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Vom falschen zum richtigen Wachstum | Wachstum | bpb.de

Wachstum Editorial Wachstum und Wachstumskritik. Eine Diskursgeschichte Warum moderne Gesellschaften Wachstum brauchen - Essay Vom falschen zum richtigen Wachstum - Essay Wir müssen schrumpfen. Wachstum als Irrweg - Essay Wohlstand jenseits von Wachstum - Essay Wachstum und Ungleichheit

Vom falschen zum richtigen Wachstum Essay

Lukas Scholle

/ 11 Minuten zu lesen

Fossiles Wachstum, Green Growth und Degrowth bieten keine überzeugende Antwort auf die Frage, wie sich ökologische Grenzen mit Wohlstand und Sicherheit verbinden lassen. Es braucht kein blindes Wirtschaftswachstum, sondern qualitatives Wachstum der Wohlfahrt.

Deutschlands Wirtschaftsmodell steht vor dem Ende: Vom „kranken Mann Europas“ in den frühen 2000er Jahren hatte sich die Bundesrepublik in knapp zwei Jahrzehnten zum „Exportweltmeister“ entwickelt. Was meist als Erfolgsgeschichte bezeichnet wird, ist in Wahrheit das Gegenteil. Durch Austeritätspolitik und Lohnzurückhaltung im Euroraum übertraf Deutschland die Wachstumsraten der europäischen Nachbarn mit seinen viel zu hohen Exporten. Das ging zulasten der Nachbarländer, die im Umkehrschluss mehr oder weniger gezwungen waren, die Waren abzunehmen.

Für Deutschland ging dieses Modell halbwegs auf: So lag das reale Wachstum Deutschlands zwischen 2010 und 2017 im Durchschnitt bei 2,2 Prozent – deutlich über dem anderer westeuropäischer Länder. Doch schon in den Jahren darauf kühlte sich die Wirtschaftslage ab, bis es durch die Pandemie ab 2020 und die Energiepreiskrise strukturell zurückgeworfen wurde. Durch die mangelnde Binnennachfrage und zu zögerliche Entlastungspakete kam die Wirtschaft nicht wieder in Gang. Im Frühjahr 2025 versetzten das von US-Präsident Donald Trump ausgelöste Zollchaos sowie die Konkurrenz aus China dem deutschen Exportmodell einen weiteren heftigen Stoß.

Zwar konnte Deutschland Mitte 2025 seinen Exportüberschuss aus dem Vorkrisenniveau fast wiederherstellen. Aber dieser mündet nicht mehr in den Wachstumsraten der 2010er Jahre. Wahrscheinlicher ist es, dass die Exportindustrie weiter an Volumen verlieren wird, was das Wachstum weiter schwächen wird. Die Industrieproduktion ist im Herbst 2025 mit einem Wert von 94,7 auf dem Produktionsindex deutlich niedriger als beim Höhepunkt 2017 mit 110,9. Ähnlich sieht es in der energieintensiven Produktion aus, die im selben Zeitraum von 105,6 auf 81,0 gefallen ist.

Allein das zeichnet schon einen Richtungswechsel im deutschen Wachstumsmodell ab. Noch deutlicher zeigt sich das an Deutschlands ehemaliger Vorzeigeindustrie: der Autoindustrie. Nach Angaben des Branchenverbandes VDA wurden zum Höhepunkt 2011 in Deutschland noch 5,8 Millionen Pkw produziert, 2024 waren es nur noch knapp 4,1 Millionen – ein Rückgang um rund 30 Prozent. Die Exporte sanken ähnlich drastisch, vom Spitzenwert von 4,4 Millionen im Jahr 2015 auf unter 3,2 Millionen Fahrzeuge 2024. Die Anzahl der Beschäftigten reduzierte sich von 2018 bis 2024 um 61000.

Zu diesem grundlegenden Wachstumsproblem kommt die ökologische Komponente hinzu. Schon 2007 sprach die damalige Kanzlerin Angela Merkel implizit vom „Grünen Wachstum“: „Wir haben erlebt, dass es möglich ist, Wirtschaftswachstum und Wohlstand zu steigern, ohne gleichzeitig die CO2-Emissionen zu steigern.“ Auch hier spielt die Autoindustrie eine Kernrolle: Die meisten deutschen Fahrzeuge waren mit Verbrennungsmotoren ausgestattet, deren vermeintliche „Vergrünung“ im Dieselskandal als Täuschung aufflog.

