Immer häufiger ist von Deutschlands Wachstumsschwäche die Rede. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zeigt für die Jahre 2023 und 2024 gar ein Abgleiten in die Rezession.
Doch warum ist diese Stagnation, oder gar Rezession, problematisch? Schließlich argumentieren Befürworter von Postwachstum und Degrowth, dass wir uns ohnehin von der Wachstumsfixierung verabschieden sollten. Die zentrale Frage lautet daher: Weshalb ist Wirtschaftswachstum für unsere Gesellschaft überhaupt notwendig?
Die Antwort ist ebenso einfach wie vielschichtig. Wie die nachfolgenden Ausführungen zeigen, ist Wachstum wichtig, um den Lebensstandard zu erhöhen und grundlegende Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. In hochentwickelten Volkswirtschaften wie Deutschland erfüllt Wachstum heute vor allem drei zusätzliche Funktionen: Es wirkt erstens als Stabilisator von Wirtschaft und Gesellschaft, bildet zweitens die Basis für die Finanzierung des Sozialstaats und notwendige Investitionen und ist drittens die zentrale Voraussetzung für Innovation und technischen Fortschritt.
Was ist Wirtschaftswachstum?
Wirtschaftswachstum bedeutet zunächst einmal, dass eine Volkswirtschaft im Zeitverlauf eine größere Menge und höhere Qualität an Gütern und Dienstleistungen hervorbringt als zuvor. In der klassischen Ökonomie wird Wachstum in der Regel als die Zuwachsrate des realen BIP gemessen, also dem inflationsbereinigten Marktwert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft erzeugt werden. Besonders gebräuchlich ist das „BIP pro Kopf“, das die Wirtschaftsleistung ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl setzt und damit als Indikator für den durchschnittlichen Lebensstandard dient. Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass dieser Indikator eng mit vielen Dimensionen des menschlichen Wohlergehens korreliert – etwa mit Einkommen, Gesundheit oder der Lebenserwartung.
Ein Blick in die Geschichte verdeutlicht diesen Zusammenhang und zeigt zugleich, welch junges Phänomen Wachstum ist. Über Jahrhunderte stagnierte die Wirtschaftsleistung nahezu, der Lebensstandard im 14. Jahrhundert unterschied sich kaum von demjenigen in der Römerzeit.
Wirtschaftswachstum war historisch also die zentrale Triebkraft für steigenden Wohlstand. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass dieser Aufstieg eng mit einem massiven Verbrauch natürlicher Ressourcen verbunden war. Genau deshalb ist seine Rolle heute so umstritten. Doch die Kritik am Wachstumsparadigma selbst ist ein Thema für wohlhabende Gesellschaften. Sie setzt erst dort ein, wo Grundbedürfnisse bereits gedeckt sind.
Wachstum als Stabilisator
Manche Stimmen argumentieren, hochentwickelte Volkswirtschaften könnten sich vom Wachstumsparadigma lösen. Doch die Realität zeigt, dass Wachstum in unserem Wirtschaftssystem ein zentraler Stabilitätsfaktor ist. Denn Wachstum sorgt dafür, dass Unternehmen investieren, neue Arbeitsplätze entstehen und Einkommen steigen. Fällt diese Dynamik weg, kehrt sich der Prozess rasch um, und Arbeitsmarkt, Staatshaushalt und die sozialen Sicherungssysteme geraten unter Druck. Der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger spricht deshalb von einem „Wachstumszwang“: Kapitalistische Volkswirtschaften benötigen Expansion, um ihre Strukturen aufrechtzuerhalten. Unternehmen investieren nur, wenn sie von zukünftiger Nachfrage ausgehen. Bleibt diese aus, bricht die Dynamik weg – mit Folgen für Beschäftigung und Wohlstand.
Darüber hinaus ist das Finanzsystem auf Wachstum angewiesen: Pensionskassen, Lebensversicherungen und private Anleger profitieren, wenn Unternehmen Gewinne machen, Aktienkurse steigen und Märkte wachsen. Ohne Wachstum würde diese Grundlage erodieren.
