„Neues Wirtschaftswachstum“ ist das Oberthema des ersten Kapitels des Koalitionsvertrags der aktuellen schwarz-roten Bundesregierung. Entsprechend kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai 2025 an: „Wir werden (…) alles daransetzen, Deutschlands Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen.“ Als zentrale Maßnahmen nannte er dafür unter anderem die Ausweitung steuerlicher Abschreibungen für Investitionen, die Senkung der Körperschaftsteuer und den Abbau von Berichts- und Meldepflichten. Nur so könne das Versprechen von „Wohlstand für alle“ erfüllt werden.
Doch führen Reformen wie diese – die zunächst einmal primär Unternehmen entlasten – wirklich zum „Wohlstand für alle“? Entscheidend ist dabei dreierlei: erstens, ob die Maßnahmen tatsächlich zu höherem Wirtschaftswachstum führen; zweitens, wem das zusätzliche Einkommen zugutekommt; und drittens, wie die Umweltkosten des Wachstums verteilt sind.
Die wechselseitigen Effekte von Ungleichheit, Wachstum und Umweltzerstörung werden in der öffentlichen Debatte oft übergangen. Im Folgenden diskutieren wir deshalb auf Basis der ökonomischen Literatur die folgenden Fragen: Wie wirkt sich Ungleichheit auf Wachstum aus? Umgekehrt, was ist der Effekt von Wachstum auf Ungleichheit? Und wie interagiert beides mit Umweltzerstörung?
Historische Entwicklung
Zunächst gilt es, herauszustellen, dass Ungleichheit nicht nur Einkommen und Vermögen betrifft, sondern sich in anderen Dimensionen wie Chancen, Macht, Bildung oder Gesundheit zeigt – und häufig entlang soziokultureller Merkmale wie Geschlecht, Sexualität oder Herkunft verläuft.
Gleichwohl steht in diesem Beitrag die Verteilung von Einkommen und Vermögen unter der erwachsenen Bevölkerung von einzelnen Ländern im Mittelpunkt. Zur Analyse des gesamtwirtschaftlichen Wachstums und der Einkommensverteilung nutzen wir das Nettonationaleinkommen.
Für die Untersuchung der Vermögensverteilung betrachten wir das Gesamtvermögen privater Haushalte, das allen Finanzvermögen (Aktien, Anleihen, Lebensversicherungen) sowie nicht-finanziellen Vermögenswerten (Immobilien, Unternehmen) abzüglich bestehender Schulden entspricht. Als zentrales Ungleichheitsmaß dient uns dabei das Verhältnis der Einkommens- und Vermögensanteile verschiedener Bevölkerungsteile, zum Beispiel jenes zwischen den ärmsten 50 Prozent und den reichsten 10 Prozent. In einer Gesellschaft mit vollständiger Gleichheit würden die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des Einkommens und Vermögens erhalten, während die reichsten 10 Prozent 10 Prozent bekämen.
Seit der Reichsgründung 1871 unterlag das jährliche Wirtschaftswachstum in Deutschland (ohne DDR) deutlichen Schwankungen (Abbildung 1). Bis Mitte des 20. Jahrhunderts variierte die durchschnittliche Rate stark, mit massiven Einbrüchen aufgrund der beiden Weltkriege. Während des „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre lag die Wachstumsrate in der Bundesrepublik bei über 7 Prozent pro Jahr – was eine Verdopplung der Wirtschaftsleistung innerhalb eines Jahrzehnts bedeutet. Seitdem fielen die durchschnittlichen Wachstumsraten kontinuierlich. In den 1960er und 1970er Jahren wurden mit 4,2 Prozent beziehungsweise 2,2 Prozent noch vergleichsweise hohe Werte erreicht. Eine dauerhafte Stagnation um etwa 1 Prozent setzte erst in den 1990er Jahren ein.
Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung entwickelte sich meist gegenteilig: Sie nahm vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre kontinuierlich ab und steigt seither wieder leicht an (Abbildung 1). So änderte sich das Verhältnis der Einkommen der unteren 50 Prozent zu denen der obersten 10 Prozent von 1 zu rund 13 im Jahr 1871 auf 1 zu 3,5 in den 1970er und 1980er Jahren, um 2023 wieder 1 zu 4,8 zu betragen. Mit anderen Worten: 2023 hatte ein Haushalt, der zu den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung gehört, im Durchschnitt ein fast fünfmal so hohes Einkommen wie ein Haushalt, der zur ärmeren Hälfte der Bevölkerung zählt.
Abbildung 2 verdeutlicht die Entwicklung der Ungleichheit seit 1980 in absoluten Zahlen.
Während die Einkommensungleichheit bereits beträchtlich ist, fällt die Vermögensungleichheit in Deutschland noch deutlich stärker aus. So verfügen die wohlhabendsten 10 Prozent der Haushalte über rund 60 bis 65 Prozent des Gesamtvermögens, während die untere Hälfte kaum nennenswerte Rücklagen besitzt.