Was in Deutschland lange als „Grünes Wachstum“ verteidigt wurde, war in Wahrheit fossiles Wachstum. Während die Produktion stieg, nahm der Emissionsausstoß zwischen 2011 und 2018 nur marginal ab. Heute zeigt sich: Dieses Modell ist an sein Ende gelangt. Einerseits, weil die gesamtwirtschaftliche Lage Deutschlands sich verschlechtert hat, andererseits, weil die Branche die Transformation verschleppt hat – aber auch, weil die handelspolitischen Spannungen und die Konkurrenz aus China zugenommen haben. Damit steht Deutschland drängender als zuvor vor der Frage: Wie sollen das Wachstum und der Wohlstand von morgen aussehen?

Drei falsche Wachstumsstrategien

Als Lösung auf die Frage, wie Wachstum gestaltet werden kann, kursieren – grob sortiert – drei unterschiedliche Argumentationsstränge. Alle scheitern aber an der Realität.

Fossiles Wachstum beschreibt das bisher dominierende Modell. Es setzt auf dauerhaftes Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP), ohne die Emissionsintensität nennenswert zu verringern. Zwar gibt es Effizienzsteigerungen, sie reichen jedoch nicht, um den steigenden CO2-Ausstoß zu kompensieren. In den typischen Sektoren wie Öl- und Gasindustrie, Kohle, Chemie oder der klassischen Automobilproduktion bleibt die Transformation schlicht aus. Technologische Scheinlösungen wie die CO2-Abscheidung oder Kompensationszertifikate (Emissionshandel) sollen den Betrieb dieser fossilen Infrastruktur noch so lange wie möglich sichern. Dadurch wird die Klimawende aufgeschoben und auf die Hoffnung gesetzt, sie in der Zukunft einfacher zu erreichen. Das ist insbesondere bei dem marktgetriebenen Emissionshandel ein Problem. Denn auf einen kurzfristig stark steigenden CO2-Preis können sich Unternehmen und Verbraucher schlecht einstellen, wodurch entweder die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten der Transformation steigen – oder die Transformation dann abgeblasen wird. Länder wie Saudi-Arabien und Russland verfolgen diese Wachstumsstrategie, aber auch die USA unter Trumps Präsidentschaft und Deutschland während Merkels Kanzlerschaft.

Green Growth ist die grünere Wachstumsvariante: Das Bruttoinlandsprodukt soll weiter wachsen, während die Emissionen durch massiven technologischen Fortschritt und Effizienzsteigerungen sinken. Das Ziel ist die Entkopplung des Wachstums vom Energie- und Materialverbrauch. Dieses Modell würde die Industrieproduktion von fossil zu nachhaltig transformieren und dabei den Fokus auf Wachstum beibehalten. Exemplarisch für diese Strategie sind zum Beispiel die USA unter Joe Bidens Präsidentschaft, die Europäische Union während Ursula von der Leyens Kommissionspräsidentschaft oder Spanien unter der aktuellen Mitte-Links-Regierung. Green Growth war auch das Ziel der Ampel-Regierung in Deutschland.

Degrowth kehrt das Wachstumsparadigma um: Statt einer Erhöhung oder Stagnation des Bruttoinlandsprodukts soll es eine aktive Schrumpfung geben. Diese würde vor allem in fossilen Sektoren stattfinden, könnte im Endeffekt aber auch das gesamte BIP deutlich reduzieren. Gleichzeitig würde aber auch die Energieeffizienz erhöht werden. Beispiele für Degrowth im Sinne seiner Befürworter – wo also ein Aufbau der nachhaltigen Wirtschaft bereits stattfand –, gibt es nicht. Beispiele für eine BIP-Reduzierung gibt es allerdings schon: Hier wären etwa Kuba oder Griechenland zu nennen.

