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Wachstum Editorial Wachstum und Wachstumskritik. Eine Diskursgeschichte Warum moderne Gesellschaften Wachstum brauchen - Essay Vom falschen zum richtigen Wachstum - Essay Wir müssen schrumpfen. Wachstum als Irrweg - Essay Wohlstand jenseits von Wachstum - Essay Wachstum und Ungleichheit

Wachstum und Ungleichheit

Cornelia Mohren Moritz Odersky

/ 16 Minuten zu lesen

Den behaupteten Zielkonflikt zwischen Wachstum und Ungleichheitsbekämpfung gibt es nicht. Im Gegenteil: Forschungen legen nahe, dass mehr Gleichheit Wachstum fördert, während es durch geringe soziale Mobilität und politische Instabilität gebremst wird.

„Neues Wirtschaftswachstum“ ist das Oberthema des ersten Kapitels des Koalitionsvertrags der aktuellen schwarz-roten Bundesregierung. Entsprechend kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung am 14. Mai 2025 an: „Wir werden (…) alles daransetzen, Deutschlands Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen.“ Als zentrale Maßnahmen nannte er dafür unter anderem die Ausweitung steuerlicher Abschreibungen für Investitionen, die Senkung der Körperschaftsteuer und den Abbau von Berichts- und Meldepflichten. Nur so könne das Versprechen von „Wohlstand für alle“ erfüllt werden.

Doch führen Reformen wie diese – die zunächst einmal primär Unternehmen entlasten – wirklich zum „Wohlstand für alle“? Entscheidend ist dabei dreierlei: erstens, ob die Maßnahmen tatsächlich zu höherem Wirtschaftswachstum führen; zweitens, wem das zusätzliche Einkommen zugutekommt; und drittens, wie die Umweltkosten des Wachstums verteilt sind.

Die wechselseitigen Effekte von Ungleichheit, Wachstum und Umweltzerstörung werden in der öffentlichen Debatte oft übergangen. Im Folgenden diskutieren wir deshalb auf Basis der ökonomischen Literatur die folgenden Fragen: Wie wirkt sich Ungleichheit auf Wachstum aus? Umgekehrt, was ist der Effekt von Wachstum auf Ungleichheit? Und wie interagiert beides mit Umweltzerstörung?

Historische Entwicklung

Zunächst gilt es, herauszustellen, dass Ungleichheit nicht nur Einkommen und Vermögen betrifft, sondern sich in anderen Dimensionen wie Chancen, Macht, Bildung oder Gesundheit zeigt – und häufig entlang soziokultureller Merkmale wie Geschlecht, Sexualität oder Herkunft verläuft.

Gleichwohl steht in diesem Beitrag die Verteilung von Einkommen und Vermögen unter der erwachsenen Bevölkerung von einzelnen Ländern im Mittelpunkt. Zur Analyse des gesamtwirtschaftlichen Wachstums und der Einkommensverteilung nutzen wir das Nettonationaleinkommen. Dieses umfasst sämtliche Einkommen, die von Inländer*innen im In- und Ausland erzielt werden. Die Einkommensverteilung wird dabei sowohl vor als auch nach Steuern und Transfers betrachtet: Das Einkommen vor Steuern und Transfers summiert Löhne und Kapitaleinkommen sowie Leistungen der Sozialversicherungen wie Renten und Arbeitslosengeld; für die Ermittlung des Einkommens nach Steuern und Transfers werden gezahlte Steuern abgezogen und staatliche Sozialleistungen wie Bürgergeld oder Kindergeld sowie Sachleistungen wie öffentliche Bildungsausgaben addiert.

Für die Untersuchung der Vermögensverteilung betrachten wir das Gesamtvermögen privater Haushalte, das allen Finanzvermögen (Aktien, Anleihen, Lebensversicherungen) sowie nicht-finanziellen Vermögenswerten (Immobilien, Unternehmen) abzüglich bestehender Schulden entspricht. Als zentrales Ungleichheitsmaß dient uns dabei das Verhältnis der Einkommens- und Vermögensanteile verschiedener Bevölkerungsteile, zum Beispiel jenes zwischen den ärmsten 50 Prozent und den reichsten 10 Prozent. In einer Gesellschaft mit vollständiger Gleichheit würden die ärmsten 50 Prozent der Bevölkerung 50 Prozent des Einkommens und Vermögens erhalten, während die reichsten 10 Prozent 10 Prozent bekämen.

