Reichsbürger:innen werden häufig als spezifisch deutsches Phänomen beschrieben und wahrgenommen, da sie sich auf das Deutsche Reich beziehen. Dies ist zunächst nachvollziehbar, da der Begriff des Reiches „neben dem des Volkes, der Nation und der Rasse“ als zentraler Begriff der extremen Rechten in Deutschland gilt.
Die Versuche Roeders in den 1970er Jahren, an das besiegte „Dritte Reich“ anzuknüpfen, sowie die ersten pseudojuristischen Legitimitätskonflikte mit der Bundesrepublik durch den Reichsbahnmitarbeiter und selbsternannten Reichskanzler Wolfgang Ebel in den 1980er Jahren deuten auf einen deutschen Sonderweg hin. Seit der Jahrtausendwende und dem Aufkommen des Internets als globalem Austauschmedium lässt sich jedoch eine Angleichung der Taktiken und Argumente mit jenen der US-amerikanischen Souveränist:innen, den sogenannten Sovereign Citizens, feststellen.
Kann man beim heutigen „verschwörungsideologischen Souveränismus“
Genese der Sovereign Citizens
Aufgrund der Heterogenität und Unschärfe des Milieus ist ein exaktes Gründungsdatum der Sovereign Citizens nicht zu bestimmen. Bei „Sovereign Citizens“ handelt es sich um einen seit den 1990er Jahren etablierten Sammelbegriff für Personen mit unterschiedlichen, oft nur lose verbundenen Überzeugungen. Was sie eint, ist die tiefgreifende Ablehnung staatlicher Autorität und Legitimität, gestützt durch ein verschwörungsideologisches Weltbild und pseudojuristische Deutungsmuster.
Während die heutige Ausprägung der Sovereign Citizens erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gestalt annahm, reichen die souveränistischen Wurzeln deutlich weiter zurück. Sie sind eng mit der mythologisierten Entstehungsgeschichte und der daraus entstandenen politischen Kultur der Vereinigten Staaten verknüpft.
Die unmittelbare Vorgeschichte der heutigen Sovereign Citizens reicht bis zur Entstehung der Posse-Comitatus-Bewegung im Jahr 1972 zurück.
Die Posse wurde rasch zum Anziehungspunkt für Gruppen und Einzelpersonen, die sich gegen staatliche Einflussnahme wandten – insbesondere im ländlichen Amerika. Vor allem in der Szene der radikalen Steuergegner:innen gab es viele, die mit juristisch klingenden Argumenten bestritten, dass die Einkommensteuer für sie gelte.
Die landwirtschaftliche Krise der 1980er Jahre traf viele ländliche Regionen hart und verstärkte das Gefühl, vom Staat im Stich gelassen worden zu sein. Souveränistische und antisemitische Verschwörungserzählungen boten einfache Erklärungen für wirtschaftliche Not und sozialen Abstieg.
Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verlor die Posse Comitatus an Bedeutung, ihre zentralen Ideen lebten jedoch in anderen staats- und regierungsfeindlichen Bewegungen weiter.
Der Bombenanschlag auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City am 19. April 1995 war der bis heute schwerste Akt regierungsfeindlicher, rechtsextremer Gewalt in der Geschichte der USA. Der ehemalige Soldat Timothy McVeigh, der selbst tief im Milieu der Milizen und Staatsverweiger:innen verwurzelt war, verübte den Anschlag gemeinsam mit Terry Nichols, einem früheren Posse-Mitglied. In Briefen bezeichnete sich Nichols als „natürlich geborener Mensch, der in dem Gebiet geboren wurde, das man Michigan nennt, nicht im Unternehmensstaat Michigan“.
Mit dem Aufkommen des Internets in Privathaushalten fanden Elemente des US-amerikanischen Souveränismus internationale Verbreitung. Seit den 2000er Jahren kursieren in Onlineforen, auf Videoplattformen und in digitalen Handreichungen Argumentationsmuster und Techniken, die über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus aufgegriffen und weiterverwendet wurden.
Pseudorecht und Strohmänner
Mittlerweile wurden in mindestens 31 Ländern Aktivitäten mit eindeutig souveränistischen Bezügen dokumentiert.
