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Die Prozesse gegen die Gruppe Reuß | Reichsbürger | bpb.de

Reichsbürger Editorial Wer sind die Reichsbürger? „Man kann einen Reichsbürger nicht überzeugen“. Von Fantasietiteln bis zur Kettensäge: Ein Gespräch mit Andreas Ferkau über Einschüchterung, Behördenalltag und die Grenzen von Bürgerfreundlichkeit Verschwörungsideologischer Souveränismus und Rechtsextremismus Die Prozesse gegen die Gruppe Reuß. Einblicke in das Denken der Angeklagten Ideologische Brücken. Über den Zusammenhang von Esoterik, Rechtsextremismus und dem Reichsbürgermilieu Exportierte Staatsverweigerung? Zum globalen Einfluss der US-amerikanischen Sovereign Citizens Vom Kontrollverlust zur Ideologie. Psychosoziale Dynamiken der Rekrutierung von Reichsbürgern

Die Prozesse gegen die Gruppe Reuß Einblicke in das Denken der Angeklagten

Benedikt Warmbrunn

/ 16 Minuten zu lesen

Ehemalige Soldaten, eine Ex-Abgeordnete, ein Adliger: Die Prozesse gegen die Gruppe Reuß zeichnen das Bild einer Bewegung, die sich von der Demokratie abwandte, Verschwörungstheorien anhing und den gewaltsamen Umsturz plante. Urteile stehen noch aus.

Auf den ersten Blick mag es eine Besuchergruppe gewesen sein, wie es täglich so viele gibt in den Gebäuden des Deutschen Bundestags, drei Männer und eine Frau. Die Frau führte sie durch die Gänge. Die Männer machten Fotos. Doch die vier, die am 1. August 2021 gemeinsam durch die Liegenschaften des Bundestags gingen, davon ist die Bundesanwaltschaft überzeugt, waren keine harmlosen Besucher. Sie sollen sich vorbereitet haben auf einen Umsturz des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland.

Die drei Männer sind ehemalige Soldaten. Die Frau ist die damalige AfD-Abgeordnete Birgit Malsack-Winkemann. Und die Fotos und Videos, die sie gemacht haben, zeigen nicht den Plenarsaal oder die Reichstagskuppel. Sie zeigen Türen, Ausgänge, Fluchtwege. Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt davon, dass die Gruppe den Bundestag stürmen wollte. Knapp eineinhalb Jahre nach dem Rundgang, Anfang Dezember 2022, hat sie die vier Besucher und viele weitere ihrer Mitstreiter festnehmen lassen, darunter der Frankfurter Immobilienunternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß, den die Bundesanwaltschaft als Rädelsführer sieht. Seit April 2024 laufen gegen 26 Angeklagte drei Prozesse vor den Oberlandesgerichten Frankfurt am Main, München und Stuttgart; die Bundesanwaltschaft wirft ihnen unter anderem die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und den geplanten Hochverrat vor. Noch ist ein Ende nicht absehbar.

Doch schon jetzt, nach gut eineinhalb Jahren, haben die Prozesse so viele Erkenntnisse zusammengetragen, dass ein Bild dieser Gruppe entsteht und man versteht, wieso sie bereit war, einen gewaltsamen Umsturz des politischen Systems der Bundesrepublik zu planen, selbst wenn dabei Menschen sterben sollten.

Wer sind die Angeklagten?

Die Minuten vor jedem Verhandlungstag an der Außenstelle des Frankfurter Oberlandesgerichts in Sossenheim gleichen einer kleinen Zeremonie. Die knapp zwei Dutzend Anwälte warten bereits. Dann werden die Angeklagten von den Justizbeamten hereingebracht. Sie tragen Aktenstapel und Zeitschriften, manche grüßen sich, mit einem Winken, einem Lächeln, einem Kopfnicken. Einer von ihnen, Rüdiger von Pescatore, ein ehemaliger Leutnant der Bundeswehr, legt beim Eintreten gerne die Hand zum soldatischen Gruß an die Stirn.