Seit der Reichsgründung 1871 unterlag das jährliche Wirtschaftswachstum in Deutschland (ohne DDR) deutlichen Schwankungen (Abbildung 1). Bis Mitte des 20. Jahrhunderts variierte die durchschnittliche Rate stark, mit massiven Einbrüchen aufgrund der beiden Weltkriege. Während des „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre lag die Wachstumsrate in der Bundesrepublik bei über 7 Prozent pro Jahr – was eine Verdopplung der Wirtschaftsleistung innerhalb eines Jahrzehnts bedeutet. Seitdem fielen die durchschnittlichen Wachstumsraten kontinuierlich. In den 1960er und 1970er Jahren wurden mit 4,2 Prozent beziehungsweise 2,2 Prozent noch vergleichsweise hohe Werte erreicht. Eine dauerhafte Stagnation um etwa 1 Prozent setzte erst in den 1990er Jahren ein.

Die Ungleichheit in der Einkommensverteilung entwickelte sich meist gegenteilig: Sie nahm vom frühen 20. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre kontinuierlich ab und steigt seither wieder leicht an (Abbildung 1). So änderte sich das Verhältnis der Einkommen der unteren 50 Prozent zu denen der obersten 10 Prozent von 1 zu rund 13 im Jahr 1871 auf 1 zu 3,5 in den 1970er und 1980er Jahren, um 2023 wieder 1 zu 4,8 zu betragen. Mit anderen Worten: 2023 hatte ein Haushalt, der zu den reichsten 10 Prozent der Bevölkerung gehört, im Durchschnitt ein fast fünfmal so hohes Einkommen wie ein Haushalt, der zur ärmeren Hälfte der Bevölkerung zählt.

Abbildung 2 verdeutlicht die Entwicklung der Ungleichheit seit 1980 in absoluten Zahlen. Zunächst zeigt die Unterscheidung zwischen Einkommen vor und nach Steuern und Transfers (gepunktete vs. gestrichelte Linien), dass staatliche Umverteilung die Einkommen der unteren 50 Prozent zwar stärkt und die der obersten 10 Prozent reduziert. Dies konnte den Anstieg der Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten jedoch nicht verhindern, im Gegenteil: 2023 verfügte die ärmere Hälfte der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland nach Steuern und Transfers über ein durchschnittliches Jahreseinkommen von rund 28700 Euro, während die reichsten 10 Prozent rund 136800 Euro erzielten – diesem Verhältnis von 1 zu 4,8 steht ein Verhältnis von 1 zu 3,6 im Jahr 1980 gegenüber. Noch deutlicher ist die Entwicklung mit Blick auf das oberste Prozent: 1980 hatten diese Haushalte nach Steuern und Transfers im Durchschnitt ein 12-mal so hohes Einkommen wie die untere Hälfte, heute ist es über 16-mal so hoch. Die Vergrößerung der Einkommensungleichheit spiegelt sich auch in der Armutsquote wider, die zwischen 1991 und 2021 von 11,4 auf 17,8 Prozent gestiegen ist.

Während die Einkommensungleichheit bereits beträchtlich ist, fällt die Vermögensungleichheit in Deutschland noch deutlich stärker aus. So verfügen die wohlhabendsten 10 Prozent der Haushalte über rund 60 bis 65 Prozent des Gesamtvermögens, während die untere Hälfte kaum nennenswerte Rücklagen besitzt. Das oberste Prozent vereinte 2023 ein Viertel des Gesamtvermögens auf sich, und allein die beiden reichsten Familien Deutschlands haben zusammen ein größeres Vermögen als die gesamte ärmere Bevölkerungshälfte. Im frühen 20. Jahrhundert war die Konzentration allerdings noch ausgeprägter: Damals kontrollierte das oberste Prozent rund die Hälfte des Vermögens. In den drei Jahrzehnten danach sank dieser Anteil deutlich und lag in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik noch bei etwas über 20 Prozent. Seitdem ist die Vermögenskonzentration jedoch – ähnlich wie bei den Einkommen – wieder angestiegen.