Abbildung 3 zeigt, dass sich die Vermögenskonzentration in Deutschland und anderen westlichen Demokratien ähnlich entwickelt hat. Heute gehört Deutschland zu den europäischen Ländern mit einer besonders großen Vermögensungleichheit, und liegt bei der Vermögenskonzentration zum Beispiel deutlich über dem Vereinigten Königreich.
Was auffällt, wenn man die Entwicklung der Ungleichheit nun in Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum betrachtet: In den meisten westlichen Ländern wurden gerade in den vergleichsweise egalitären Jahrzehnten Mitte des 20. Jahrhunderts die höchsten Wachstumsraten erzielt. Deutschland ist auch damit keine Ausnahme, sondern Teil eines in Europa und Nordamerika vielfach beobachteten historischen Musters von Wachstum und Ungleichheit.
Einfluss von Ungleichheit auf Wachstum
Der Blick auf die historische Entwicklung in Deutschland und anderen Industrieländern zeigt, dass Phasen geringerer Ungleichheit häufig mit stärkerem Wachstum einhergingen. Dies deutet auf einen negativen Effekt von Ungleichheit auf Wachstum hin. Um jedoch Aussagen über einen tatsächlichen Kausalzusammenhang treffen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit der ökonomischen Literatur nötig.
Nach der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die die ökonomische Debatte bis heute prägt, stehen die Reduktion von Ungleichheit und die Förderung von Wachstum in einem Zielkonflikt: Ungleichheit gilt demnach als förderlich für Produktivität und Wachstum, da sie Investitionen ermögliche und Anreize schaffe. Umverteilung könne zwar die Lebensstandards niedriger Einkommen verbessern, hemme jedoch das Wirtschaftswachstum.
Ein erstes Argument basiert auf der Beobachtung, dass Wohlhabende einen größeren Teil ihres Einkommens investieren, während ärmere Haushalte den Großteil für Konsum ausgeben. Weil Investitionen wachstumsfördernd sind, wirkt sich eine ungleiche Einkommensverteilung somit positiv auf das Wachstum aus. Dabei wird jedoch übersehen, dass große Investitionen in der Realität selten von Einzelpersonen getätigt werden und auch der Staat über steuerfinanzierte Ausgaben eine zentrale Rolle als Investor einnimmt.
Ein zweites neoklassisches Argument lautet, dass Ungleichheit notwendig ist, um Anreize zu schaffen: Leistung müsse „belohnt“ werden.
Diese Chancenungleichheit lässt sich zu großen Teilen auf sinkende Bildungsgerechtigkeit zurückführen, die in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern besonders niedrig ist:
Überdies gefährden übermäßige Ungleichheiten die Demokratie. Studien zeigen, dass steigende Ungleichheit politische Polarisierung und wachsende Frustration über demokratische Institutionen nach sich zieht.
Tatsächlich mehren sich die wissenschaftlichen Befunde, dass eine Reduktion der Ungleichheit positive Effekte auf das Wirtschaftswachstum haben könnte. So schätzte etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor einigen Jahren, dass das Wachstum in Deutschland seit 1991 um zwei Prozentpunkte höher ausgefallen wäre, wenn die Einkommensungleichheit nicht gestiegen wäre.
Die Evidenz, dass steigende Ungleichheit das Wirtschaftswachstum bremst oder zumindest nicht fördert, hat auch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank zu einer neuen Position veranlasst. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sie sich nahezu ausschließlich am Wachstum orientiert und der Ungleichheit kaum Bedeutung beigemessen. Angesichts der gewachsenen Ungleichheit und ihrer sichtbaren Folgen setzte jedoch ein allmählicher Kurswechsel ein. So erklärte die IWF-Direktorin Kristalina Georgieva im Frühjahr 2024: „Wir haben die Verpflichtung, das zu korrigieren, was in den letzten 100 Jahren am schwerwiegendsten falsch gelaufen ist – das Fortbestehen hoher wirtschaftlicher Ungleichheit. Untersuchungen des IWF zeigen, dass eine geringere Einkommensungleichheit mit höherem und nachhaltigerem Wachstum verbunden sein kann.“
Einfluss von Wachstum auf Ungleichheit
Ungleichheit beeinflusst nicht nur Wachstum, sondern Wachstum beeinflusst auch Ungleichheit: Schließlich kann zusätzliches Einkommen auf unterschiedliche Weisen verteilt werden. In einem der bekanntesten Beiträge zum Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit hat der Ökonom Simon Kuznets argumentiert, dass mit steigendem Bruttoinlandsprodukt die Ungleichheit zunächst zunehme, um anschließend wieder zu sinken.