Über drei Anklagebänke hinweg verteilen sich die sechs Männer und die drei Frauen, in der Mitte der mittleren Reihe sitzt der Mann, der der Gruppe ein Gesicht und – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – einen Namen gegeben hat: Heinrich XIII. Prinz Reuß, meistens trägt er einen gut sitzenden Anzug, manchmal auch einen grasgrünen Trachtenjanker. Ein Adliger, die Linie des Hauses Reuß lässt sich zurückverfolgen bis ins zwölfte Jahrhundert, als sich mehrere seiner Urahnen Macht und Einfluss sicherten als Vögte. Erst mit der Novemberrevolution 1918, mit dem Ende des Deutschen Kaiserreichs, schwand auch der Einfluss dieser Familie. Wollte Prinz Reuß, wollten die Verschwörer, die sich um ihn versammelten, zurück in die politischen Verhältnisse einer längst vergangenen Zeit? Davon geht die Bundesanwaltschaft aus, ihren Erkenntnissen zufolge glaubten einige Verschwörer, darunter Prinz Reuß, dass nach wie vor die Verfassung von 1871 gelte.

Doch die Schutzmechanismen der Demokratie der Bundesrepublik haben funktioniert. Daher versammeln sich nun seit Mai 2024 hier in Frankfurt-Sossenheim an jedem Verhandlungstag Menschen rund um Prinz Reuß, die zunächst einmal wenig gemeinsam haben mit der Welt des Adels. Mehrere Militärs sind darunter. Zu ihnen gehört Rüdiger von Pescatore, der Mann mit dem militärischen Gruß, der Ende der Neunzigerjahre unehrenhaft aus der Bundeswehr entlassen wurde, nachdem er Waffen entwendet hatte. Von Pescatore war 2021 aus Südamerika, wo er zuvor jahrelang gelebt hatte, nach Deutschland zurückgekehrt, die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor: allein aus dem Grund, um sich dem Kampf gegen das politische System anzuschließen.

Zwei der ehemaligen Militärs waren im August 2021 bei dem Gang durch den Bundestag dabei: Maximilian Eder, ein ehemaliger Oberst, der unter anderem in Afghanistan gedient hatte und während der Corona-Pandemie durchs Land gereist war, um auf Demos Vorträge über die angeblich so gefährlichen und menschenverachtenden Maßnahmen der deutschen Corona-Politik zu halten. Und Peter Wörner, der in den vergangenen Jahren als Survival-Trainer gearbeitet hatte. Ihm wurde schon lange eine Nähe zur Reichsbürgerszene nachgesagt, bereits 2014 gab es erste Ermittlungen gegen ihn. Als die Beamten Ende 2021 sein Haus durchsuchten, fanden sie unter anderem ein Schild mit der Aufschrift „SIE VERLASSEN JETZT DIE BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND BETRETEN DEUTSCHES REICHSGEBIET“.

Außerdem in Frankfurt angeklagt: die frühere Richterin und AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann. Eine Kunsthistorikerin, die mit Prinz Reuß liiert war. Eine ehemalige Bundestagskandidatin für die rechtsextreme Partei „Die Basis“. Ein früherer Polizist, der nach einer Rede auf einer Corona-Demo aus dem Dienst entlassen worden war. Und ein Ingenieur, der seine Lebensversicherung verkauft hatte, um die Gruppe Reuß zu unterstützen.

In München und Stuttgart verantworten sich vor Gericht zudem zahlreiche weitere Militärs, manche von ihnen mit einer Nähe zum rechtsextremen Milieu. Doch zur Gruppe gehörte auch eine in ihrer niedersächsischen Heimat anerkannte Ärztin. Ein Jurist. Ein Gussschweißer, der über sich selbst sagte, dass er seherische Fähigkeiten habe. Eine Astrologin, die über den Gussschweißer ebenfalls sagte, dass dieser seherische Fähigkeiten habe. Manche der Angeklagten sind jahrelang einem festen Job nachgegangen, einige davon gut bezahlt. Andere haben sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten gerettet. Darunter auch ein Mann, der mehrmals wegen Betrugs vorbestraft war, ein begnadeter Redner, der in der Gruppe allen vormachen konnte, dass auch er mal beim Militär Karriere gemacht habe, obwohl die Ermittler später dafür überhaupt keine Beweise finden konnten, mal abgesehen von seinem Grundwehrdienst. Auch er wird in der Geschichte dieser Verschwörung noch wichtig werden.

Was hat sie zusammengeführt?

