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Zwischen Transformation und Posttransformation
Entwicklungen seit 1989/91 in Mittel-, Südost- und Osteuropa und Konsequenzen für die Forschung
Timm Beichelt
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Der Blick auf Systemumbrüche von 1989/91 ist von Ambivalenzen geprägt. Autonomiegewinne und Wohlfahrtssteigerungen stehen Prozessen der Entdemokratisierung und Re-Autokratisierung entgegen; es ergibt sich ein unübersichtliches Bild.
Wenn es um den Rückblick auf die Zeitenwende von 1989/91 und die darauf folgenden Entwicklungsprozesse geht, lassen sich die öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurse kaum voneinander trennen. Zu umfassend waren die Veränderungen, zu sehr betrafen sie die Gesamtbevölkerung Europas, als dass sich eine isolierte wissenschaftliche Theorie hätte bilden können. Die gesellschaftlichen und politischen Hoffnungen, die sich mit den weitgehend friedlichen Revolutionen und dem anschließenden Fall des Eisernen Vorhangs verbanden, durchdrangen auch die Lebenswelt professioneller Beobachter und machten eine wertneutrale Betrachtung fast unmöglich.
Die Vertreter der sogenannten Transformationstheorie, die sich in den 1990er Jahren rapide entwickelte, verfügten daher über einen gewissen Hang, politisch wünschenswerte Entwicklungen und wissenschaftliche Schlussfolgerungen ineinander übergehen zu lassen. Unverkennbar war das Modell der liberalen Demokratie dem politischen Kommunismus ebenso überlegen wie die soziale Marktwirtschaft der sozialistischen Planwirtschaft. Ein großer Teil der Forschung arbeitete daher mit der Annahme, Demokratie und Marktwirtschaft würden sich wegen dieser Überlegenheit nach einiger Zeit im postsozialistischen Raum durchsetzen. Allenfalls wurde damit gerechnet, dass es gewisse Hindernisse auf dem Weg zum manchmal sogenannten westlichen Modell geben würde.
30 Jahre später sind die Erkenntnisse über die tatsächlichen Transformationsverläufe nicht nur differenzierter, sondern es können auch mehrere zentrale Thesen der frühen Transformationsforschung als widerlegt gelten. Dazu gehört die ursprüngliche Annahme, der höhere individuelle Freiheitsgrad von Demokratien werde die Autokratie in Attraktivität und Legitimität ausstechen. Ob wir es mögen oder nicht: Wenigstens phasenweise gibt es Autokratien, die von den ihnen unterworfenen Bevölkerungen mehrheitlich als legitim angesehen werden.
Die unübersichtlichen Verläufe der Transformation und die sich wandelnden Sichtweisen auf sie lassen pauschale Urteile kaum zu. Es kommt auf eine Reihe von Umständen, Faktoren und Kontexten an, ob sich nach dem Ende eines autokratischen Regimes demokratische Institutionen etablieren, sich möglicherweise verfestigen, oder ob der Weg in Richtung Re-Autokratisierung weist. Wie diese Prozesse beurteilt werden, lässt sich ebenfalls nicht mit einfachen Schwarz-Weiß-Mustern erfassen.
Pfade der postsozialistischen Transformation
Der Fall des Eisernen Vorhangs wird häufig auf seine Symbolbedeutung als wichtigster Wendepunkt vom Kommunismus hin zur Demokratie reduziert. Mindestens zwei weitere, damit verbundene Entwicklungen spielen ebenfalls eine wichtige Rolle: Erstens wurde das System der sozialistischen Planwirtschaft von der kapitalistischen Marktwirtschaft abgelöst. Zumindest in den ersten Jahren wurde die wirtschaftliche Transformation kaum sozial abgefedert und hatte daher tiefgreifende Konsequenzen für Gesellschaften in Mittel-, Südost- und Osteuropa, die auseinanderdrifteten. Zweitens wird heute oft übersehen, dass mit der Sowjetunion und Jugoslawien zwei Vielvölkerstaaten auseinanderbrachen. Bei den einstigen Trägernationen, Russland und Serbien, ruft der Zerfall bis heute Phantomschmerzen hervor. Vor allem aber bildete sich mehr als ein Dutzend neuer Staaten, die nur begrenzt über Eliten verfügten, die für das Funktionieren eines Staates benötigt werden – Diplomat*innen, Verfassungsrechtler*innen, ministeriale Eliten oder auch Wirtschaftsfachleute für die Privatisierung. Auch erfahrene politische Eliten gab es nur sehr punktuell. Die ersten Jahre nach 1989/91 verliefen daher überall auf wenig vorhersehbare Weise.