Diese drei Wachstumsparadigmen markieren die Spannbreite zwischen dem Festhalten am fossil getriebenen Wachstum und ökologisch motiviertem Schrumpfen. Ob durch technologische Innovation, strukturelle Stagnation oder bewusstes Degrowth – die Frage, welcher Pfad eingeschlagen wird, entscheidet nicht nur über künftige Emissionen, sondern auch über die sozialen und politischen Konflikte der kommenden Jahrzehnte.

Kein Paradigma passt

So unterschiedlich die drei Paradigmen wirken, sie teilen ein Grundproblem: Keines bietet eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie sich ökologische Grenzen mit gesellschaftlichen Ansprüchen an Wohlstand und Sicherheit verbinden lassen. Fossiles Wachstum scheidet von vornherein aus, weil es dem Erreichen von Klimazielen diametral entgegensteht. Es steht für ein Modell, das zwar kurzfristig Stabilität und hohe Profite liefert, aber die Klimakrise weiter anheizt.

Green Growth wiederum setzt einen radikalen Glauben in (zum Teil noch nicht erfundene oder ausgereifte) technologische Lösungen sowie deren kurzfristigen und breitflächigen Einsatz voraus. Bisherige Effizienzgewinne wurden durch steigenden Verbrauch jedoch regelmäßig aufgezehrt (Rebound-Effekt). Somit bleibt die erhoffte Entkopplung der Wirtschaftsleistung und Emissionen empirisch fragil.

Und Degrowth schließlich provoziert die härtesten Einwände: Schrumpfung könnte wohl am schnellsten zum Einhalten der Klimaziele führen, wirft jedoch große Verteilungsfragen auf. Nicht einmal, als das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2020 und 2025 bloß stagnierte, konnte die große Mehrheit Wohlstandsverluste vermeiden. Die Reallöhne liegen weiterhin unter dem Vorkrisenniveau und führen in Kombination mit hohen Lebenshaltungskosten zu gesellschaftlichen Spannungen. Dass der Wohlstand bei einer weitergehenden Reduzierung auf diesem Niveau bewahrt werden könnte, ist unrealistisch.

Alle drei Modelle kranken daran, dass sie nur einen Teil der komplexen Wirklichkeit berücksichtigen. In einer verflochtenen Weltwirtschaft reicht es nicht, das Bruttoinlandsprodukt hoch- oder herunterzurechnen. Gefordert ist ein Ansatz, der ökologische Grenzen, soziale Bedürfnisse und materiellen Wohlstand gleich ernst nimmt. Genau hier liegt die Leerstelle der aktuellen Debatte: Statt die Modelle gegeneinanderzustellen, braucht es eine Synthese. Erst dann könnte aus der Wachstumsdebatte eine realistische Zukunftsstrategie werden.

Wohlstand neu definieren

Das Bruttoinlandsprodukt ist die zentrale wirtschaftspolitische Kennzahl – beispielsweise für die Beurteilung der aktuellen Wirtschaftslage in Deutschland oder für den Vergleich mit anderen Ländern. Das BIP gibt den Wert aller Waren und Dienstleistungen an, die in einem Jahr in einem Land erwirtschaftet werden. Doch schon der Erfinder des Bruttoinlandsprodukts, der Ökonom Simon Kuznets (1901–1985), warnte vor einer verkürzten Verwendung: „Es muss zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum, zwischen Kosten und Ertrag sowie zwischen kurz- und langfristigen Zielen unterschieden werden. Ziele für mehr Wachstum sollten konkretisieren, wovon und wofür mehr Wachstum angestrebt wird.“ Umso wichtiger ist es, das Bruttoinlandsprodukt weder zu überhöhen noch kleinzureden. Viel eher braucht es eine kritisch-rationale Auseinandersetzung damit, wofür die Kennzahl hilfreich sein kann und wofür nicht.

Bereits beim genauen Messen der Wirtschaftsleistung gerät das BIP an seine Grenzen: Neue Zahlen beruhen zum großen Teil auf Schätzwerten oder fortgeschriebenen Zeitreihen, die erst mit einigem zeitlichen Abstand und Revisionen endgültig festgehalten werden. So hat das Statistische Bundesamt im Sommer 2025 mit vier Jahren Verzug die Zahlen für die Jahre 2021 bis 2024 revidiert. Die Folge: Die Rezession 2024 war mit 0,9 Prozent deutlich größer als zuvor mit 0,3 Prozent angegeben. Solch einen Unterschied früher erkannt zu haben, hätte womöglich maßgebliche Auswirkungen auf die politische Entwicklung gehabt.