Abbildung 3 zeigt, dass sich die Vermögenskonzentration in Deutschland und anderen westlichen Demokratien ähnlich entwickelt hat. Heute gehört Deutschland zu den europäischen Ländern mit einer besonders großen Vermögensungleichheit, und liegt bei der Vermögenskonzentration zum Beispiel deutlich über dem Vereinigten Königreich.

Was auffällt, wenn man die Entwicklung der Ungleichheit nun in Verbindung mit dem Wirtschaftswachstum betrachtet: In den meisten westlichen Ländern wurden gerade in den vergleichsweise egalitären Jahrzehnten Mitte des 20. Jahrhunderts die höchsten Wachstumsraten erzielt. Deutschland ist auch damit keine Ausnahme, sondern Teil eines in Europa und Nordamerika vielfach beobachteten historischen Musters von Wachstum und Ungleichheit.

Einfluss von Ungleichheit auf Wachstum

Der Blick auf die historische Entwicklung in Deutschland und anderen Industrieländern zeigt, dass Phasen geringerer Ungleichheit häufig mit stärkerem Wachstum einhergingen. Dies deutet auf einen negativen Effekt von Ungleichheit auf Wachstum hin. Um jedoch Aussagen über einen tatsächlichen Kausalzusammenhang treffen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit der ökonomischen Literatur nötig.

Nach der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die die ökonomische Debatte bis heute prägt, stehen die Reduktion von Ungleichheit und die Förderung von Wachstum in einem Zielkonflikt: Ungleichheit gilt demnach als förderlich für Produktivität und Wachstum, da sie Investitionen ermögliche und Anreize schaffe. Umverteilung könne zwar die Lebensstandards niedriger Einkommen verbessern, hemme jedoch das Wirtschaftswachstum.

Ein erstes Argument basiert auf der Beobachtung, dass Wohlhabende einen größeren Teil ihres Einkommens investieren, während ärmere Haushalte den Großteil für Konsum ausgeben. Weil Investitionen wachstumsfördernd sind, wirkt sich eine ungleiche Einkommensverteilung somit positiv auf das Wachstum aus. Dabei wird jedoch übersehen, dass große Investitionen in der Realität selten von Einzelpersonen getätigt werden und auch der Staat über steuerfinanzierte Ausgaben eine zentrale Rolle als Investor einnimmt. Zudem steht diese Sichtweise im Kontrast zu postkeynesianischen Theorien, die die Nachfrage als entscheidenden Wachstumsfaktor betonen. Somit führt ein höheres Einkommen ärmerer Gruppen zu steigender Konsumnachfrage und damit zu stärkerem Wachstum. Seit den 1990er Jahren wird dieses Argument auch im ökonomischen Mainstream wieder verstärkt aufgegriffen.

Ein zweites neoklassisches Argument lautet, dass Ungleichheit notwendig ist, um Anreize zu schaffen: Leistung müsse „belohnt“ werden. Fraglich ist jedoch, ob immer weiter steigende Einkommensunterschiede die Arbeitsanreize tatsächlich stärken – insbesondere dann, wenn höhere Einkommen für viele Menschen aufgrund sinkender Chancengerechtigkeit zunehmend unerreichbar werden und damit kaum noch als realistischer Anreiz dienen. Eine aktuelle Studie des Ifo-Instituts zeigt, dass die soziale Mobilität in Deutschland seit den 1970er Jahren drastisch abgenommen und sich der Einfluss des elterlichen Einkommens auf die späteren Einkommen der Kinder seither verdoppelt hat.

Diese Chancenungleichheit lässt sich zu großen Teilen auf sinkende Bildungsgerechtigkeit zurückführen, die in Deutschland im Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern besonders niedrig ist: So legen hierzulande über 80 Prozent der Kinder aus den reichsten 10 Prozent der Haushalte das Abitur ab, aber nur 30 Prozent der Kinder aus den ärmsten 10 Prozent. Die Chancenungleichheit beschränkt sich zudem nicht nur auf die schulische Bildung. 2023 war fast jedes vierte Kind in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht – mit negativen Folgen für gesellschaftliche Teilhabe und persönliche Entwicklung. Letztendlich führt auch dieses ungenutzte Bildungspotenzial zu Wachstumseinbußen.

