutzbericht 2024 finden sich keine entsprechenden Daten mehr.

  24. Vgl. Schönberger/Schönberger (Anm. 9), S. 59.

  25. Vgl. Thomas Schmidt-Lux, Reichsbürgerschaft als symbolische Emigration, in: Schönberger/Schönberger (Anm. 19), S. 93–106, hier S. 93ff.

  26. Vgl. Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, Verfassungsschutzbericht 2024, S. 219.

  27. Siehe hierzu und im Folgenden Schönberger/Schönberger (Anm. 9), S. 61ff.

  28. Eine Kurzfassung findet sich etwa beim Amt für Verfassungsschutz des Freistaates Thüringen, Verfassungsschutzbericht Freistaat Thüringen 2023, S. 45ff.; ausführlich, auf dem Stand von 2017: Christa Caspar/Reinhard Neubauer, Durchs wilde Absurdistan: Was zu tun ist, wenn „Reichsbürger“ und öffentliche Verwaltung aufeinandertreffen, in: Dirk Wilking (Hrsg.), „Reichsbürger“. Ein Handbuch, Potsdam 20173, S. 93–171, hier S. 128ff.

  29. Vgl. Staatsministerium des Innern des Freistaates Sachsen, Sächsischer Verfassungsschutzbericht 2024, S. 130.

  30. Vgl. Christoph Schönberger, Geschichten vom Reich, Geschichten vom Recht: Der Fortbestand des Deutschen Reiches als rechtliche Imagination, in: Schönberger/Schönberger (Anm. 19), S. 37–70, hier S. 37ff.

  31. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 31.7.1973, Aktenzeichen 2 BvF 1/73, Amtliche Entscheidungssammlung, Bd. 36, S. 1ff.

  32. Siehe hierzu und zum Folgenden auch Sophie Schönberger, Das Imaginäre des Rechts: Wer ist hier eigentlich verrückt?, in: Schönberger/Schönberger (Anm. 19), S. 159–186, hier S. 170ff.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Sophie Schönberger für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professorin für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Verfassungstheorie, an der Freien Universität Berlin.