Begonnen hatte alles mit einem Gespräch zwischen der Astrologin und dem Gussschweißer, im Sommer 2021. Der Gussschweißer sorgte sich um seine Kinder, hatte Angst vor einer Impfpflicht. Also fragte er seine Bekannte, die Astrologin, wie er seine Familie schützen könne. Die einzige Lösung, sagte sie, sei ein Eingreifen des Militärs.

Der Gussschweißer kontaktierte daraufhin einige Militärs, darunter Maximilian Eder, den ehemaligen Oberst, der in jenen Monaten durch die Republik reiste – von einer Corona-Demonstration zur nächsten. Alle heute Angeklagten lehnten die Corona-Maßnahmen der deutschen Politik ab. Dies ist die Gemeinsamkeit, die am leichtesten zu greifen ist.

Doch darunter brodelte es in vielen von ihnen, teilweise seit Jahren. Die Verschwörer lehnten nicht nur die konkreten Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus ab, sie lehnten oft auch den gesamten Staat ab – und mit ihm die Demokratie. Sie glaubten den Politikern nicht, dass diese sie schützen wollten. Sie glaubten, dass es den Mächtigen darum gehe, den Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit zu nehmen.

Viele von ihnen verbrachten täglich mehrere Stunden auf Telegram, fanden dort Gleichgesinnte, mit denen sie chatteten. Die Ermittler werteten zahlreiche dieser Chats später aus, ihnen offenbarte sich dabei eine Parallelwelt, die manchmal nur noch schwer zu greifen ist.

Die Welt, wie sie die Mitglieder der Gruppe Reuß sahen (und wie sie möglicherweise manche auch heute noch sehen), ist böse, korrupt, blutrünstig. Politiker halten in dieser Fantasiewelt in Tunneln Kinder gefangen, sie missbrauchen und vergewaltigen sie, sie brauen aus ihrem Blut ein Verjüngungselixier. Die Macht hat der sogenannte Deep State. Und erlösen kann nur ein mysteriöser Geheimbund die Welt von diesem Bösen, angeführt von Donald Trump und Wladimir Putin.

Diese Anschauung stammt teilweise aus dem Reichsbürgermilieu. Demzufolge sei die Bundesrepublik Deutschland eine von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzte „Firma“. Der Glaube, dass noch die Verfassung von 1871 gelte, wie offenbar bei Reuß, ist weitverbreitet.

Die Mitglieder der Vereinigung vermengten diese Glaubenssätze dann mit Erzählungen aus dem Verschwörungsmythos QAnon. Dieser geht vom Deep State aus, einer korrupten Elite, der es nur um den eigenen Machterhalt geht, die Kinder in Tunneln gefangen hält.

In der Parallelwelt der Angeklagten gab es nur eine Hoffnung. Denn der angebliche Deep State hat einen mächtigen Feind: die „Allianz“. Bei dieser handelt es sich um einen Geheimbund, gegründet angeblich nach dem Attentat auf den US-Präsidenten John F. Kennedy. In dieser Allianz stehen an der Spitze die mächtigsten Männer der Welt: Donald Trump, Wladimir Putin, Xi Jinping. Und hinter ihnen versammeln sich Hunderttausende Soldaten, viele von ihnen aus Russland. Natürlich ist all das herbeifantasiert: der Deep State, die in den Tunneln gefangenen Kinder, die Allianz. Und doch glaubten offenbar einige Verschwörer ganz fest daran.

Die im September 2025 verstorbene Astrologin Ruth Hildegard Leiding, die bislang als einzige Angeklagte umfassend gestanden hat, sagte, sie habe täglich mehrere Stunden auf Telegram verbracht, habe irgendwann nur noch Nachrichten über den Deep State, die gefangenen Kinder, die rettende Allianz konsumiert. Und sie habe das alles irgendwann „für die alleinige Arbeit“ gehalten.

Die Allianz, davon sei sie überzeugt gewesen, werde den erhofften Systemwechsel „herbeiführen“. Vor Gericht hatte sie verstanden, dass es sich dabei um eine „irrige Annahme“ gehandelt habe.

Doch in den Monaten, in denen sich die Vereinigung gründete und formierte, glaubten sie und die anderen Mitglieder daran, sie bestärkten sich gegenseitig in ihren falschen Glaubenssätzen. Daher waren sie irgendwann bereit, so wirft ihnen die Bundesanwaltschaft vor, bis zum Äußersten zu gehen.

Was sollen sie geplant haben?

