Nachdem es im Jahr 2016 in zwei Fällen, in denen Personen aus der Reichsbürgerszene versucht hatten, sich mit Waffengewalt gegen staatliche Zwangsmaßnahmen zu wehren, zu schweren Zwischenfällen gekommen war, geriet diese Bewegung in Deutschland verstärkt in den Fokus der Sicherheitsbehörden. Seitdem wird das Thema fortlaufend analysiert, um mehr über die Anzahl, das Auftreten, die Gefahren und die Wirkungsweisen der Akteur:innen zu erfahren – und nicht zuletzt auch, um derartigen Radikalisierungsprozessen präventiv entgegentreten zu können.
Seit 2020 erhielten durch die weltweite Corona-Pandemie Verschwörungsmythen allgemein größere mediale Aufmerksamkeit. Anhänger:innen äußerten sich vermehrt öffentlich und schlossen sich im Internet sowie auf Demonstrationen stärker zusammen. So kam es im August 2020 im Rahmen einer Demonstration, bei der rund 38000 Personen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen protestierten, zu einem Vorfall, bei dem mehrere Hundert Menschen versuchten, in den Reichstag einzudringen. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch Reichsbürger:innen und Rechtsextremist:innen, die unter anderem die Flagge des Kaiserreichs zeigten.
Die Bewegung der Reichsbürger:innen ist heterogen. Ihnen allen ist jedoch gemeinsam, dass sie die Bundesrepublik Deutschland als rechtmäßigen Staat ablehnen. Sie bezeichnen sich teilweise als „freie Menschen“ und vertreten beispielsweise die Ansicht, dass die Bundesrepublik Deutschland als „BRD GmbH“ ein Unternehmen sei, dessen Geschäftsangebote man nicht annehmen müsse. Stattdessen könne man in Selbstverwaltung leben oder eigene Fantasie-Staaten gründen. Andere Personen aus der Szene glauben, dass das Deutsche Reich weiterhin existiert – in welchem Jahr genau, darüber besteht innerhalb der Szene Uneinigkeit.
Trotz dieser unterschiedlichen Vorstellungen herrscht Konsens darüber, dass die Bundesrepublik ein illegitimer Staat ohne Souveränität ist. Dadurch fühlen sich Anhänger:innen nicht an bestehende Gesetze gebunden. Der Politikwissenschaftler Jan Rathje schlägt deshalb den Begriff „verschwörungsideologischer Souveränismus“ vor.
Laut dem jährlichen Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz steigt die Zahl der Personen, die diesem Spektrum zugeordnet werden, kontinuierlich an. Für das Jahr 2024 werden insgesamt 26000 Personen im Hellfeld genannt.
Diese Vorfälle machen deutlich, dass Souveränist:innen durch die Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung eine Gefahr für die demokratische Grundordnung darstellen. Warum findet diese Ideologie offenbar immer mehr Anhänger:innen?
Nährboden
Der Mechanismus, der dazu führt, dass Menschen für Verschwörungsmythen empfänglich werden, ist vielschichtig. Es spielen psychologische Grundbedürfnisse, persönliche und gesellschaftliche Krisen sowie das Internet und soziale Netzwerke mit ihren Verbreitungsmöglichkeiten eine Rolle.
Psychologische Grundbedürfnisse
Menschliche Grundbedürfnisse sind wesentliche Faktoren für die Erhaltung von Gesundheit und psychischer Stabilität. Sie lassen sich in drei Kategorien unterteilen: existenzielle Bedürfnisse (Streben nach Kontrolle und Sicherheit), soziale Bedürfnisse (Streben nach positiver Selbstwahrnehmung) und epistemische Bedürfnisse (Streben nach Verstehen).
Persönliche und gesellschaftliche Krisen
Ein perfektes Leben gibt es nicht und jeder Mensch muss verschiedene Krisen bewältigen. Zudem leben wir in einer komplexen Welt, deren wirtschaftliche und politische Zusammenhänge oft schwer verständlich sind. Wenn Menschen versuchen, komplexe Konflikte oder Krisen zu erfassen, ist es oft schwierig, einen klaren Überblick über die Zusammenhänge und Ursachen zu gewinnen. In den Biografien von Souveränist:innen finden sich häufig Krisen wie berufliches Scheitern oder finanzielle Schieflagen, die nicht zufriedenstellend bewältigt wurden. Auch familiäre Brüche können eine Rolle spielen.