Das im Rückblick wohl wichtigste ordnungsbildende Element für die Entwicklung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in der Region war die Einbindung der Staaten des östlichen Europa in internationale Organisationen (Tabelle). Während der Kalte Krieg für einige Jahre als Angelegenheit der Vergangenheit angesehen werden konnte, gewinnen seit etwa zwei Jahrzehnten Interessenkonflikte zwischen zwei Hauptstädten, Brüssel und Moskau, immer mehr an Bedeutung. In Brüssel befinden sich bekanntlich nicht nur die wichtigsten Institutionen der Europäischen Union, sondern auch das Hauptquartier der NATO. Deren Expansion an die Grenzen der Russischen Föderation (bereits 1999 durch die Aufnahme Polens, später der baltischen Staaten) sowie die zeitweise recht konkreten NATO-Ambitionen von Staaten wie Georgien oder der Ukraine führten in Russland zu einer Gegenpolitik, die durch zahlreiche weitere ungelöste Konflikte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion befeuert wurde.
Sicherheitspolitisch lässt sich zwar nicht von "Einflusssphären" sprechen, da russischer Einfluss in vielen Nachbarstaaten explizit zurückgewiesen wird. Aber zwischen NATO- und EU-Mitgliedern auf der einen Seite und einigen (wenigen) Vasallenstaaten Russlands auf der anderen Seite hat sich eine Zone gebildet, in der von Brüssel beziehungsweise von Moskau vorgegebene Regelordnungen miteinander konkurrieren. Diese Zone besteht aus Staaten wie Armenien, Georgien, Moldova und der Ukraine, die zwar einerseits Mitglieder der (transatlantischen) Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind, andererseits aber über keine echte Beitrittsperspektive zu EU und NATO verfügen.
Auf die politische Dynamik der Regimeentwicklung in den Staaten des postsozialistischen Europa hatte die neue Konfrontation zwischen Russland und der NATO beträchtlichen Einfluss. Insbesondere die politischen Eliten einiger an Russland grenzender Staaten von Estland bis Polen sprachen in den 1990er Jahren – als es in Russland unter Präsident Boris Jelzin bisweilen tumultartig zuging – ganz offen von einem Zeitfenster, innerhalb dessen es gelte, dem Einflussbereich Russlands zu entkommen. Immerhin waren genau diese Staaten Opfer des sogenannten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 geworden. Die Sowjetunion hatte sich das Baltikum sowie Teile Polens einverleibt und daraus bei der Konferenz in Jalta 1945 den weiteren Herrschaftsanspruch abgeleitet. In der Folge suchten politische Eliten, die eigentlich auf nationale Selbstbestimmung geeicht waren, ausgerechnet im Beitritt zur EU ihr Heil. Die EU dagegen war in den Jahren zwischen dem Vertrag von Maastricht (1992) und dem Vertrag von Nizza (2000) damit befasst, den Prozess der Abgabe nationaler Souveränität zu organisieren. Einige Jahre später sollte der implizite Widerspruch zwischen nationaler Selbstbestimmung und dem politischen Selbstverständnis der EU-Eliten mit Wucht aufbrechen.
Aus der Vogelperspektive lassen sich vor diesem Hintergrund vier Konstellationen identifizieren, die nach 1989/91 eingetreten sind:
Dauerhafte Autokratie: Rund um die Russische Föderation haben sich in Zentralasien, teilweise im Südkaukasus (Aserbaidschan) und im osteuropäischen Kernland von Belarus und Russland autokratische Regimes etabliert. Sicherheits- und energiepolitisch besteht in den meisten Fällen eine Abhängigkeit von der russischen Politik und/oder russischen Staatsbetrieben. In einschlägigen Indizes zur Messung der Regimequalität zeichnen sich diese Staaten dadurch aus, dass sie weder im Bereich der politischen Freiheiten noch der bürgerlichen Rechte auch nur in die Nähe demokratischer Standards gelangen.