Der Begriff „Pseudorecht“ ist eine wissenschaftliche Fremdzuschreibung. Personen, die mit solchen Argumentationsmustern operieren, betrachten diese in der Regel als „echtes“ oder „wahres“ Recht. Gemeint ist damit ein Set vermeintlich juristischer Argumentationsweisen, Textbausteine und Verfahren, das nach dem Prinzip eines Baukastensystems funktioniert und dadurch weltweit anschlussfähig ist. Gerade diese Modularität verleiht dem Pseudorecht seine besondere Anpassungsfähigkeit: Bei der Übertragung auf andere Länder werden die Inhalte jeweils an die historischen und politischen Gegebenheiten vor Ort angepasst.
Das Pseudorecht der Sovereign Citizens beruht auf der Annahme geheimer Drahtzieher:innen, die im Verborgenen agieren, ihre Macht zu eigenen Vorteilen einsetzen und der Allgemeinheit schaden. Diese Unterdrückung könne, so das Narrativ, nur durch die Anwendung weitgehend unbekannter pseudojuristischer Argumente und Taktiken durchbrochen werden. Damit ist Pseudorecht selbst eine Form von Verschwörungsideologie und zugleich ein Instrument, um staatliche Autorität grundsätzlich infrage zu stellen. Für Staatsverweiger:innen ist das Recht dabei so attraktiv, weil es ihnen scheinbar die Möglichkeit gibt, die Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen und die bestehende Ordnung zu unterlaufen. Die neu gewonnene vermeintliche Rechtsexpertise dient somit als Form der Selbstermächtigung.
Doch woran lässt sich der Einfluss der US-Souveränist:innen auf Staatsverweiger:innen in Deutschland und anderen Ländern konkret erkennen? Der idealisierte Bezug auf eine imaginierte Vergangenheit, in der angeblich alles besser und gerechter war, eint Sovereign Citizens und Reichsbürger:innen zweifellos. Er lässt sich jedoch nicht auf eine amerikanische Einflussnahme zurückführen. Auch pseudojuristische Argumentationen zur vermeintlichen Nichtlegitimität der Bundesrepublik gab es bereits bei Manfred Roeder und insbesondere bei Wolfgang Ebel. Der spezifische Bezug auf die deutsche Geschichte und den Sonderweg infolge der alliierten Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg ist allerdings seit den 2000er Jahren keine notwendige Bedingung mehr, um Teil des Milieus zu sein. Pseudorecht und andere ideologische und argumentative Versatzstücke aus dem amerikanischen Souveränismus wurden genau an dieser Stelle aufgegriffen und adaptiert. Das trug in Deutschland maßgeblich zur Ausdifferenzierung des Milieus bei. Während Reichsbürger:innen in einem reichsrevisionistischen Deutungsrahmen verharrten und ihre Identität weiterhin vorrangig an der Existenz eines fortbestehenden oder wiederherzustellenden Staates ausrichteten, griffen Selbstverwalter:innen fortan deutlicher auf das Erbe der Sovereign Citizens zurück. Bei ihnen dominiert die Vorstellung individueller Souveränität gegenüber staatlichen Strukturen, verbunden mit der Idee eines minimalen Ordnungsrahmens, der innerhalb der Szene sehr unterschiedlich definiert wird und ihnen weitgehende Autonomie zusichert.
Während sich in Deutschland also nationale Traditionslinien mit importierten US-Konzepten verschränkten, wodurch neue Formen der Staatsverweigerung entstanden, trat der verschwörungsideologische Souveränismus in Großbritannien, Australien und Kanada überhaupt erst im neuen Jahrtausend sichtbar in Erscheinung.
Sovereign Citizens betrachten staatliche Genehmigungspflichten, wie etwa die Führerscheinpflicht oder die Pflicht zur Erlangung von Geschäftslizenzen, als Vertragsbeziehungen zwischen dem „US-Konzern“ und ihrem Strohmann. Ihrer Vorstellung nach lassen sich diese Verträge auflösen, wodurch sich jede staatliche Einflussnahme beenden ließe. Die Freiheit, Auto zu fahren, könne einem souveränen Menschen kein Staat absprechen. Ausgangspunkt dieser Vorstellung ist die verschwörungsideologische Annahme, dass die USA nach dem 14. Zusatzartikel im Jahr 1868 von einer verfassungsmäßigen Republik in ein kommerzielles Firmenkonstrukt umgewandelt wurden, das seine Bürger nach Handelsrecht kontrolliert.