Wirtschaftswachstum trägt zudem entscheidend zur Finanzierung staatlicher Aufgaben bei. Steigende Einkommen und Unternehmensgewinne bedeuten höhere Steuer- und Beitragszahlungen, mit denen Renten, Gesundheitssystem, Bildung, Infrastruktur oder Verteidigung finanziert werden können. Fehlt Wachstum, verhärten sich Verteilungskonflikte. Investitionsausgaben werden häufig hintangestellt oder – wie mit dem jüngst beschlossenen kreditfinanzierten Sondervermögen für Investitionen – über Schulden finanziert. Damit steigt nicht nur die Belastung künftiger Generationen, sondern auch das Risiko politischer Polarisierung. Besonders sichtbar wird dies am umlagefinanzierten Rentensystem. Immer weniger Erwerbstätige müssen immer mehr Rentner tragen. Ohne steigende Produktivität und Einnahmen drohen die Finanzierungslücken noch größer zu werden.
Die 168. Steuerschätzung unterstreicht die Auswirkungen zäher Konjunktur auf den Staatshaushalt: Bund, Länder und Kommunen müssen 2025 mit rund drei Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen rechnen, 2026 gar mit zehn Milliarden weniger.
Wachstum als Innovationsmotor
Ein weiterer Grund, weshalb Wachstum in hochentwickelten Volkswirtschaften unverzichtbar bleibt, liegt in seiner Rolle als Innovationsmotor. Wie uns die Geschichte lehrt, sind Innovation und die Verbreitung von Wissen entscheidende Grundlagen für technischen Fortschritt und langfristigen Wohlstand.
Innovation beruht auf Entscheidungen von Unternehmern, ihre Zeit und Ressourcen in Forschung und Entwicklung zu investieren. Dies tun sie in der Regel, da sie durch sogenannte Innovationsrenten motiviert sind, also durch potenzielle Erträge, die ihnen aus neuen Technologien oder Produkten erwachsen.
Innovation konzentriert sich daher in jenen Märkten, die Wachstumsaussichten versprechen. Nur dort sind die Renditeerwartungen hoch genug, um riskante Investitionen in Forschung und Entwicklung zu rechtfertigen. Ein Beispiel sind Immuntherapien in der Krebsbehandlung: Zwar sind sie noch sehr teuer in der Anwendung, doch der Markt wird bereits auf rund 136 Milliarden US-Dollar geschätzt und soll sich bis 2034 fast verdreifachen.
Wenn dagegen einzelne Märkte oder gar die gesamte Wirtschaft stagnieren, sinkt die Nachfrage, und die Renditeaussichten werden kleiner. Unternehmen verzeichnen dann weniger Einnahmen, weshalb ihnen mittelfristig Spielräume für Forschung und Entwicklung fehlen und Investitionen in bahnbrechende Innovationen ungleich riskanter werden. Wer würde Milliarden in Technologien stecken, wenn die Nachfragebasis dafür fehlt? Nicht nur wird der Anreiz kleiner, Forschung zu betreiben; zugleich wachsen Spar- und Wettbewerbsdruck. Eine Studie von 2024 zeigt, dass deutsche Firmen ihre geplanten Forschungs- und Entwicklungsbudgets in Krisenzeiten drastisch kürzen und insbesondere „Frontier-Innovationen“– also besonders risikoreiche, aber potenziell bahnbrechende Projekte – verschieben oder ganz einstellen. Der Hauptgrund dafür sei der krisenbedingte zyklische Nachfragerückgang.
Doch Wirtschaftswachstum erleichtert nicht nur bestehenden Unternehmen das Leben. Insbesondere junge Firmen und Gründer mit gänzlich neuen Ideen sind auf Wachstum angewiesen – für Startups ist es wesentlich einfacher, in Aufschwungsphasen mit ihren Ideen und Produkten an den Markt zu gehen.
Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman argumentiert, dass die Fähigkeit eines Landes, seinen Lebensstandard anzuheben, vor allem von seiner Fähigkeit abhängt, die Produktivität (also die Wertschöpfung je Arbeitskraft) zu steigern. In Krugmans Worten: „Productivity isn’t anything, but in the long run it is almost everything“ („Produktivität ist nicht alles, aber auf lange Sicht ist sie fast alles“).
Gerade für hochentwickelte Volkswirtschaften, die bereits über einen ausgeprägten Arbeits- und Kapitalstock verfügen, ist Innovation wichtig. Während Schwellenländer durch „catch-up growth“ aufholen können, indem sie bestehende Technologien übernehmen, müssen fortgeschrittene Ökonomien ständig an der technologischen Grenze operieren.
Innovation ist deshalb nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar. Sie sorgt dafür, dass trotz begrenzter Rohstoffe und abnehmender Skalenerträge Produktivitätsfortschritte möglich bleiben. Für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland sind Produktivitätsgewinne zudem entscheidend, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Gerade disruptive Entwicklungen – etwa in Biotechnologie, Digitalisierung oder Energieversorgung – transformieren ganze Sektoren und stoßen nachhaltige Produktivitätsgewinne an. Sie bilden damit die Grundlage für die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben, allen voran der ökologischen Transformation, die ohne kontinuierliche Effizienzsteigerungen und neue Technologien nicht zu bewältigen ist.
Voraussetzung für ökologische Transformation
Der Umbau hin zu klimaneutralen Volkswirtschaften erfordert Investitionen in bislang unbekanntem Ausmaß. Allein um Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, so eine Studie von McKinsey aus dem Jahr 2021, seien pro Jahr rund 240 Milliarden Euro an Investitionen notwendig.
Beispiele aus der Praxis zeigen, dass „grünes Wachstum“ möglich ist. Märkte für Cleantech (saubere Technologien), die sich explizit dem Schutz der Umwelt verschrieben haben, zählen heute zu den Wachstumstreibern und tragen spürbar zum BIP bei. Längst lässt sich also auch mit Klimaschutz Geld verdienen.
Auch eine „absolute Entkopplung“, also ein Zustand, in dem das BIP wachsen kann, während die CO2-Emissionen sinken, zeichnet sich zunehmend ab.
Stagnation und Rezession dagegen bremsen den ökologischen Fortschritt. Die Umweltökonomen Alex Bowen und Cameron Hepburn zeigen, dass ökonomische Krisen Investitionen in saubere Technologien regelmäßig verzögern oder verhindern, weil Unternehmen und Staaten unter finanziellen Druck geraten. Degrowth mag auf den ersten Blick ökologisch plausibel wirken – in der Praxis würde es den notwendigen Umbau eher blockieren.
Wachstum ist damit kein Gegensatz zu Klimaschutz, sondern seine notwendige Bedingung. Es schafft die ökonomische Basis und setzt die Innovationsanreize, um die ökologische Transformation zu finanzieren und voranzutreiben. Ökonomen wie Daniel Susskind widersprechen deshalb der Annahme, unendliches Wachstum sei auf einem endlichen Planeten unmöglich. Entscheidend sei nicht die absolute Menge der eingesetzten Ressourcen, sondern deren Produktivität.
Fazit
Wachstum ist mehr als eine statistische Kennziffer. Es stabilisiert unsere Volkswirtschaft, finanziert den Sozialstaat und die notwendigen Investitionen – und setzt die Anreize für Innovation, ohne die Fortschritt nicht möglich wäre. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob wir weiter wachsen (sollten), sondern wie wir Wachstum und Innovation in die richtige Richtung lenken. Denn das Streben des Menschen, immer mehr zu wollen, besser zu werden, Neues zu schaffen, entspringt nicht staatlicher Verordnung, sondern dem Eigennutz – einer starken Triebkraft, die wir nicht unterdrücken, sondern in gemeinnützige Bahnen lenken sollten.