Es ist noch nicht einmal zehn Jahre her, da hat die Frage danach, wer die Reichsbürger sind, wahlweise ein irritiertes Achselzucken, ein Augenrollen oder ein glucksendes Lachen hervorgerufen. Reichsbürger, so dachte man damals, seien harmlose Spinner. Männer (eher selten auch Frauen), die Spaß daran hatten, eigene Flaggen und Wappen, eigene Ausweise und Führerscheine zu entwerfen. Mühsam für die Polizei, wenn es einmal zu Diskussionen um diese Scheinpapiere kam, aber ansonsten ungefährlich.
Diese Einschätzung änderte sich grundlegend, als im Herbst 2016 ein Mitglied der Reichsbürgerszene auf seinem Grundstück im fränkischen Georgensgmünd einen Polizisten erschoss.
Annäherungen an ein diffuses Phänomen
Vor diesem Hintergrund verwundert es ein wenig, dass die Frage nach den Reichsbürgern heute zwar nicht mehr dieselben wahlweise amüsierten, irritierten oder abwiegelnden Reaktionen wie vor zehn Jahren auslöst, die Antwort aber immer noch vergleichsweise vage bleiben muss. Denn die Forschung darüber, wer die Reichsbürger sind, steht tatsächlich immer noch ganz am Anfang. Die Schwierigkeit, das Phänomen zu fassen, liegt im Untersuchungsobjekt selbst begründet. Denn wenn es irgendein übergreifendes, bestimmendes Merkmal der Reichsbürgerszene gibt, über das sie sich beschreiben lässt, dann ist das zunächst einmal ihre extreme Heterogenität.
Die Verfassungsschutzbehörden definieren Reichsbürger in einem sehr allgemeinen Sinn als „Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Dazu berufen sie sich unter anderem auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster oder ein selbst definiertes Naturrecht. Sie sprechen den demokratisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten die Legitimation ab oder definieren sich gar in Gänze als außerhalb der Rechtsordnung stehend.“
Wie unterschiedlich die Menschen und Anschauungen sind, die sich hinter dieser sehr allgemeinen Definition verbergen, verrät ein kurzer Blick auf ein paar exemplarisch ausgewählte, bekannte oder auch unbekannte Fälle. Zu den prominentesten Angehörigen der Reichsbürgerszene gehört zweifellos Heinrich Prinz Reuß,
Von ganz anderen Dingen getrieben war demgegenüber Wolfgang Plan, der Reichsbürger, der im Oktober 2016 auf seinem Grundstück einen Polizisten erschoss. Er kommt aus schwierigen Familienverhältnissen. Obwohl er keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, fasste er beruflich Fuß – bis er mit Anfang 30 bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Zehn Jahre lang bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente, danach eröffnete er eine Schule für chinesische Kampfkunst, die ihn allerdings in den finanziellen Ruin trieb.
Zur Reichsbürgerideologie fand er im Internet, vor allem über die sozialen Medien. Seine dortigen Beiträge waren eine eigenwillige Mischung aus esoterisch angehauchten Beschwörungen des Weltfriedens, Reichsbürgerpropaganda und der Verherrlichung von Schusswaffen.
Nicht gewalttätig, dafür aber wohl eines der prominentesten Mitglieder der Reichsbürgerszene war demgegenüber Xavier Naidoo, einer der kommerziell erfolgreichsten Popsänger Deutschlands überhaupt. Schon 2011, als seine Karriere noch relativ erfolgreich verlief, fabulierte er in einem Interview im ARD-Morgenmagazin darüber, dass Deutschland immer noch ein besetztes Land sei. Deutschland habe keinen Friedensvertrag und sei dementsprechend auch kein echtes Land.
Und dann gibt es noch die vergleichsweise unauffälligen Anhängerinnen und Anhänger der Szene, die den Großteil der Bewegung ausmachen dürften, von denen die Öffentlichkeit aber nur selten Notiz nimmt. Ein Beispiel von Tausenden, das wir nur aus einem Gerichtsprozess kennen, ist etwa die Grundschullehrerin, deren richtigen Namen wir aus Gründen des Datenschutzes nicht kennen. Im Herbst 2022 wird sie aus dem Schuldienst entfernt, weil sie schwerwiegend gegen die beamtenrechtliche Pflicht zur Verfassungstreue verstoßen hat.
Wusstest du, dass alle Gerichte, Staatsanwaltschaften, Städte, Gemeinden, Behörden und Ämter PRIVATE Organisationen sind?
Du wirst fassungslos sein und dich betrogen fühlen. Du wirst dich fragen: warum wusste ich davon nichts?
Wusstest du, dass die Verfassung des deutschen Kaiserreichs von 1871 noch immer gültig ist?
Wusstest du, dass die BRD kein Staat, sondern lediglich ein Verwaltungsorgan der Alliierten ist?