Konsolidierte Demokratie: Gewissermaßen das Gegenmodell besteht in einer Reihe von Staaten, die seit mittlerweile 17 Jahren Mitglieder der Europäischen Union sind und das Modell der liberalen Demokratie weitgehend inkorporiert haben. Demokratie ist hier "the only game in town", wie es der Politologe Juan Linz ausdrückt. Es lässt sich zurzeit nicht erkennen, dass maßgebliche Akteure die zentralen Institutionen der Demokratie infrage stellen. Über die Jahre ist diese einst größte Gruppe der Osterweiterungsstaaten allerdings deutlich geschrumpft. Im Sustainable Governance Index (SGI) der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2020 liegen lediglich die baltischen Staaten, Slowenien und Tschechien im Ranking "Robuster Demokratien" über dem Durchschnitt von insgesamt 41 Demokratien, die in den Index aufgenommen wurden.
De-Konsolidierung der Demokratie: Dieses Szenario besteht in der De-Konsolidierung von Regimes, die sich eine Zeitlang bereits auf dem Weg zur Demokratie befunden hatten. Es kann zwischen einer frühen und einer späten De-Konsolidierung unterschieden werden, und es muss auch nicht unbedingt von einer dauerhaften Rückkehr zur Nicht-Demokratie ausgegangen werden. Die Slowakei kann als erstes mitteleuropäisches Land gelten, in dem noch in den 1990er Jahren eine zunächst solide erscheinende Demokratie von führenden Eliten torpediert wurde. Der Fall kann als Blaupause für spätere Entwicklungen in Ungarn (ab 2010) und Polen (ab 2015) gelten, die allesamt über folgende Gemeinsamkeiten verfügen: eine national-populistische Rhetorik seitens der Regierenden, Bemühungen zur Verringerung der Medienvielfalt sowie orchestrierte Angriffe auf den Rechtsstaat inklusive des Verfassungsgerichts. Eine häufige Begleiterscheinung ist die Verflechtung wirtschaftlicher Eliten, nicht zuletzt im Finanz- und Mediensektor, mit den politischen Eliten.
Nicht-Konsolidierung der Demokratie: Nicht-verfestigte Demokratien finden sich im postsozialistischen Raum in zwei Varianten. Eine Gruppe von Staaten befindet sich zwar einerseits außerhalb des (von Moskau so definierten) nahen Auslands Russlands, hat aber dennoch zu keiner Zeit eine voll entwickelte liberale und vor allem rechtsstaatliche Demokratie entwickelt. Es geht beispielsweise um Albanien, Bulgarien, Nord-Mazedonien, Rumänien und Serbien. In der Langzeituntersuchung "Nations in Transit" der US-amerikanischen Organisation Freedomhouse werden sie als Transitionsregimes oder als semi-konsolidierte Demokratien beschrieben und eingeordnet. Über dieselbe Einstufung verfügen bei Freedomhouse auch Moldova, Georgien und die Ukraine. Sie unterscheiden sich allerdings von den eben genannten Ländern dadurch, dass Russland einer Mitgliedschaft dieser Länder in der EU und in der NATO feindselig gegenübersteht. Hier kommt also zu häufig auftretenden innerstaatlichen Problemen des Postsozialismus – Korruption/Oligarchie, polarisierte Eliten und nicht durchgängig demokratischen politischen Einstellungen – ein externer Störfaktor hinzu, da Russland eine Übernahme demokratischer Praktiken in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu verhindern sucht.
Wenn wir diese Liste betrachten, dann wird deutlich, dass sich die idealistischen Erwartungen der frühen 1990er Jahre nicht erfüllt haben. Nur in wenigen Transformationsstaaten hat sich eine stabile Demokratie entwickelt, und die Entwicklungen in Ungarn und Polen haben gezeigt, wie rasch demokratische Institutionen erodieren können, wenn die regierenden Eliten sie angreifen. Auch in Slowenien und Tschechien gibt es durchaus Anzeichen für den Bedeutungszuwachs nepotistischer und/oder populistischer Eliten. Der allgemeine Trend geht in Richtung eines "antidemocratic turn" – nicht nur in Mitteleuropa. Auch in Russland und Belarus haben Repression und Willkürherrschaft in den vergangenen Jahren nochmals deutlich zugenommen.