Krisenerleben kann somit durch den empfundenen Kontrollverlust und die damit einhergehende Suche nach Orientierung eine erhöhte Anfälligkeit für neue Weltbilder und extremistische Propaganda begünstigen.
Internet und soziale Netzwerke
Die anhaltenden gesellschaftlichen Krisen haben zunehmend zu einem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen geführt.
Katalysatoren der Psyche
Persönlichkeit ist zum Teil genetisch bedingt und entsteht maßgeblich aus dem Zusammenspiel von individueller Veranlagung und Umwelteinflüssen. Sie ist relativ stabil über die Zeit hinweg und prägt das Denken, Fühlen und Verhalten eines Menschen.
Im Zusammenhang mit Verschwörungsmythen, die bei Radikalisierungsprozessen eine handlungsleitende Funktion übernehmen können, spielen auch Persönlichkeitsstrukturen eine Rolle.
Im Folgenden werden Persönlichkeitsstrukturen und Abwehrmechanismen beschrieben, die bei gefestigten bzw. radikalisierten Souveränist:innen vermutlich häufiger zu finden sind. Dabei ist zu beachten, dass Menschen in der Regel nicht nur eine Persönlichkeitsstruktur aufweisen, sondern eine Kombination verschiedener Denk- und Verhaltensmuster. Einige dieser Muster können dabei stärker ausgeprägt sein.
Narzisstische Persönlichkeitsstruktur
Zur Regulierung ihres Selbstwertgefühls sind narzisstische Personen darauf angewiesen, sich in anderen Menschen zu spiegeln.
Verschwörungsmythen sprechen diese Persönlichkeitsstruktur besonders an, da die Zugehörigkeit zu einer „wissenden Spezialgruppe“ das Selbstwertgefühl steigert. Zudem erfahren führende Figuren in der Szene durch ihren Einfluss in sozialen Netzwerken und innerhalb der souveränistischen Gruppe eine kontinuierliche narzisstische Bestätigung.
Zwanghafte Persönlichkeitsstruktur
Zwanghafte Menschen sind strukturiert, regelorientiert und weniger emotional. Sie streben nach Kontrolle, was sich in detaillierten und teils pseudowissenschaftlichen Argumentationen zeigt – typisch für Schriftsätze von Souveränist:innen. Gängige Abwehrmechanismen sind dabei Rationalisierung bzw. Intellektualisierung, bei denen die intensive Auseinandersetzung mit Details – etwa in Schriftsätzen – der psychischen Entlastung dient, sowie Affektisolierung, bei der Emotionen von der kognitiven Verarbeitung abgespalten werden. Auch Reaktionsbildung spielt eine Rolle: Rationalität wird dabei in ihr Gegenteil verkehrt, etwa wenn Souveränist:innen Fakten mit irrationalen Gegenthesen begegnen.
Paranoide Persönlichkeitsstruktur
Bei der paranoiden Persönlichkeitsstruktur ist Vorsicht im Umgang mit anderen Menschen zentral. Da andere häufig als potenzielle Ausnutzer:innen oder schädigende Personen wahrgenommen werden, muss zunächst Vertrauen aufgebaut werden. Menschen mit diesem Persönlichkeitsstil neigen dazu, in den Handlungen anderer verborgene Absichten zu vermuten. Entsprechend gewinnen emotionale Distanz und das Streben nach Kontrolle durch Unabhängigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen an Bedeutung.
Das Misstrauen äußert sich typischerweise in einem zentralen Abwehrmechanismus: der Projektion. Dabei werden eigene Gefühle – in diesem Fall Feindseligkeit – auf andere übertragen. So wird beispielsweise angenommen, „die da oben“ wollten dem Volk schaden oder im Geheimen gegen es agieren.
Emotional-instabile Persönlichkeitsstruktur (Borderline)
Menschen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstruktur erleben häufig sehr intensive Emotionen. Typisch sind dabei Stimmungsschwankungen, die durch einen schnelleren Wechsel emotionaler Zustände verursacht werden. Eine zentrale Herausforderung besteht in der Wahrnehmung und Regulation dieser Emotionen.
Ein zentraler Abwehrmechanismus ist Spaltung, die der Spannungsregulation dient. Im Zusammenhang mit Verschwörungsdenken zeigt sich dies darin, dass komplexe Sachverhalte stark vereinfacht und in ein Schwarz-Weiß-Denken überführt werden, bei dem beispielsweise eine Einteilung in „Gut“ und „Böse“ erfolgt.