Heute wissen wir jedoch, dass die Ungleichheit seit den 1980er Jahren wieder gewachsen ist. Abbildung 4 zeigt das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in Deutschland zwischen 2000 und 2023 für verschiedene Einkommensgruppen. Betrachtet man zunächst die Entwicklung von Einkommen vor Steuern und Sozialtransfers (dunkelrote Säulen), wird deutlich, dass das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem den oberen Einkommensgruppen zugutekam: Für die Einkommensgruppe der obersten 10 Prozent stiegen die Einkommen im Schnitt um über 1,3 Prozent pro Jahr. Demgegenüber stehen Wachstumsraten unter 0,7 Prozent und teilweise sogar um 0 Prozent für den Rest der Bevölkerung.
Laut der neoklassischen Theorie spiegelt Einkommensungleichheit die marktgerechte Vergütung wider. Mit anderen Worten: Haushalte verdienen das, was sie zum Wachstum „beitragen“, entweder durch ihre Arbeit oder durch ihre Investitionen in Kapital, die dann Lohn- beziehungsweise Kapitaleinkommen generieren. Im ökonomischen Jargon spricht man hier von der Grenzertragstheorie.
Eine Vielzahl an Studien zeigt jedoch, dass die Grenzertragstheorie zu kurz greift. Vor allem bei Führungskräften und Topverdiener*innen im Finanzsektor lassen sich steigende Gehälter und Boni nicht alleine durch Produktivitätsgewinne erklären.
Eine weitere zentrale neoklassische Idee ist die Trickle-Down-Theorie. Diese besagt, dass Wachstum langfristig allen zugutekommt, weil Einkommenszuwächse in den oberen Gehaltsgruppen Investitionen stimulieren, die schließlich auch in ärmeren Einkommensgruppen mehr Beschäftigung und höhere Einkommen nach sich ziehen. Diese Idee wird häufig als Rechtfertigung zum Beispiel für Steuerentlastungen von Spitzenverdiener*innen genutzt. Tatsächlich aber ist das Phänomen der von oben „herabrieselnden“ Wachstumsprofite in der Realität kaum zu beobachten.
Anders als von der neoklassischen Theorie unterstellt, ist die Einkommensverteilung vor Steuern und Transfers kein natürliches Ergebnis, sondern wird von politischen und ökonomischen Institutionen entscheidend geprägt. Marktinstitutionen wie der Mindestlohn, die Zinspolitik von Zentralbanken, die Struktur des Bildungssystems oder die Ausübung von Monopolmacht haben großen Einfluss auf die Einkommensverteilung.
Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist, dass die wohlhabendsten Haushalte in Deutschland ihre Einkommen überwiegend aus Vermögen beziehen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung kaum über nennenswerte Vermögenswerte verfügt. Vermögen wird hierzulande nur schwach besteuert – sowohl im internationalen Vergleich als auch gegenüber Arbeitseinkommen:
Zusammenhang mit Umweltzerstörung
Wachstum und Ungleichheit stehen zudem in direkter Wechselwirkung mit der fortschreitenden Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen – und damit mit einer der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Wachstum beeinflusst Ungleichheit nicht nur über die direkte Verteilung der erzielten Einkommen, sondern auch über seine ökologischen Folgen, die teilweise zeitlich verzögert und räumlich versetzt wirken. Zugleich sind ökonomische Ungleichheiten eng mit der Verantwortung für Umweltschäden verknüpft.
Mit Blick auf Einkommensunterschiede zwischen Ländern wird geschätzt, dass die menschengemachte Erderwärmung die Kluft zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern der Welt zwischen 1961 und 2010 um etwa 25 Prozent vergrößert hat.
Auch innerhalb von Ländern tragen die Einkommensschwachen die größten Lasten der Klimakrise:
Während die Umweltfolgen von Wachstum ärmere Haushalte am stärksten treffen, sind die oberen Einkommensgruppen überdurchschnittlich für diese Folgen verantwortlich. So stammen mehr als 80 Prozent der globalen Emissionen aus Hocheinkommensländern, obwohl dort weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt.
Fazit
Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass es den häufig behaupteten Zielkonflikt zwischen Wachstum und Ungleichheitsbekämpfung – eine Idee, die auch heute noch die wirtschaftspolitische Debatte prägt – gar nicht gibt. Im Gegenteil: Empirische Befunde legen nahe, dass größere Gleichheit das Wirtschaftswachstum fördert, während es durch geringe soziale Mobilität und politische Instabilität gebremst wird. Umgekehrt führt Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig zu größerer Gleichheit. Es kann Ungleichheit sowohl verstärken als auch reduzieren – abhängig von seiner Verteilungsstruktur: Die Frage der Verteilung ist im Kern eine politische, die nicht nur vom Steuer- und Transfersystem abhängt, sondern auch von Arbeitsmarktregulierungen und öffentlichen Ausgaben wie jene für Bildung.
Die andauernde Umweltzerstörung verdeutlicht darüber hinaus, dass Wirtschaftswachstum als oberstes Politikziel nicht ausreicht, um „Wohlstand für alle“ zu schaffen. Will man diesem Ziel näher kommen, gilt es auch andere Aspekte menschlichen Wohlergehens zu berücksichtigen – etwa soziale Stabilität und eine intakte Umwelt.