Für die Demokratie als Regimeform sind das keine guten Nachrichten. In der wirtschaftlichen Sphäre hat die Verschränkung zwischen ökonomischen und politischen Eliten, die eine Begleiterscheinung der Re-Autokratisierung ist, gravierende Folgen: In den autokratischen und re-autokratisierten Staaten verläuft die Wirtschaftsentwicklung insgesamt flacher und auf niedrigerem Niveau als in den konsolidierten Demokratien. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass bei einer Bevorteilung regimenaher Eliten bei öffentlichen Aufträgen und Investitionsentscheidungen andere Kriterien als die wirtschaftliche Effizienz im Vordergrund stehen.
In Abbildung 1 lässt sich gut erkennen, wie deutlich sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen den neuen EU-Mitgliedstaaten auf der einen sowie Russland auf der anderen Seite auseinanderentwickelt hat. Besonders illustrativ ist der Vergleich zwischen Estland und Russland. Während beide Staaten 1993 etwa auf einem Niveau lagen, ist das estnische BIP/Kopf heute um etwa 50 Prozent höher als das russische. Aber auch Ungarn, das am Anfang der Transformation durch eine besonders rasche wirtschaftliche Erholung aufgefallen war, ist mittlerweile hinter den Durchschnitt der postsozialistischen Mitgliedsstaaten der EU zurückgefallen. Auch lässt sich zeigen, dass die EU-Mitgliedschaft in der postsozialistischen Welt erheblich dazu beigetragen hat, die gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, wenngleich sie nach der Finanzkrise ab 2008 wieder etwas zugenommen hat.
Transformationsforschung: Wie geht es weiter?
Mit den vier genannten Konstellationen lassen sich die politischen Verhältnisse im postsozialistischen Europa einerseits gut erfassen. Wissen wir jedoch andererseits genug über Entwicklungen im Postsozialismus, die sich in den einzelnen Ländern und möglicherweise jenseits des allgemeinen Trends vollziehen?
Die Osteuropawissenschaft in Deutschland ist im Prinzip nicht schlecht ausgestattet. Zwar beklagen Fachvertreter einen Rückgang an Stellen in den vergangenen 25 Jahren. Im Vergleich mit anderen Regionen – man denke etwa an die Skandinavien- oder Lateinamerikaforschung – erscheinen 140 Professuren mit Osteuropabezug jedoch vergleichsweise üppig. Hinzu kommt noch das 2017 gegründete Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien (ZOiS). Und dennoch lässt sich kaum leugnen, dass es in vielen Bereichen an Expertise fehlt. Zu einzelnen Ländern – etwa zu Albanien oder zu den Ländern des Baltikums – und sogar zu ganzen Teilregionen wie dem Südkaukasus gibt es nur eine sehr geringe Zahl einschlägig arbeitender Forscher*innen. Die auf Osteuropa gerichtete Kulturwissenschaft verfügt in der Regel über einen slawistischen Fokus, während die Geschichtswissenschaft sich überwiegend für Russland interessiert.
Von Bedeutung sind weiterhin einige Entwicklungen, die an den normativen Grundüberzeugungen der Transformationsforschung nagen. Diese bestanden – und bestehen in gewisser Weise bis heute – in einer allzu idealisierenden Bewertung der Demokratie und der Marktwirtschaft und insgesamt in einem zu linearen Verständnis gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Bereits in der frühen Phase der Transformation hatten einige postmarxistische Forscher*innen ein deutliches Unbehagen angesichts der rapiden Ausbreitung des Kapitalismus in Mittel- und Osteuropa geäußert. Die Kombination von meist unerfahrenen Eliten und in der Regel schwachen gesellschaftlichen Organisationen führte zu einem "großen Experiment" mit ungewissem Ausgang. Eigentlich war bereits in den 1990er Jahren klar, dass die neuen politischen und ökonomischen Freiheiten nicht nur produktive Effekte hatten. Die Zweifel, die sich im Laufe der Zeit ansammelten, wurden vor etwa zehn Jahren unter dem Begriff der "Posttransformation" zusammengefasst. Bezeichnet werden damit Konstellationen, in denen die (politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche) Transformation zu sozialen Praktiken und institutionellen Ordnungen geführt hat, die mit etablierten Regimekategorien nicht leicht zu erfassen sind.