Doch auch beim Kern des Bruttoinlandsprodukts, dem Messen der Wirtschaftsleistung, gibt es große Probleme: Denn wesentliche Bereiche des Wirtschaftens werden nicht erfasst – so etwa die unbezahlte Sorgearbeit, die mit einem Drittel der Wirtschaftsleistung keine Beachtung findet. Das Problem liegt in der Konzeption, dass nur bezahlte Arbeit in das BIP fließt. Wenn eine bisher unbezahlte Stunde Sorgearbeit entlohnt wird, steigt das Bruttoinlandsprodukt, obwohl das Geleistete gleich bleibt. Wenn umgekehrt bezahlte Sorgearbeit abgebaut und damit ins Private verschoben wird, dann sinkt es.

Hinzu kommt, dass das Bruttoinlandsprodukt erst mal nichts über die Sinnhaftigkeit der produzierten Güter aussagt. Viel eher ist es so, dass schnelllebige Güter, die bald wieder im Müll landen, sogar besser für das BIP sind. Denn dadurch wird ein Paar Schuhe, das nur noch ein statt drei Jahre hält, mehrfach produziert. Das bedeutet mehrfache Arbeitszeit und mehrfache Umsätze – aber auch mehrfache ökologische Kosten. Zugleich unterscheidet das BIP nicht, wer eigentlich mehr konsumiert und ob dieser Konsum wirklich den Wohlstand steigert. Ob sich nun ein Milliardär ein paar Schuhe kauft, um damit das achtzehnte Regal mit Schuhen zu füllen, oder jemand, dessen einzige Schuhe kaputt sind, spielt keine Rolle. Beides erhöht den Wohlstand in der Theorie gleichermaßen. Doch gesamtgesellschaftlich bedeutet das: Je ungleicher die Verteilung von Einkommen, Konsum und Vermögen ist, desto geringer ist der reale Wohlstandsgewinn des Wachstums. Denn ein relevanter Anteil kommt den Reichsten zugute, die den zusätzlichen Konsum womöglich nicht mal als Wohlstandssteigerung wahrnehmen würden.

Auch für die ökologische Komponente ist das Bruttoinlandsprodukt weitestgehend blind. Wie erwähnt, ist das Wegwerfen und Neukaufen für das Bruttoinlandsprodukt besser, als Gegenstände langlebig zu designen oder gegebenenfalls zu reparieren. Das überträgt sich auch auf die Übernutzung natürlicher Ressourcen: Je mehr verbraucht wird, desto besser ist es für das BIP-Wachstum, obwohl die ökologischen Schäden selten realitätsnah im Preis enthalten sind.

Das BIP hat schlicht zu viele konzeptionelle Probleme, um es sinnvoll als breiten Indikator zu nutzen. Der Indikator an sich ist eine Flussgröße, die nur die Veränderung über einen Zeitraum hinweg beschreibt – also das, was in einem Jahr produziert wird. Die wirtschaftlichen Debatten drehen sich dann primär darum, ob sich die Flussgröße verändert, also ob sich unser Wachstum beschleunigt oder abschwächt. Dabei ist egal, wie viel historisch bereits produziert wurde.

Nicht ohne Grund gibt es Indikatoren wie den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI), die sich anders zusammensetzen. Statt einen Geldwert ins Zentrum zu stellen, werden Variablen über mehrere Dimensionen menschlichen Wohlergehens zu einem Indikator zusammengebunden, um ein umfassenderes Bild des Wirtschaftens zu geben. Unter den sechs wohlfahrtsstiftenden und fünfzehn wohlfahrtsmindernden Komponenten sind sowohl Kernaspekte des Wirtschaftens wie die privaten Konsumausgaben als auch die Kosten durch Luftverschmutzung. Das eröffnet den Blick auf alternative Entwicklungspfade: Würden wir Klimabelastungen reduzieren und die Einkommensungleichheit auf das Niveau von 1999 zurückführen, ließe sich die Wohlfahrt bis 2030 um fast ein Drittel steigern.