Wenige Tage, nachdem sich die Astrologin und der Gussschweißer über eine mögliche Rettung vor der Corona-Impfung unterhalten hatten, traf sich eine kleine Gruppe im fränkischen Buch am Wald. Es kamen die Astrologin, der Gussschweißer, die ehemaligen Militärs Eder und Wörner sowie ein dritter früherer Bundeswehrsoldat, Harald P. Auf dem Laptop von Eder schaltete sich ein Mann aus Südamerika dazu, der frühere Leutnant Rüdiger von Pescatore.

An diesem Tag, so sieht es die Bundesanwaltschaft, begannen die Verschwörer, den Umsturz zu planen. Pescatore soll sich bereit erklärt haben, für dieses hochverräterische Unternehmen nach Deutschland zurückzukehren. Und noch etwas passierte. Während des Treffens bekam die Astrologin einen Anruf. Die anderen sollen gesehen haben, wer die Anruferin war: die damalige AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann. Der Survival-Trainer Peter Wörner fotografierte ihren Kontakt ab. So erzählte es die Astrologin vor Gericht.

Wenige Tage später marschierten Wörner, Eder, Harald P. und Malsack-Winkemann durch den Bundestag und seine Gänge und Fluchtwege. Sie sollen, so steht es in der Anklage, dabei ausgekundschaftet haben, wie sie das Parlament am besten stürmen könnten. Malsack-Winkemann soll zudem mehrmals Sitzungspläne verschickt haben. Wie genau die Gruppe den Bundestag stürmen wollte, was sie sich davon erhoffte, all das ist unklar. Wahrscheinlich wäre sie ohnehin nicht erfolgreich gewesen, weder mit ihrem geplanten Sturm auf den Bundestag noch mit ihren Umsturzplänen. „Aber es hätte Opfer mit Schaden an Leib und Leben geben können und eine Erschütterung des friedlichen Zusammenlebens der Gesellschaft“, sagte ein Vertreter der Bundesanwaltschaft in Frankfurt. „Unsere Demokratie ist wehrhaft, und wir haben die Verpflichtung, dieses Versprechen gegenüber den Bürgern einzulösen.“

Die Ermittler gehen davon aus, dass die Gruppe nicht davor zurückgeschreckt wäre, gewaltsam vorzugehen. Dafür sprachen die sogenannten Heimatschutzkompanien, die sie im ganzen Land errichten wollte. Diese sollten in einer Art Polizeistaat all jene verhaften und im Zweifel töten, die sich der neuen Regierung in den Weg stellen würden. Einer der Verschwörer ging davon aus, dass „15 Millionen Herrschaften“ verhaftet und erschossen werden müssten.

Und dann waren da noch die Listen. Listen mit Namen von Menschen, die bestraft, verhaftet, getötet werden sollten, sobald die Verschwörer an der Macht wären. Pescatore mahnte, bloß nicht „die kleinen Schurken des Systems“ zu vergessen. Auf diesen Listen standen Ärzte, Anwälte, Landräte, Bürgermeister, Polizisten. Prominente wie Markus Lanz und Sandra Maischberger. Aber auch 742 Abgeordnete des Bundestags, inklusive ihrer Büroadressen. Um auf einer dieser Listen zu landen, konnte es reichen, sich für die Demokratie einzusetzen, für sie zu arbeiten.

Allein, dessen waren sich die Verschwörer offenbar bewusst, hätten sie keine Chance gehabt, den Umsturz herbeizuführen. Sie gingen daher davon aus, dass sich Zehntausende, Hunderttausende ihnen anschließen würden, sobald sie losgelegt hätten. Und sie warteten ja irgendwann auch auf das Eingreifen eines übermächtigen Verbündeten. Sie warteten auf die Allianz.

Wie war die Vereinigung organisiert?

Frühjahr 2022, Jagdschloss Waidmannsheil Bad Lobenstein in Thüringen. Das erste Treffen der Gruppe bei Prinz Reuß. Auf den Immobilienunternehmer war die Gruppe gekommen, da sie einen Adligen suchten. Nur ein Adliger, so ihre Annahme, könne mit den angeblich nach wie vor über Deutschland herrschenden Alliierten über einen Friedensvertrag verhandeln. Und Reuß war ein Adliger ganz nach dem Geschmack der ersten Mitglieder der Verschwörer.