Zunächst stellt sich im Paradigma der Posttransformation die Frage, für welchen Zeitraum von einer "Transition" gesprochen werden sollte. 30 Jahre nach 1989/91 erscheint es nicht mehr angemessen, Staaten wie Armenien, Rumänien oder Serbien einfach als "Transformationsstaaten" zu bezeichnen. Etwas anderes steht im Raum: Deutliche Impulse für eine Vertiefung der Demokratie lassen sich nicht recht erkennen, während innerstaatliche Polarisierung und schwache Rechtsstaatlichkeit fortdauern. Wenn nicht alles täuscht, könnte die Nicht-Konsolidierung der Demokratie auf absehbare Zeit eine Art postsozialistischer Normalzustand bleiben.
Vor einiger Zeit wurde für diesen Zustand der Begriff des hybriden Regimes geprägt. Er bezeichnet eine Regimeform, in der jeweils für Demokratien und für Autokratien typische Elemente nebeneinanderstehen. Es finden beispielsweise kompetitive Wahlen statt, während zugleich das Justizwesen wenig mehr als ein Instrument der Regierung ist und dies mit demokratischer Gewaltenteilung wenig zu tun hat. Die Forschung zu hybriden Regimes hat zutage gebracht, dass gerade hier ein Missverhältnis zwischen formalen Verfassungsnormen und informellen Praktiken der Herrschaftsausübung besteht. Daher rückten ebendiese Praktiken in den Mittelpunkt der Forschung. Regimes, die formal-demokratische und informal-autokratische Elemente in sich vereinten, wurden als "neo-patrimonial" bezeichnet. Eine forschungslogische Konsequenz dieser Verschiebung ist die Notwendigkeit, kulturellen und historischen Kontexten in den betrachteten Herrschaftsräumen eine höhere Bedeutung einzuräumen – anders lassen sich hybride Formen des Regierens schlecht verstehen.
Ein weiterer Trend der Forschung zur Posttransformation besteht in einer differenzierteren Betrachtung der normativen Implikationen von zentralen Konzepten. Sicherlich: Demokratische Ordnungen sind autokratischen Ordnungen vorzuziehen, um individuelle und kollektive Freiheiten zu ermöglichen, politische Rechte zu gewähren, Menschenrechte und Selbstbestimmung zu achten und staatliche Gewalt zu kontrollieren. Es gibt keine empirischen oder normativen Gründe für die Annahme, dass Autokratien eher in der Lage wären, diese Werte bereitzustellen. Und dennoch: Die Transformationsprozesse des postsozialistischen Europa halten eine Reihe von Erfahrungen bereit, die auf das Funktionieren von jungen Demokratien Schatten werfen.
Dies beginnt mit der Einsicht, dass alle Prozesse der Modernisierung über eine Kehrseite verfügen. Die Individualisierung von Lebensentwürfen kann soziale Isolierung mit sich bringen, gesellschaftliche Ausdifferenzierung führt soziale Entfremdung mit sich, Beschleunigung und dauerhafter Wettbewerb bedeuten Überforderung und Erschöpfung. Auf theoretischer Ebene sind diese Einsichten nicht neu. Dennoch hat die Forschung lange gezögert, sie mit Entwicklungen im postsozialistischen Europa in Verbindung zu bringen. Erst in jüngeren Jahren wird stärker auf die Ambivalenzen geachtet, die die rapiden Umbrüche für die postsozialistischen Gesellschaften mit sich gebracht haben. Zum Beispiel hat die rasche Ausweitung des EU-Binnenmarktes nicht nur zu einem brain drain, sondern auch zur Abwanderung von gering qualifizierten Personen geführt.
Auch der Rückbezug auf nationale bis nationalistische Repräsentationsfiguren, wie er in sehr vielen postsozialistischen Staaten beobachtet werden kann, kann in diesen Kontext eingeordnet werden. Die vergangenen 30 Jahre waren in der Region nicht allein von einer übergroßen Dynamik vieler Lebensbereiche geprägt. Die Bevölkerungen und Eliten verfügten nur über eingeschränkte Möglichkeiten, die politischen Geschicke im Zuge der demokratischen Selbstbestimmung zu steuern.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Beitritte der mittel- und südosteuropäischen Staaten zu EU und NATO dem Wunsch der Eliten und wohl auch der Bevölkerungsmehrheiten entsprachen. In der Sphäre der äußeren Sicherheit wurden die neuen Staaten indes zügig dazu angehalten, gewachsene Verflechtungen mit Russland abzubauen. Und in der Europäischen Union galt seit dem Ende der 1990er Jahre das Gebot der begrenzten Neuverschuldung, das unter dem Schatten des Euro auf die Beitrittsverhandlungen abfärbte. Während an den übergeordneten Entscheidungen kaum ein Weg vorbeiführte, mussten die neuen NATO- und EU-Mitglieder in vielen Bereichen darauf verzichten, Politik eigenständig zu gestalten.