Als das Schulamt ein Disziplinarverfahren gegen sie einleitet, versucht die Frau noch, sich zu erklären, stellt alles als ein Missverständnis dar. Sie sei von den reichsbürgertypischen „Thesen“ gar nicht unbedingt überzeugt, sondern hinterfrage nur kritisch die Realität. Später verweigert sie jede weitere Stellungnahme, bestellt keinen Anwalt. Zum Gerichtstermin erscheint sie nicht. Das Urteil des Gerichts hingegen ist klar: Wer die Geltung des Grundgesetzes und die verfassungsmäßige Struktur der Bundesrepublik Deutschland infrage stellt und auch entsprechend nach außen handelt, kann in dieser Bundesrepublik nicht Beamter sein. Frau S. wird aus dem Dienst entfernt.
Neben diesen Einzelfiguren, die tatsächlich den Großteil der Szene ausmachen, gibt es auch einzelne organisierte Reichsbürgerstrukturen. In der öffentlichen Wahrnehmung nehmen sie häufig eine deutlich größere Rolle ein, als es ihrer zahlenmäßigen Bedeutung entspricht.
Die bekannteste organisierte Form des Reichsbürgertums ist dabei sicherlich immer noch das „Königreich Deutschland“ in Sachsen-Anhalt. Der ehemalige Koch Peter Fitzek, der wegen kleinerer Delikte seit vielen Jahren immer wieder Konflikte mit der Justiz hatte, gründete vor mehr als zehn Jahren in Wittenberg so etwas wie eine esoterische Reichsbürger-Hippie-Kommune mit monarchischem Anstrich, die potenzielle Anhängerinnen und Anhänger vor allem damit zu locken versuchte, dass sie völlige Freiheit von Steuern und Abgaben versprach – gleichzeitig aber diverse Modelle entwickelte, um von diesen Personen Geld in die eigenen Kassen spülen zu lassen. Nach jahrelangen Ermittlungen sprach das Bundesinnenministerium im Frühjahr 2025 schließlich ein Vereinsverbot für das „Königreich Deutschland“ aus.
Extremismus von Männern in der zweiten Lebenshälfte
Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen und der wenig spezifischen Definition des Phänomens bleibt es schwierig, die Frage danach, wer die Reichsbürger eigentlich sind, zufriedenstellend zu beantworten. Eine gewisse Annäherung kann aber über bestimmte soziodemografische Merkmale erfolgen. Wollte man den typischen Reichsbürger beschreiben, so würde man einen Mann in der zweiten Lebenshälfte skizzieren. Knapp 70 Prozent der Szeneangehörigen sind Erkenntnissen des Verfassungsschutzes zufolge männlich,
Was genau jeweils als Auslöser für die Hinwendung zur Reichsbürgerszene dient, ist bisher noch wenig erforscht.
Baukasten ideologischer Fragmente
Diese große Bandbreite der Motive, sich der Szene anzuschließen, spiegelt sich wider in dem diffusen, baukastenartigen System von Fragmenten, aus denen sich die Ideologie der Reichsbürger zusammensetzen lässt. Denn die eine Reichsbürgerideologie gibt es schlicht nicht.
Die konkreten Erzählstränge, mithilfe derer diese Delegitimierung erfolgt, sind vielfältig, zum Teil widersprüchlich und innerhalb der Szene gewissen Moden ausgesetzt: Die Bundesrepublik ist eine GmbH, Deutschland ist noch besetzt, das Deutsche Reich besteht (in näher zu bestimmender Form) fort.
Die Rechtsfixierung macht dabei so etwas wie den „Markenkern“ der Reichsbürgerideologie aus. Sie manifestiert sich vor allen Dingen in der reichsbürgertypischen Grunderzählung, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht oder jedenfalls nicht legitimerweise existiert und das Deutsche Reich (in erster Linie dasjenige von 1871) fortbesteht. Diese Narrative wurzeln tatsächlich in einem historischen juristischen Streit über die Frage, was mit dem Deutschen Reich nach der vollständigen Kapitulation 1945 und der alliierten Besatzung sowie der nachfolgenden deutschen Teilung passiert ist.