Im Jahr 2021 befand sich Reuß schon seit Jahrzehnten in einem Kampf um die Ländereien seiner Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet worden war. Einen großen Teil seines Vermögens hatte er in Rechtsstreitigkeiten gesteckt. Manchmal hatte er gewonnen. Oft hatte er verloren. Und er war verbittert geworden. Fühlte sich verfolgt. Fühlte sich verraten vom Staat. Im Herbst 2020 erklärte er das Fürstentum Reuß für selbstständig. Nur wollte davon in der Bundesrepublik niemand etwas wissen.

Der Anti-Corona-Redner Eder soll über gemeinsame Bekannte aus der Reichsbürgerszene den Kontakt zu Reuß hergestellt haben. Im Herbst und Winter 2021 traf sich Reuß erstmals mit anderen Verschwörern. Und nun, im Frühjahr 2022, kamen sie erstmals alle zu ihm. Um in der thüringischen Abgeschiedenheit über das große Ganze zu reden.

Sechsmal trafen sich die Verschwörer auf Schloss Waidmannsheil. Bei diesen Treffen bildeten sie einen „Rat“. Dieser sollte nach einem erfolgreichen Umsturz eine Übergangsregierung bilden, solange bis sich die politischen Verhältnisse aus Sicht der Verschwörer stabilisiert hätten. Den Vorsitz des „Rats“ übernahm Reuß selbst. Rüdiger von Pescatore war zuständig für das Militär. Malsack-Winkemann sollte das Ressort „Justiz“ übernehmen. Die Hausärztin aus Niedersachsen „Gesundheit“, der mit ihr befreundete Jurist „Äußeres“.

Doch die Treffen dienten auch dazu, sich gegenseitig in der eigenen, parallelweltlichen Denkweise zu bestärken, auch durch kleine Impulsreferate. Die Ärztin aus Niedersachsen zum Beispiel trug vor, dass die Corona-Impfung den vorderen Hirnlappen beschädige – und dass es dadurch, so erzählte es die Astrologin Leiding später vor Gericht, „schwierig sei, eigenständig zu denken“. Und der mehrfach vorbestrafte Betrüger erzählte einmal, wie er angeblich an der Seite der Allianz in den Tunneln gekämpft habe. Kinder mit blutverschmierten Füßen, gefangen in Käfigen. Doch deren Bewacher seien chancenlos gewesen gegen die Allianz. Die kämpfe mit elektromagnetischen Impulswaffen, die nur die Waffen der Bewacher zerstörten, nicht aber die Kinder verletzten. Wem der Vortrag nicht reichte, dem zeigte der Mann noch Fotos und Videos von diesem Einsatz.

Dieser Vortrag, sagte später der Jurist den Ermittlern, habe „was mit mir gemacht“. Dass eine „real existierende Person“ von der Allianz berichten konnte, sagte der Jurist, das sei eine „Steigerung“ gewesen. Er war nun offenbar auch bereit, an die Existenz dieser Allianz zu glauben. Allerdings glaubte der Jurist offenbar auch an die Existenz von Echsenmenschen. Auf seinem Nachttisch fanden die Ermittler das Buch „Die geheime Weltherrschaft der Reptiloiden“.

Spätestens nach dem Vortrag des mehrfach vorbestraften Betrügers warteten viele in der Vereinigung auf ein Zeichen der Allianz. Mitte September 2022 kündigte der Mann an, dass nach der Beisetzung von Königin Elizabeth II. die „48 Stunden“ ausgerufen würden – ein Countdown zum Eingreifen der Allianz und damit zur Machtübernahme. Doch nichts passierte.

Zweieinhalb Monate später rückten stattdessen in der gesamten Bundesrepublik Beamte des Spezialeinsatzkommandos aus und nahmen die führenden Mitglieder der Vereinigung fest.

Wie gefährlich war die Gruppe um Prinz Reuß?

Männer und Frauen, die an eine Allianz glaubten, an in Tunneln gefangenen Kindern – könnten das nicht einfach nur Spinner gewesen sein? Nach der Festnahme von Prinz Reuß und anderen Verschwörern dauerte es dreieinhalb Monate, bis deutlich wurde, wie gefährlich diese Gruppe hätte werden können. Wie sehr zumindest einer bereit war, sich zu wehren gegen diesen Staat, den sie alle so sehr verachteten.