Diese Abwehrmechanismen der Persönlichkeitsstrukturen scheinen zunächst dazu geeignet zu sein, Krisenerleben zu bewältigen. Tatsächlich wirken sie jedoch schädlich in Form von Hinwendung zu extremistischer Propaganda und Verschwörungsmythen und fördern eine zunehmende Radikalisierung. Dies geschieht insbesondere dadurch, dass dem Gefühl von Kontrollverlust und Ohnmacht Handlungsmöglichkeiten im Internet gegenübergestellt werden.
Rechtsextreme und demokratiefeindliche Gruppierungen nutzen diese psychischen Mechanismen in Kombination mit der schnellen und weitreichenden Verbreitungsmöglichkeit über digitale Plattformen gezielt zur Rekrutierung neuer Anhänger:innen – und das zunehmend erfolgreich.
Psychosoziale Dynamiken
Die beschriebenen Persönlichkeitsstrukturen und Abwehrmechanismen verdeutlichen, wie individuelle Krisenerfahrungen verarbeitet und teilweise in dysfunktionale Bewältigungsstrategien überführt werden. Diese psychologischen Grundlagen schaffen einen Nährboden, auf dem Verschwörungsmythen und radikale Ideologien wirken können. Um den Prozess der Hinwendung zu extremistischen Weltbildern systematisch zu erfassen, schlagen Alex S. Wilner und Claire-Jehanne Dubouloz ein dreiphasiges Modell vor, das den Verlauf von der initialen Krisenerfahrung bis zur vollständigen Übernahme eines Verschwörungsmythos beschreibt.
Trigger Phase: In Zeiten der Krise sind Menschen empfänglicher für neue Ansichten und extremistische Propaganda. Die Hinwendung zu Verschwörungsmythen ist in diesem Kontext eine dysfunktionale Coping-Strategie, um mit der Krise umzugehen.
Changing Phase: Der Mensch erhält (vermeintliche) Antworten auf die Ursachen der Krise. Dies ermöglicht eine innere Neuordnung der Welt und vermittelt ein Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Gleichzeitig wird ein Gegner definiert – im Fall der Souveränist:innen ist das der Staat bzw. „die Eliten“.
Outcome Phase: Da Souveränist:innen ihre persönliche Krise nicht erfolgreich bewältigen konnten, kommt dem Mythos nun eine entlastende Funktion zu. Es wird nicht nur ein Schuldiger benannt, sondern es werden auch „Strategien“ angeboten, um sich zur Wehr zu setzen. Beispielsweise sollen behördliche Schreiben mit der Begründung beantwortet werden, sie seien nicht legitimiert – oder es wird behauptet, man lehne Vertragsangebote der „BRD GmbH“ ab, da sie keine juristische Person sei. Dies geschieht selbstverständlich aus der Perspektive der Verschwörungsideologie.
Die Identität eines Menschen bildet das Fundament für Selbstvertrauen und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Sie gibt dem Leben Orientierung. Die Hinwendung zum Souveränismus wirkt letztlich sozial identitätsstiftend.
Gruppendynamiken
Innerhalb der Szene zeigen sich weitere Akzentuierungen und soziale Dynamiken. Neben den bereits dargestellten Persönlichkeitsstilen lassen sich beispielsweise auch histrionische und schizoide Merkmale beobachten. Personen mit histrionischen Tendenzen suchen gezielt nach Aufmerksamkeit, dramatisieren Inhalte und wirken durch ihre Emotionalität gruppendynamisch mobilisierend, insbesondere bei öffentlichen Auftritten oder in den sozialen Medien. Sie fungieren häufig als lautstarke Multiplikator:innen, die ideologische Narrative emotional aufladen und in die Öffentlichkeit tragen.
Schizoide Persönlichkeitsakzentuierungen äußern sich hingegen eher durch emotionale Distanziertheit, Rückzugstendenzen und ein hohes Maß an Eigenwilligkeit. Dennoch tragen auch sie durch ihre intellektuell-abstrakten Denkansätze zur Entwicklung komplexer Verschwörungsnarrative bei, insbesondere im digitalen Raum. In Foren oder verschlüsselten Gruppen entwickeln sie mitunter pseudojuristische Argumentationsketten oder alternierende Realitätsmodelle, die innerhalb der Szene als „Beweise“ zirkulieren.