Für mehr Wohlfahrt

Wenn wir Indikatoren wie den NWI berücksichtigen, geht es nicht mehr um das blinde Wachstum der Wirtschaftsleistung, sondern um qualitatives Wachstum der Wohlfahrt. Dabei müssten die zwei Prozesse gleichzeitig verfolgbar werden: der Abbau schädlicher Wirtschaftsstrukturen und der Aufbau zukunftsfähiger Bereiche.

Beides wollen Vertreterinnen und Vertreter von grünem Wachstum als auch von Degrowth. Der Unterschied ist, dass die BIP-Veränderungen nicht mehr als zentral angesehen werden sollten, weil sie weder eindeutig noch unabhängig von der konkreten Ausgestaltung sind. Wenn man allen Menschen, deren fossiler Arbeitgeber abgewickelt wird, einen anderen sinnstiftenden Job mit gleichem Einkommen gibt, bleibt das Bruttoinlandsprodukt nahezu gleich. Es ist sogar möglich, dass das BIP durch höhere Multiplikatorwirkungen steigt. Stellen wir uns etwa vor, Installateure richten nicht den fünften Pool in einer Luxusvilla ein, sondern die Wärmepumpe im Mehrfamilienhaus. Dann haben die Bewohner des Mehrfamilienhauses weniger Energiekosten und mehr Kaufkraft, was die Binnennachfrage anschiebt. Es gibt eine ganze Menge solcher Beispiele, an welchen Stellen Hunderttausende Menschen für die Klima- und Sozialwende benötigt werden: Nicht nur beim Installieren von Wärmepumpen, sondern auch beim Isolieren von Gebäuden, beim Bau von Bahnstrecken, beim Erziehen unserer Kinder, beim Pflegen der Älteren.

Ein solches Wachstumsmodell muss sich aber über die eigenen Landesgrenzen hinaus in den internationalen Kontext einfügen. Trumps Zölle und die chinesische Konkurrenz führen bekanntlich zum Ausfall der zwei wichtigsten Exportmärkte Deutschlands als Wachstumstreiber. Eine Alternative zum Exportismus könnte eine Strategie sein, die auf gemeinsamem Wohlstand in Europa und handelswilligen Partnern beruht. Der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi ist der bekannteste Vertreter eines solchen Kurswechsels in der europäischen Wirtschaftspolitik. In seinem Bericht zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit vom September 2024 fordert er eine gemeinsame europäische Verschuldung, eine Rationalisierung nationaler Bürokratien über die EU und eine koordinierte Industriepolitik, die Zukunftsindustrien skaliert und breit über den Kontinent verteilt. Draghis Bericht ist eine Blaupause dafür, wie die ganze EU ein qualitatives Wachstum erreichen und einen nachhaltigen Wohlstand sichern kann.

Eine an der Wohlfahrt und der Ökologie ausgerichtete Wirtschaftspolitik sollte auch mit einem stärkeren Fokus auf Sozialpolitik einhergehen, zum Beispiel mit höheren Löhnen, höheren Renten, höherer Mindestsicherung oder geringerer Mietbelastung. All das hat eine entlastende und damit konjunkturanschiebende Wirkung und damit Wachstumseffekte. Die Frage ist nur, wie ökologisch nachhaltig sie sind. Umso wichtiger sind grüne und günstige Alternativen für Basisgüter des Alltagslebens: von der Mobilität über die Verpflegung bis hin zur Wärmeversorgung. Gleichzeitig könnte es bei diesen Gütern eine moderat steigende Emissionsbepreisung geben, die im Gegensatz zur heutigen Ausgestaltung erst bei übermäßigem Konsum stark ansteigt. Umgekehrt wäre ein Wachstum emissionsarmer Wirtschaft weiter möglich. Dann würden die Menschen mit mehr Geld öfter zum Friseur, ins Kino oder ins Restaurant gehen. Wieso auch nicht? Das ist für viele Menschen das, was das Leben schön macht.

Und das geht im Einklang mit den Klimazielen. Sie zu erreichen, muss kein Schreckgespenst sein. Doch dafür benötigen wir eine andere Wirtschaftspolitik, die qualitatives Wachstum ins Zentrum stellt.

ist Volkswirt und Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins "Surplus".