Markus L., ein Produktionsmechaniker aus Reutlingen, war eine Nebenfigur in der Vereinigung. Er gehörte zum sogenannten „militärischen Arm“, war über Monate hinweg bei Treffen dabei gewesen, und er hatte nie verheimlicht, dass er endlich losschlagen wolle. Im August 2021 hatte er in einer Telegram-Gruppe geschrieben, er sei „dabei und feuerbereit“.

Als die SEK-Beamten im Dezember 2022 die führenden Mitglieder der Gruppe verhafteten, rückten sie nicht bei Markus L. an. Zu klein erschien ihnen seine Rolle. Doch Markus L. muss geahnt haben, dass die Ermittler irgendwann auch mit ihm würden sprechen wollen. Er muss geahnt haben, dass dann auch bei ihm das SEK kommen würde, als Vertreter eines Staates, den er ablehnte. Deutschland, schrieb er im August 2022 auf Telegram, habe seit 1990 kein Staatsgebiet, es habe keine Soldaten, sondern nur „private Söldner“, und es habe auch keine Beamten, sondern nur „Bedienstete“. Ende Januar 2022 schrieb Markus L. in einem Chat: „Ich habe definitiv keine Lust besucht zu werden.“ Also bereitete er sich auf einen Besuch vor.

In sein Auto legte er zwischen Fahrersitz und Rückbank eine halbautomatische Pistole.

Unter sein Kopfkissen legte er eine mit 19 Patronen geladene halbautomatische Pistole der Marke Glock, inklusive Rotpunktvisierung und Zielscheinwerfer.

Neben die Schlafzimmertür lehnte er eine Langwaffe mit eingestecktem, geladenem Magazin.

Im Wohnzimmer legte er auf die Fensterbank eine geladene Schrotflinte.

Auf dem Sofa hatte er einen halbautomatischen Revolver griffbereit.

Und das sind nur die Waffen, die er nicht nutzen sollte.

Als dann die Beamten des Spezialeinsatzkommandos zu ihm kamen, am 23. März 2023, war Markus L. in seiner Wohnung verbarrikadiert, es wirkte, als habe er sich vorbereitet auf einen Häuserkampf. Um 6.04 Uhr sprengten die SEK-Beamten seine Wohnungstür auf. Drei Minuten später öffneten sie sie. Das reichte Markus L., um sich in Stellung zu bringen. Er verschanzte sich im Wohnzimmer hinter einem Drehstuhl, über den er eine schusssichere Weste geworfen hatte. Selbst trug er auch eine schusssichere Weste. In der Hand hielt er eine Langwaffe.

Die Beamten riefen mehrmals: „Markus L., komm raus und zeig deine Hände.“ Markus L. antwortete ihnen: „Zurückgehen oder ich schieße!“

Einer der Beamten eröffnete das Feuer, es folgte ein wilder Schusswechsel. Sechzehnmal schossen die Beamten. Sie trafen Markus L. nicht. Zehnmal schoss Markus L. Einen Beamten traf er im Ellenbogengelenk, einen anderen in der Hand. Die Beamten zogen sich zurück.

Erst nach 37 Minuten ergab sich Markus L. Er rief seine Mutter an, dann ging er mit erhobenen Händen ins Treppenhaus.

Im Mai 2024 werden im Oberlandesgericht Stuttgart die Aufnahmen der SEK-Beamten abgespielt. Markus L. sitzt ganz rechts auf der Anklagebank, er hat sich zurückgelehnt, ein Bein hat er ausgestreckt, als habe er es sich so richtig gemütlich machen wollen. Neben ihm sitzt Steffen W., nach Erkenntnissen der Ermittler ein Rechtsradikaler, der in einem Chat die „politische Elite“ als „Verbrecher und Ganoven“ bezeichnet hatte. Als er die Aufnahmen sieht, muss er sich einmal beide Hände vor den Mund halten, so sehr muss er lachen. Am anderen Ende der Anklagebank tuscheln drei Männer, bis sie der Vorsitzende Richter ermahnt, dass sie aufhören sollten, sich „wie bei einem Kneipengespräch“ zu unterhalten.

Die meisten Mitglieder der Gruppe sind angeklagt wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, manche auch wegen deren Gründung, alle wegen des geplanten Hochverrats. Markus L. wirft die Bundesanwaltschaft zusätzlich unter anderem zweifachen versuchten Mord vor.

Wie verteidigen die Angeklagten sich vor Gericht?