Überdies gefährden übermäßige Ungleichheiten die Demokratie. Studien zeigen, dass steigende Ungleichheit politische Polarisierung und wachsende Frustration über demokratische Institutionen nach sich zieht. Schon länger weisen Politikwissenschaftler*innen mit Blick auf die Zustände in den USA darauf hin, wie unverhältnismäßig groß der Einfluss der reichsten Bevölkerungsgruppen auf Politik und Gesetzgebung ist: Sie sind in Medien, Lobbyorganisationen, unter Parteispendern und in politischen Ämtern massiv überrepräsentiert. Dieses Repräsentationsungleichgewicht schwächt nicht nur die Demokratie selbst, sondern kann auch zu soziopolitischer Instabilität führen, die wiederum wirtschaftliches Wachstum gefährdet.

Tatsächlich mehren sich die wissenschaftlichen Befunde, dass eine Reduktion der Ungleichheit positive Effekte auf das Wirtschaftswachstum haben könnte. So schätzte etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung vor einigen Jahren, dass das Wachstum in Deutschland seit 1991 um zwei Prozentpunkte höher ausgefallen wäre, wenn die Einkommensungleichheit nicht gestiegen wäre. Während das Ifo-Institut für Deutschland keinen Effekt von Ungleichheit auf Wachstum feststellte, wies die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit etwas höhere Effekte nach.

Die Evidenz, dass steigende Ungleichheit das Wirtschaftswachstum bremst oder zumindest nicht fördert, hat auch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank zu einer neuen Position veranlasst. Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sie sich nahezu ausschließlich am Wachstum orientiert und der Ungleichheit kaum Bedeutung beigemessen. Angesichts der gewachsenen Ungleichheit und ihrer sichtbaren Folgen setzte jedoch ein allmählicher Kurswechsel ein. So erklärte die IWF-Direktorin Kristalina Georgieva im Frühjahr 2024: „Wir haben die Verpflichtung, das zu korrigieren, was in den letzten 100 Jahren am schwerwiegendsten falsch gelaufen ist – das Fortbestehen hoher wirtschaftlicher Ungleichheit. Untersuchungen des IWF zeigen, dass eine geringere Einkommensungleichheit mit höherem und nachhaltigerem Wachstum verbunden sein kann.“

Einfluss von Wachstum auf Ungleichheit

Ungleichheit beeinflusst nicht nur Wachstum, sondern Wachstum beeinflusst auch Ungleichheit: Schließlich kann zusätzliches Einkommen auf unterschiedliche Weisen verteilt werden. In einem der bekanntesten Beiträge zum Zusammenhang zwischen Wachstum und Ungleichheit hat der Ökonom Simon Kuznets argumentiert, dass mit steigendem Bruttoinlandsprodukt die Ungleichheit zunächst zunehme, um anschließend wieder zu sinken. Geschrieben im Jahr 1955, stützte er sich dabei auf die beobachtete Entwicklung in Industrieländern, wo die Ungleichheit im 19. und frühen 20. Jahrhundert anstieg und nach dem Ersten Weltkrieg deutlich zurückging.

Heute wissen wir jedoch, dass die Ungleichheit seit den 1980er Jahren wieder gewachsen ist. Abbildung 4 zeigt das durchschnittliche jährliche Einkommenswachstum in Deutschland zwischen 2000 und 2023 für verschiedene Einkommensgruppen. Betrachtet man zunächst die Entwicklung von Einkommen vor Steuern und Sozialtransfers (dunkelrote Säulen), wird deutlich, dass das Wirtschaftswachstum in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem den oberen Einkommensgruppen zugutekam: Für die Einkommensgruppe der obersten 10 Prozent stiegen die Einkommen im Schnitt um über 1,3 Prozent pro Jahr. Demgegenüber stehen Wachstumsraten unter 0,7 Prozent und teilweise sogar um 0 Prozent für den Rest der Bevölkerung.