Die Kombination dieser unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmale kann zur Stabilisierung der Gruppe beitragen. Denn während emotionalisierte Akteur:innen Aufmerksamkeit und mediale Präsenz erzeugen, liefern intellektualisierte Mitglieder die argumentativen Fundamente für die ideologische Konstruktion. Diese Symbiose erhöht die Reichweite der Szene und verleiht ihr zugleich Legitimation und Komplexität. Natürlich bringt die Unterschiedlichkeit auch Spannungen mit sich. Dies zeigt sich darin, dass Gruppierungen zentrale Ideen und grundlegende ideologische Argumente unterschiedlich auslegen. Es gibt verschiedene Gruppen und Einzelpersonen, die ihnen auf eigene Weise folgen.
Soziale Funktion
Ein zentrales Element, das häufig übersehen wird, ist die soziale Funktionalität der Szene. Für viele Personen ist die souveränistische Gruppe nicht nur eine ideologische Heimat, sondern auch ein sozialer Ersatzraum mit klaren Rollenbildern, Aufgaben, Status und Zugehörigkeit. Dadurch wird sie zu einer Art Ersatzfamilie, in der psychische Belastungen kompensiert werden.
Gerade für Menschen mit instabilen Lebensverläufen oder multiplen Krisenerfahrungen entsteht so ein soziales Auffangbecken, das die emotionale Abhängigkeit von der Gruppe intensiviert. Loyalitätsforderungen, Abschottung gegenüber Außenstehenden und kollektive Feindbilder stabilisieren die Gruppe intern und erschweren entsprechend einen Ausstieg.
Darüber hinaus wirken rekrutierende Dynamiken oft rekursiv. Wer einmal für eine „Wahrheit“ gewonnen wurde, dient schnell selbst als Multiplikator:in. So entstehen sich selbst verstärkende Rekrutierungs- und Radikalisierungsschleifen, die durch positive Rückkopplung in den sozialen Medien (Likes, Shares, Kommentare) emotional verstärkt werden.
Der Rekrutierungsprozess ist somit nicht nur rational erklärbar, sondern auch tief emotional verwurzelt. Es geht um Zugehörigkeit statt Argumente, um Identität statt Analyse, um Sinn statt Fakten.
Fazit
Bei der Rekrutierung von Anhänger:innen der souveränistischen Bewegung sowie von Personen mit verschwörungsideologischem Denken allgemein wirken sehr stark psychosoziale Dynamiken. Radikalisierungsprozesse entstehen dabei nicht primär durch ideologische Überzeugungen, sondern häufig durch soziale und emotionale Faktoren.
Zentral ist dabei ein Missstand zu Beginn, der zu einem Kontrollverlust, einem Ungerechtigkeitsempfinden und der Suche nach Lösungen führt. Verschwörungsideologische Narrative bieten ein scheinbar logisches Ordnungssystem, das Sicherheit und Kontrolle wiederherstellt. Zudem verstärken soziale Netzwerke diese Wirkung durch vermeintlich exklusive Gemeinschaftserfahrungen, die ein starkes Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. So kann individuelles Krisenerleben in kollektive Zugehörigkeit überführt werden.
Diese Dynamiken verdeutlichen, dass Prävention nicht allein auf sicherheitsbehördlicher Ebene ansetzen darf. Stattdessen müssen sozialpädagogische, psychologische und bildungspolitische Maßnahmen deutlich stärker einbezogen werden. Eine wirksame Gegenstrategie sollte die Stärkung individueller Resilienz, die Förderung kritischer Medienkompetenz und die Förderung sozialer Einbindung berücksichtigen. Insbesondere sollte dabei versucht werden, dem individuellen Missstand bzw. der auslösenden Krise der Person zu begegnen. Damit kann die Attraktivität extremistischer Gruppen langfristig reduziert werden.
Für die Präventionspraxis bedeutet dies: Neben repressiven Maßnahmen sind niedrigschwellige Angebote erforderlich, die Menschen in Krisensituationen soziale Einbindung, Beratung und Perspektiven eröffnen. Diese Angebote müssen für die Dynamiken der Rekrutierung sensibilisiert sein, um frühzeitig intervenieren zu können. Prävention wirkt am besten, wenn sie die individuellen Lebenslagen ernst nimmt und Räume für Selbstwirksamkeit schafft.