Eng verbunden mit der Rechtsfixierung ist der besondere Geschichtsbezug der Reichsbürger. Ein Großteil der Erzählungen resultiert daher bis heute aus den Besonderheiten von Besatzung und Deutscher Teilung nach 1945. Insbesondere die historische alliierte Besatzung bildet nach wie vor einen erstklassigen Nährboden für verschiedenste Verschwörungserzählungen über die Alliierten als geheime Mächte, die bis heute die „wahre“ Herrschaft über Deutschland innehätten. Damit sind die Reichsbürger hervorragend anschlussfähig an andere, auch international verbreitete (und häufig antisemitisch konnotierte) Verschwörungserzählungen von einem „Deep State“, der unerkannt die „wahre“ Herrschaft ausübt. Darüber hinaus spielt als historische Referenz auch immer wieder die Monarchie eine Rolle. Dieser Bezug ist eng verbunden mit der Behauptung, die Verfassung des Deutschen Kaiserreichs, die Reichsverfassung von 1871, gelte fort. Auch Heinrich Prinz Reuß nahm öffentlich immer wieder Bezug auf monarchische Traditionen und monarchische Legitimation, nicht zuletzt, um seine eigene Stellung durch den Verweis darauf zu erhöhen, dass er einem ehemals regierenden Herrscherhaus entstammt. Nicht historisch verankert, aber gleichwohl dem historischen Gedanken der Monarchie entlehnt, sind darüber hinaus Versuche einzelner Reichsbürger, die vermeintliche Leerstelle des fehlenden Monarchen durch die Ausrufung der eigenen Person als monarchischer Herrscher zu füllen. Das „Königreich Deutschland“ unter „König“ Peter Fitzek war sicherlich das prominenteste Beispiel dieser Art. Gleichwohl betreffen entsprechende positive Bezugnahmen auf die Monarchie nur einen kleinen Teil der Szene, vor allem im stärker organisierten Teil des Milieus.
Der dritte ideologische Pfeiler der Reichsbürgerszene ist schließlich eine eher esoterisch angehauchte Seite, die in besonderem Maße die Subjektstellung des Individuums in den Blick nimmt. Im Fokus dieses ideologischen Spektrums stehen Identität und Selbstbehauptung des Einzelnen im Angesicht eines als in jeder Hinsicht illegitim verstandenen Herrschaftssystems.
Der Vorhang zu und alle Fragen offen
Am Ende dieses Beitrags ist die Frage, wer die Reichsbürger sind, immer noch nicht beantwortet. Lediglich ein paar Annäherungen sind gelungen. Die Schwierigkeit, die Personen und die von ihnen verfolgte Ideologie stringent zu beschreiben, liegt dabei nicht nur in der extremen Heterogenität der Szene begründet, sondern auch in den Ideologiefragmenten selbst. Denn das verbindende Element zwischen den sehr unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen besteht vor allem in negativen Erzählungen darüber, dass der Staat nicht legitim oder schon gar nicht existent ist. Gemeinsame positive ideologische Botschaften darüber, wie eine bessere, legitimere oder auch gerechtere Ordnung aussehen sollte, finden sich hingegen kaum. Reichsbürgererzählungen geht es in erster Linie um die Delegitimierung der bestehenden Rechtsordnung, nicht aber um die Legitimierung einer anderen. Gerade im Vergleich zu anderen verfassungsfeindlichen Bewegungen und insbesondere dem „klassischen“ Rechtsextremismus fällt auf, dass Reichsbürger den Kern ihrer Ideologie in aller Regel eben nicht darauf ausrichten, die herrschende Ordnung zu bekämpfen, sondern vielmehr, diese zu negieren. Das Staats- und Verfassungssystem bildet für Reichsbürger in aller Regel nicht eine Ordnung, die aktiv bekämpft und beseitigt werden müsste. Vielmehr wird dieses als etwas formal Inexistentes behandelt, das schon deshalb nicht bekämpft werden kann, weil es überhaupt nicht real existiert. Diese fehlende positive Vision eines Gemeinwesens schafft eine relativ niedrige Schwelle für die Anschlussfähigkeit der szenetypischen Erzählungen. Eine anspruchsvolle Einigung auf gemeinsame Ziele und ideologische Begründungen ist nicht nötig, um sich von den staatsdelegitimierenden Erzählungen der Reichsbürger ansprechen zu lassen. Gleichzeitig zeigt sich die Reichsbürgerideologie extrem anschlussfähig für beliebige andere Verschwörungserzählungen, die frei mit deren Versatzstücken kombiniert werden können. Die Übergänge der verschiedenen Szenen werden dabei zunehmend fluide.
So viele Fragen damit am Ende auch offenbleiben: Die Gefährlichkeit der Szene für den demokratischen Verfassungsstaat ist offensichtlich. Dabei liegt die größte Gefahr gar nicht in den spektakulären Einzelfällen, in denen einzelne Reichsbürger Gewalttaten verüben oder sogar einen Umsturz planen – so tragisch und dramatisch diese Fälle auch sind. Die noch größere, gleichwohl aber versteckte Gefahr liegt in dem nagenden Zweifel an der Legitimation unserer Rechtsordnung und ihrer Institutionen, den die Szene beständig nährt. Denn diesen Zweifel wieder auszuräumen, ist sowohl für den Staat und seine Institutionen als auch für die Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft eine immense Herausforderung.