Laut der neoklassischen Theorie spiegelt Einkommensungleichheit die marktgerechte Vergütung wider. Mit anderen Worten: Haushalte verdienen das, was sie zum Wachstum „beitragen“, entweder durch ihre Arbeit oder durch ihre Investitionen in Kapital, die dann Lohn- beziehungsweise Kapitaleinkommen generieren. Im ökonomischen Jargon spricht man hier von der Grenzertragstheorie. Löhne, die die wichtigste Einkommensquelle in den unteren Einkommensgruppen sind, werden demnach durch den Beitrag der Arbeitnehmer*innen zum Unternehmensprofit bestimmt. Vor diesem Hintergrund lautet eine weitverbreitete Hypothese, dass der Anstieg in der Einkommensungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten dadurch zu erklären ist, dass auch die „Produktivitätsschere“ zwischen geringer und besser verdienenden Arbeitnehmer*innen aufgrund von technischem Fortschritt und Globalisierung weiter auseinander gegangen ist.

Eine Vielzahl an Studien zeigt jedoch, dass die Grenzertragstheorie zu kurz greift. Vor allem bei Führungskräften und Topverdiener*innen im Finanzsektor lassen sich steigende Gehälter und Boni nicht alleine durch Produktivitätsgewinne erklären. So verdienen Geschäftsführer*innen in Großbritannien heute im Schnitt 113-mal so viel wie ihre Angestellten – gegenüber dem 20-Fachen in den 1970er Jahren; in Deutschland ist der Anstieg ähnlich, in den USA noch drastischer. Zudem spricht die Beobachtung, dass die Verteilung von Einkommen und Vermögen sich stark zwischen Ländern unterscheidet, die ansonsten ähnliche Technologie, Produktivität und Pro-Kopf-Einkommen aufweisen, gegen die Grenzertragstheorie.

Eine weitere zentrale neoklassische Idee ist die Trickle-Down-Theorie. Diese besagt, dass Wachstum langfristig allen zugutekommt, weil Einkommenszuwächse in den oberen Gehaltsgruppen Investitionen stimulieren, die schließlich auch in ärmeren Einkommensgruppen mehr Beschäftigung und höhere Einkommen nach sich ziehen. Diese Idee wird häufig als Rechtfertigung zum Beispiel für Steuerentlastungen von Spitzenverdiener*innen genutzt. Tatsächlich aber ist das Phänomen der von oben „herabrieselnden“ Wachstumsprofite in der Realität kaum zu beobachten.

Anders als von der neoklassischen Theorie unterstellt, ist die Einkommensverteilung vor Steuern und Transfers kein natürliches Ergebnis, sondern wird von politischen und ökonomischen Institutionen entscheidend geprägt. Marktinstitutionen wie der Mindestlohn, die Zinspolitik von Zentralbanken, die Struktur des Bildungssystems oder die Ausübung von Monopolmacht haben großen Einfluss auf die Einkommensverteilung. Zentral ist zudem die Gestaltung von Steuern und Transfers. Wie in Abbildung 4 zu sehen ist, milderten diese die ungleiche Verteilung des Wachstums in Deutschland zwar ab, konnten sie aber bei Weitem nicht verhindern. So stiegen die Einkommen der unteren 80 Prozent nach der staatlichen Umverteilung (hellrote Säulen) lediglich um 0,5 bis 0,6 Prozent pro Jahr, während die der obersten 10 Prozent weiterhin um deutlich mehr als 1 Prozent wuchsen – sodass die Ungleichheit insgesamt letztlich weiter zunahm.

Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist, dass die wohlhabendsten Haushalte in Deutschland ihre Einkommen überwiegend aus Vermögen beziehen, während die ärmere Hälfte der Bevölkerung kaum über nennenswerte Vermögenswerte verfügt. Vermögen wird hierzulande nur schwach besteuert – sowohl im internationalen Vergleich als auch gegenüber Arbeitseinkommen: Während die Einkommensteuer progressiv bis zum Spitzensteuersatz von 42 Prozent ausgestaltet ist, werden Kapitalerträge lediglich mit einem pauschalen Satz von 25 Prozent besteuert. Seit 1997 wird zudem keine Vermögensteuer mehr erhoben. Auch Erbschaften – heute die wichtigste Quelle von Vermögen – sind nur gering belastet. Zudem ist die Erbschaftsteuer in der Spitze sogar regressiv: So lag die durchschnittliche Steuerbelastung bei der Übertragung von Multi-Millionen- und Milliardenvermögen zwischen 2021 und 2023 bei lediglich 2,9 Prozent, während kleinere steuerpflichtige Erbschaften und Schenkungen im Schnitt mit 9 Prozent besteuert wurden.

Zusammenhang mit Umweltzerstörung

Wachstum und Ungleichheit stehen zudem in direkter Wechselwirkung mit der fortschreitenden Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen – und damit mit einer der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Wachstum beeinflusst Ungleichheit nicht nur über die direkte Verteilung der erzielten Einkommen, sondern auch über seine ökologischen Folgen, die teilweise zeitlich verzögert und räumlich versetzt wirken. Zugleich sind ökonomische Ungleichheiten eng mit der Verantwortung für Umweltschäden verknüpft.

Mit Blick auf Einkommensunterschiede zwischen Ländern wird geschätzt, dass die menschengemachte Erderwärmung die Kluft zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern der Welt zwischen 1961 und 2010 um etwa 25 Prozent vergrößert hat. Aktuelle Studien zeigen, dass diese Ungleichheit weiter zunimmt, da ärmere Länder und Regionen überproportional von Hitze, Dürre, Überschwemmungen und Veränderungen in der Landwirtschaft betroffen sind.

Auch innerhalb von Ländern tragen die Einkommensschwachen die größten Lasten der Klimakrise: Sie arbeiten nicht nur häufiger in wetteranfälligen Sektoren wie Landwirtschaft oder Bau, sondern leben auch häufiger in Regionen oder Wohnanlagen, die stärker von Umweltrisiken betroffen sind. Zum Beispiel ist dokumentiert, dass die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 besonders einkommensschwächere Haushalte betraf. Schließlich spiegelt sich ökonomische Ungleichheit auch direkt in den Mitteln wider, die Haushalten zur Verfügung stehen, um sich gegen Schäden abzusichern oder Verluste durch Naturkatastrophen aufzufangen.

Während die Umweltfolgen von Wachstum ärmere Haushalte am stärksten treffen, sind die oberen Einkommensgruppen überdurchschnittlich für diese Folgen verantwortlich. So stammen mehr als 80 Prozent der globalen Emissionen aus Hocheinkommensländern, obwohl dort weniger als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt. In Deutschland verursacht eine Person aus dem obersten Prozent durch Konsum 2,2-mal so viele Treibhausgasemissionen wie jemand aus der unteren Hälfte der Bevölkerung; berücksichtigt man Emissionen, die im Zusammenhang mit Vermögensbeständen entstehen, also etwa aus privat kontrollierten Produktionsprozessen, sind es sogar über 11-mal so viele.

Fazit

Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass es den häufig behaupteten Zielkonflikt zwischen Wachstum und Ungleichheitsbekämpfung – eine Idee, die auch heute noch die wirtschaftspolitische Debatte prägt – gar nicht gibt. Im Gegenteil: Empirische Befunde legen nahe, dass größere Gleichheit das Wirtschaftswachstum fördert, während es durch geringe soziale Mobilität und politische Instabilität gebremst wird. Umgekehrt führt Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig zu größerer Gleichheit. Es kann Ungleichheit sowohl verstärken als auch reduzieren – abhängig von seiner Verteilungsstruktur: Die Frage der Verteilung ist im Kern eine politische, die nicht nur vom Steuer- und Transfersystem abhängt, sondern auch von Arbeitsmarktregulierungen und öffentlichen Ausgaben wie jene für Bildung.