Vielleicht erklärt diese Konstellation auch einen bemerkenswerten Sachverhalt: Der Blick nach Polen und Ungarn zeigt, lässt man die Corona-Zeit einmal außen vor, einen positiven Zusammenhang zwischen national-populistischer Regierungsführung und der Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Demokratie (Abbildung 2). Zum Diskurs, der in Deutschland über die politischen Entwicklungen in Polen und Ungarn geführt wird, stehen diese Befunde in deutlichem Widerspruch. Aus ihnen sollte nicht abgeleitet werden, dass die Hälfte der polnischen oder ungarischen Bevölkerung die Bemühungen der Re-Autokratisierung unterstützt. Aber sie können als Indiz für die Unterstützung solcher Regierungen gewertet werden, die nationale Selbstbestimmung lautstark einfordern und damit einen Kontrast zu den Erweiterungsjahren bilden, in denen die Politik im postsozialistischen Europa vor allem darin bestand, sich auf allgemeine und konkrete Vorgaben aus Brüssel einlassen zu müssen.
Ausblick
Die genannten Phänomene sind als Beispiele zu verstehen für eine "neue Unübersichtlichkeit" bei der Bewertung von Demokratie und Marktwirtschaft in Europa. Diesen Begriff hatte Jürgen Habermas 1985 verwendet, um wachsende Zweifel an der Beständigkeit des Wohlfahrtsstaats nach der Ära der Vollbeschäftigung zu benennen. Habermas sprach im gleichen Atemzug von der "Erschöpfung utopischer Energien". Eine ähnliche Konstellation lässt sich 30 Jahre nach der Transformation 1989/91 diagnostizieren. Auch etablierte Demokratien haben nur begrenzt überzeugende Antworten auf große Herausforderungen der Gegenwart wie Migration, Klimawandel oder soziale Ungleichheit gefunden.
Zwar lässt sich kaum behaupten, dass ausgerechnet Autokratien mit diesen und weiteren Problemen besser zurechtkommen als Demokratien. Durch Repression und Zensur lassen sich dort allerdings die Debatten um die Problemlösung unterdrücken, und durch gezielte Kommunikation lassen sich Kontroversen in Demokratien als grundsätzliche Uneinigkeit darstellen. Entsprechende Strategien sind insbesondere für Russland hinlänglich dokumentiert worden.
Die Ambivalenz der Posttransformation besteht vor diesem Hintergrund aus zwei Aspekten: Zum einen haben sich um das Thema der Leistungsfähigkeit der Demokratie kontroverse Debatten entfaltet, in denen autokratieaffine Akteure ihre Positionen offensiv vertreten. Dadurch müssen die Werte und Vorteile von Demokratien und auch der Marktwirtschaft ausführlicher und umfangreicher begründet werden als in der Frühphase der Transformation. Auch wenn dies mitunter lästig erscheint, könnten die Langzeiteffekte positiv sein. Denn durch den öffentlichen Diskurs werden auch Skeptiker*innen der Demokratie in das politische Gemeinwesen integriert.
Zum anderen haben die Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass Vor- und Nachteile von Regime- und Marktformen sich nicht vollständig aus den Grundtypen – also etwa "der Demokratie" oder "der Marktwirtschaft" – ableiten lassen. Die Ergebnisoffenheit der Demokratie birgt die Möglichkeit, dass politische Entscheidungen mitunter wenig funktional ausfallen. Es muss auch eingeräumt werden, dass autokratische Regimes bestimmte Politikprobleme wenigstens in dem Sinne lösen können, dass sie innerstaatliche Unterstützung generieren. Nicht nur in empirischer, sondern auch in theoretischer und normativer Hinsicht verlangt die (Post-)Transformationsforschung differenzierte Analysen und Urteile.