Als der Oberste Gerichtshof der USA im Juni 2022 das bundesweite Recht auf Abtreibung kippte, das er selbst 1973 in seinem Grundsatzurteil „Roe v. Wade“ etabliert hatte, war dies nicht nur für die US-Gesellschaft folgenreich. Auch außerhalb der Vereinigten Staaten rückte die Frage des Schwangerschaftsabbruchs wieder stärker in den Fokus gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Hierzulande hatten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP schon Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die reproduktive Selbstbestimmung und Gesundheit insbesondere von Frauen weiter stärken zu wollen. Unter anderem setzte die Bundesregierung eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin ein, die auch eine Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts prüfen sollte.
Bei reproduktiven Rechten geht es jedoch um weit mehr als um Fragen des Abtreibungsrechts. Der Zugang zu reproduktiven Gesundheitsdienstleistungen, eine ausreichende Hebammenversorgung oder finanzielle und soziale Unterstützung während und nach der Schwangerschaft sind ebenso wichtig wie die Frage des Zugangs zu Verhütungsmitteln, das Recht auf reproduktive Gleichberechtigung in der Partnerschaft, das Verbot von Zwangssterilisationen, der Umgang mit Menschen mit Behinderung oder eine Gesundheitsversorgung ohne rassistische oder andere Formen der Diskriminierung.
Wie umfangreich – oder restriktiv – reproduktive Rechte ausgestaltet sind, erzählt viel über den Wert der Gleichheit in einer Gesellschaft und die Qualität ihres Zusammenlebens. Im Kern geht es um die Frage, wie es einer Gesellschaft, die sich selbst als frei und gleich versteht, gelingen kann, unterschiedliche Rechtsansprüche auf faire Weise auszutarieren. Während der US Supreme Court die Beantwortung dieser Frage im Falle des Schwangerschaftsabbruchs neuerdings den politischen Mehrheiten in den Bundesstaaten überlässt, gilt in Deutschland eine maßgeblich durch das Bundesverfassungsgericht vorgegebene Regelung. Den Konflikt dauerhaft zu befrieden, vermochten beide Wege bislang nicht.