Die andauernde Umweltzerstörung verdeutlicht darüber hinaus, dass Wirtschaftswachstum als oberstes Politikziel nicht ausreicht, um „Wohlstand für alle“ zu schaffen. Will man diesem Ziel näher kommen, gilt es auch andere Aspekte menschlichen Wohlergehens zu berücksichtigen – etwa soziale Stabilität und eine intakte Umwelt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das Nettonationaleinkommen entspricht dem Bruttoinlandsprodukt (BIP), aber zieht Abschreibungen (den Wertverlust von Kapital) ab und addiert Netto-Einkünfte aus dem Ausland. Es rechnet dabei nur monetäre Einkommen ein und sollte daher wie das BIP nicht als direktes Wohlstandsmaß gesehen werden.

  2. Absolute Einkommen und Vermögen werden in allen Abbildungen inflationsbereinigt ausgedrückt (Basisjahr: 2024).

  3. Vgl. Dorothee Spannagel/Jan Brülle, Ungleiche Teilhabe: Marginalisierte Arme – verunsicherte Mitte. WSI-Verteilungsbericht 2024, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung, WSI Report 98/2024.

  4. Vgl. Thilo N.H. Albers/Charlotte Bartels/Moritz Schularick, Wealth and Its Distribution in Germany, 1895–2018, Ifo Institut, CESifo Working Paper 9739/2022.

  5. Vgl. Martyna Linartas, Unverdiente Ungleichheit: Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann, Hamburg 2025.

  6. Vgl. Joseph E. Stiglitz, Inequality and Economic Growth, in: The Political Quarterly S1/2015, S. 134–155.

  7. Vgl. Michał Kalecki, Theory of Economic Dynamics, London–New York 2013; Joan Robinson, Essays in the Theory of Economic Growth, London–Basingstoke 1962.

  8. Vgl. Gilles Saint Paul/Thierry Verdier, Inequality, Redistribution and Growth: A Challenge to the Conventional Political Economy Approach, in: European Economic Review 3–5/1996, S. 719–728.

  9. Vgl. James A. Mirrlees, An Exploration in the Theory of Optimum Income Taxation, in: The Review of Economic Studies 2/1971, S. 175–208.

  10. Vgl. Julia Baarck/Moritz Bode/Andreas Peichl, Rising Inequality, Declining Mobility: The Evolution of Intergenerational Mobility in Germany, CESifo Working Paper 12058/2025.

  11. Vgl. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Bildung auf einen Blick 2025: OECD Indikatoren, Paris 2025.

  12. Vgl. Majed Dodin et al., Social Mobility in Germany, in: Journal of Public Economics 232/2024, Art. 105074.

  13. Vgl. Statistisches Bundesamt, Jedes siebte Kind in Deutschland armutsgefährdet, Pressemitteilung, 1.7.2024.

  14. Es wird geschätzt, dass ein Anteil 45 Prozent des globalen Wachstums seit 1980 auf Bildung zurückzuführen ist. Vgl. Amory Gethin, Revisiting Global Poverty Reduction: Public Goods and the World Distribution of Income, 1980–2022, World Inequality Lab, Working Paper 24/2023.

  15. Vgl. Eli G. Rau/Susan Stokes, Income Inequality and the Erosion of Democracy in the Twenty-First Century, in: Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) 1/2025, Externer Link: https://doi.org/10.1073/pnas.2422543121.

  16. Vgl. Martin Gilens/Benjamin I. Page, Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens, in: Perspectives on Politics 3/2014, S. 564–581.

  17. Vgl. Daron Acemoglu et al., Democracy Does Cause Growth, in: Journal of Political Economy 1/2019, S. 47–100.

  18. Vgl. Hanne Albig et al., Wie steigende Einkommensungleichheit das Wirtschaftswachstum in Deutschland beeinflusst, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, DIW-Wochenbericht 10/2017.

  19. Vgl. Clemens Fuest/Florian Neumeier/Daniel Stöhlker, Ungleichheit und Wirtschaftswachstum: Warum OECD und IWF falsch liegen, in: Ifo Schnelldienst 10/2018, S. 22–25.

  20. Vgl. Federico Cingano, Trends in Income Inequality and Its Impact on Economic Growth, OECD Social, Employment and Migration Working Papers 163/2014.

  21. Kristalina Georgieva, The Economic Possibilities for my Grandchildren, IMF Managing Director’s Keynote Speech at King’s College, Cambridge 14.3.2024, Externer Link: https://www.imf.org/en/News/Articles/2024/03/08/sp031424-kings-college-cambridge-kristalina-georgieva (eigene Übersetzung).