Minutiös haben die Ermittler Informationen zusammengetragen. Sie haben in Chats mitgelesen. Sie haben Telefonate abgehört. Sie sollen verdeckte Ermittler eingeschleust haben, einer war im November 2022 mit dem Survival-Trainer Wörner wandern, sechs Stunden lang.

Um all dieses Material vor Gericht zu präsentieren, braucht es Zeit. Viel Zeit. Und so verlaufen die Prozesse bislang schleppend. BKA-Beamte erzählen, was sie gelesen oder gehört haben. Sie berichten, was Angeklagte während des Ermittlungsverfahrens erzählt haben. Manchmal berichtet auch ein Zeuge, was an den beiden anderen Gerichten zuletzt so thematisiert worden war.

Wer fast gar nicht redet, das sind die Angeklagten. Einige schweigen, darunter auch Rüdiger von Pescatore, der Chef des Militärs.

Manche reden nur über ihre Biografie, Prinz Reuß zum Beispiel über das Versprechen an seinen Vater, die Ländereien der Familie zurückzugewinnen. Oder darüber, wie er seine Tochter gepflegt habe. Zur Vereinigung und seiner Rolle darin: bislang kein Wort.

Andere bemühen sich darum, die Vereinigung oder zumindest ihre eigene Rolle darin klein zu reden. Wolfram S., angeklagt in Stuttgart, war der IT-Experte der Gruppe. Er habe, sagte er, nur eine Art virtuelles „Dorfcafé“ programmieren wollen. Mit Waffen fühle er sich unwohl, deswegen habe nichts von einem Umsturz gewusst. Der Richter lässt daraufhin ein Foto zeigen, darauf zu sehen: mehrere Verschwörer, einer davon Wolfram S., neben sich ein Mann mit Gewehr im Anschlag. Die Bundesanwaltschaft wirft S. eine nicht „hinreichende Distanzierung“ vor.

Umfassend gestanden hat lediglich eine Angeklagte: die Astrologin Ruth Hildegard Leiding. Ihre Verteidiger sind im Juli 2024 eine lange Liste durchgegangen. Darin bestätigte Leiding vieles von dem, was ihr in der Anklage vorgeworfen worden war. Leiding distanzierte sich auch, sprach von „Unsinn“ und „Unfug“, wenn sie darüber berichtete, was sie in ihrer Parallelwelt geglaubt hatte, von den gefangenen Kindern bis zur Allianz, deren Einschreiten sie selbst einmal vorhergesagt hatte, nach dem Studium der Planetenkonstellationen. Vor Gericht sagte sie: „Dass es die Allianz gar nicht gibt, kam uns damals leider nicht in den Sinn.“

Auf eine ähnliche Weise argumentieren auch mehrere Verteidiger. Gefährlich sei diese Gruppe doch nie gewesen, da es ja einen wichtigen Faktor – die Allianz – gar nicht gegeben habe. Ob die Richterinnen und Richter das ähnlich sehen werden, darf stark angezweifelt werden. Im Herbst 2023 hatte das Oberlandesgericht Stuttgart mehrere Männer zu Haftstrafen von teils mehreren Jahren verurteilt, weil sie eine Terrorzelle gebildet haben sollen, die im Kampf gegen Flüchtlinge einen Bürgerkrieg in Deutschland starten wollte: die Gruppe S., benannt nach ihrem Rädelsführer. Auch in diesem Verfahren hatte einer der Verteidiger die Angeklagten eine „Ansammlung Sprüche klopfender Wichtigtuer“ genannt.

Einen Hinweis darauf, wie ernst die Richterinnen und Richter das nehmen, was den Angeklagten der Gruppe Reuß vorgeworfen wird, hatte im Sommer 2024 der Senat am Oberlandesgericht Frankfurt gegeben. In einem Beschluss teilte er mit, dass er bislang davon ausgehe, dass die Vereinigung bis zum Frühjahr 2022 geplant habe, den Reichstag zu stürmen – damals ohne Hilfe der Allianz. Auf die hätten die Verschwörer erst später gesetzt. Spätestens in diesem Moment dürften einige Angeklagte ein kleines bisschen in der harten Realität des deutschen Rechtsstaates angekommen sein.

Die Urteile erwarten Prozessbeteiligte nicht vor 2027.

ist Gerichtsreporter bei der "Süddeutschen Zeitung".