Die deutsche Adaption des Strohmann-Arguments ist vor allem durch Wolfgang Plan, den Polizistenmörder von Georgensgmünd, bekannt geworden. Im Zuge seiner Radikalisierung hatte sich Plan vom deutschen Staat unabhängig erklärt und auf seiner Facebook-Seite eine sogenannte Lebenderklärung veröffentlicht, in der er sich handschriftlich als „Manne aus Fleisch und Blut“ deklarierte und dies von zwölf Gleichgesinnten per rotem Fingerabdruck bezeugen ließ.
Vom Papierterrorismus zur physischen Gewalt
Pseudorecht und die damit verbundenen sprachlichen Strategien finden ihren deutlichsten praktischen Ausdruck im sogenannten Papierterrorismus: dem systematischen Fluten von Behörden und Gerichten mit formal wirkenden, inhaltlich jedoch unverständlichen und rechtlich unbegründeten Schreiben. Drohungen gegenüber Amtsträger:innen sind dabei an der Tagesordnung. Das Vorgehen dient dazu, Verwaltungsprozesse lahmzulegen und den eigenen vermeintlichen Rechtsanspruch durchzusetzen. In den USA gehört diese Praxis seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil des souveränistischen Repertoires.
Es bleibt jedoch nicht immer bei gewaltlosen Mitteln: Das in diesem Milieu weitverbreitete Gefühl der Unterdrückung und Machtlosigkeit gegenüber einer vermeintlich tyrannischen Staatsgewalt wird als Rechtfertigung dafür verstanden, Gewalt als Notwehr einzusetzen. Während dieses Gewaltpotenzial in den USA spätestens seit dem Bombenanschlag von Oklahoma City sichtbar war und sich immer wieder entlud – etwa bei eskalierenden Fahrzeugkontrollen –, markierte der bereits thematisierte Polizistenmord in Georgensgmünd im Jahr 2016 für Deutschland einen Wendepunkt in der Wahrnehmung dieser Gefahr. Die Ende 2022 bekannt gewordenen Anschlagspläne der sogenannten Patriotischen Union (auch „Gruppe Reuß“) untermauern diese Einschätzung. In den Vereinigten Staaten führt das FBI die Sovereign Citizens seit Jahren als zentrale Bedrohung im Bereich des inländischen Terrorismus. Aufgrund der leichteren Verfügbarkeit von Waffen ist die Gefahr dort besonders hoch. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz ist aber auch in Deutschland die überdurchschnittliche Affinität für Waffen unter Reichsbürger:innen und Selbstverwalter:innen ein „unkalkulierbare[s] Risiko“.
Auch in den Ländern des Commonwealth beobachten die Sicherheitsbehörden die Szene mit wachsender Sorge und warnen vor einer Eskalation. In Australien haben Bedrohungsrhetorik und aggressive Auftritte in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Gewaltsame Proteste, Brandstiftungen, versuchte Entführungen und vereinzelte Angriffe auf Polizeibeamte wurden dokumentiert.
Insgesamt war während der Pandemie eine Radikalisierung der souveränistischen Milieus zu beobachten.
Fazit
Der verschwörungsideologische Souveränismus in seiner heutigen Form wäre ohne den Impuls aus den USA kaum denkbar. Die modularen Argumentationsmuster und Praktiken der Sovereign Citizens – von Pseudorecht über Strohmann-Konstruktionen bis hin zum Papierterrorismus – haben eine transnationale Szene geprägt. Diese hat sich seit den 2000er Jahren durch digitale Vernetzung immer weiter ausdifferenziert. Von einer reinen „Staatsverweigerung made in America“ zu sprechen, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Während diese Diagnose für Länder wie Australien und Kanada weitgehend zutrifft, entstanden in Deutschland mit dem Rekurs auf das Deutsche Reich und dem Mythos einer unvollendeten Souveränität infolge alliierter Besatzung eigene staatsverweigernde Narrative, die zunächst keiner US-Vorlage bedurften. Bis heute ist das Reich im klassischen Reichsbürgertum ein zentraler Bezugsrahmen. Es bildet jedoch längst nicht mehr den alleinigen Referenzpunkt staatsverweigernder Ideologie. Dies wird besonders bei Selbstverwalter:innen sichtbar, die deutlicher im Erbe der Sovereign Citizens stehen und ihre Vorstellungen von individueller Souveränität in ein international geteiltes Repertoire aus pseudojuristischen Argumenten und verschwörungsideologischen Praktiken einbetten. Dieses Repertoire verbindet die verschiedenen Strömungen heute über Ländergrenzen hinweg und macht den Souveränismus zu einem global anschlussfähigen Phänomen.