  22. Vgl. Simon Kuznets, Economic Growth and Income Inequality, in: American Economic Review, 1/1955, S. 1–28.

  23. Vgl. John B. Clark, The Possibility of a Scientific Law of Wages, in: Publications of the American Economic Association 1/1889, S. 39–69.

  24. Vgl. Xavier Gabaix/Augustin Landier, Why Has CEO Pay Increased so Much?, in: The Quarterly Journal of Economics 1/2008, S. 49–100; Sherwin Rosen, The Economics of Superstars, in: The American Economic Review 5/1981, S. 845–858.

  25. Vgl. Michael C. Jensen/Kevin J. Murphy, Performance Pay and Top-Management Incentives, in: Journal of Political Economy 2/1990, S. 225–264; Thomas Philippon/Ariell Reshef, Wages and Human Capital in the US Finance Industry: 1909–2006, in: The Quarterly Journal of Economics 4/2012, S. 1551–1609.

  26. Vgl. Michael Aldous/John Turner, The CEO: The Rise and Fall of Britain’s Captains of Industry, Cambridge 2025.

  27. Vgl. Thomas Piketty, Das Kaptial im 21. Jahrhundert, München 2014.

  28. Vgl. David Hope/Julian Limberg, The Economic Consequences of Major Tax Cuts for the Rich, in: Socio-Economic Review 2/2022, S. 539–559; Sebastian Gechert/Philipp Heimberger, Do Corporate Tax Cuts Boost Economic Growth?, in: European Economic Review Bd. 147/2022, Art. 104157.

  29. Vgl. Steven K. Vogel, The Regulatory Roots of Inequality in America, in: Journal of Law and Political Economy 2/2021, S. 272–300.

  30. Vgl. Stefan Bach/Charlotte Bartels/Theresa Neef, The Distribution of National Income in Germany, 1992–2019, DIW Discussion Paper 2102/2024.

  31. Vgl. Kira Baresel et al., Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten, DIW Wochenbericht 5/2021, S. 63–71; Julia Jirmann, Milliardenvermögen steuerfrei erben – die Verschonungsregel machts möglich, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2025.

  32. Vgl. Noah S. Diffenbaugh/Marshall Burke, Global Warming Has Increased Global Economic Inequality, in: PNAS 20/2019, S. 9808–9813.

  33. Vgl. Adrien Bilal/Diego R. Känzig, The Macroeconomic Impact of Climate Change: Global vs. Local Temperature, National Bureau of Economic Research, NBER Working Paper 32450/2024.

  34. Vgl. Martino Gilli et al., Climate Change Impacts on the Within-Country Income Distributions, in: Journal of Environmental Economics and Management Bd. 127/2024, Art. 103012; Elisa Palagi et al., Climate Change and the Nonlinear Impact of Precipitation Anomalies on Income Inequality, in: PNAS 43/2022, Externer Link: https://doi.org/10.1073/pnas.2203595119.

  35. Vgl. Moritz Odersky/Max Löffler, Differential Exposure to Climate Change? Evidence from the 2021 Floods in Germany, in: The Journal of Economic Inequality 3/2024, S. 551–576.

  36. Vgl. Daniel Osberghaus, Poorly Adapted but Nothing to Lose? A Study on the Flood Risk–Income Relationship with a Focus on Low-Income Households, in: Climate Risk Management Bd. 31/2021, Art. 100268.

  37. Vgl. Hannah Ritchie, Global Inequalities in CO2 Emissions, 31.8.2023, Externer Link: https://ourworldindata.org/inequality-co2.

  38. Vgl. Lucas Chancel/Yannic Rehm, The Carbon Footprint of Capital: Evidence from France, Germany and the US Based on Distributional Environmental Accounts, World Inequality Lab, Working Paper 26/2023.

Lizenz

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ist Environmental Coordinator am World Inequality Lab an der Paris School of Economics (PSE). Sie promoviert an der Sciences Po in Paris.

ist Ökonom am World Inequality Lab an der Paris School of Economics (PSE).