Darf ein Rechtsstaat Verbrechen begehen? Natürlich darf er das nicht. Ein Rechtsstaat darf nicht gegen Verfassung, Recht und Gesetz verstoßen. Und wenn er es trotzdem tut? Darf der Staat dann denjenigen bestrafen, der das als Whistleblower aufdeckt und öffentlich macht? Muss man den Mund halten, wenn man von schweren Missständen erfährt – jedenfalls dann, wenn man ein Staatsbediensteter ist? Und wann darf man wie den Mund aufmachen – und wem gegenüber? Das sind die wichtigen Fragen, um die es beim Whistleblowing geht: Gibt es ein Recht, rechtswidrige Zustände öffentlich zu machen?
Illegale Staatsgeheimnisse
Edward Snowden, ehemaliger technischer Mitarbeiter von CIA und NSA, hat aufgedeckt, dass US-amerikanische und britische Geheimdienste die halbe Welt abhören, dass sie dazu auch Botschaftsgebäude nutzen, dass sie für Spionagezwecke die internationalen Kommunikationsverbindungen unter ihre Kontrolle gebracht haben – und dies alles unter Verstoß gegen internationales Recht, Pakte und Vereinbarungen. Weil Snowden diese Verstöße öffentlich gemacht hat, wird er von der Staatsgewalt gejagt. Er hat der Weltgesellschaft Einblicke in die neue Welt der Datenspionage ermöglicht und in eine neue, umfassend überwachte Internetwelt. Er berichtete von einer digitalen Kosmologie, von einer radikalen und globalen Überwachungstechnik, die auf Internetanbieter und auf soziale Medien umfassend zugreift und in deren Bestände eingreift, die aber ebenso in der Lage ist, alles, was im Internet passiert, in Echtzeit zu protokollieren und zu speichern. Diese digitale Inquisition tut körperlich nicht weh, sie ist einfach da. Sie macht die Kommunikation unfrei. Snowden hat diese digitale Inquisition inquisitioniert. Die Inquisition hat sich an ihm gerächt. Sie hat zurückgeschlagen und seine bürgerliche Existenz vernichtet.
Drei Delikte werden ihm vorgeworfen: Diebstahl von Regierungseigentum; widerrechtliche Weitergabe militärischer Informationen; Weitergabe nachrichtendienstlicher Informationen an Unbefugte. Er hätte unbedingt schweigen müssen, sagen die US-Behörden; allenfalls hätte er sich an den Kongress wenden dürfen. Er habe Staatsgeheimnisse verraten.
Das große Aber lautet: Sind illegale Geheimnisse wirklich Staatsgeheimnisse, die strafrechtlichen Schutz verdienen und denjenigen zum Straftäter machen, der sie aufdeckt? Ist der Verbrecher der, der ein Staatsverbrechen anzeigt – und nicht der, der es verübt? So jedenfalls möchten Regierungen und Sicherheitsbehörden es sehen; und so wird das Strafrecht gern ausgelegt. Recht ist das aber nicht. In Deutschland jedenfalls ist es anders geschrieben: Tatsachen, die gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstoßen, sind keine Staatsgeheimnisse; so steht es in Paragraf 93 Absatz 2 des deutschen Strafgesetzbuchs. Zwar wird diese klare Vorschrift im Anschluss wieder aufgeweicht, doch darf der Staat nicht alles, was er tut, mit der Firewall des Strafrechts umgeben. Dann würden nämlich auch illegale Geheimnisse zu geschützten Geheimnissen; Staatsschutz nennt man das. Auch im US-Strafrecht gibt es den Rechtfertigungsgrund der Notwehrhilfe, also der Verteidigung anderer ("defense of others"). Ist Snowden ein Nothelfer? War Aufdeckung nicht gerechtfertigt oder zumindest entschuldigt?
Das US-Militärgericht hat das nicht geprüft, als es den früheren Soldaten Bradley Manning, jetzt Chelsea Manning, zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt hat. Manning hatte Videos von der US-Kriegsführung im Irak an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weitergegeben – unter anderem ein 39 Minuten langes Video, das unter dem Titel "Collateral Murder" bekannt wurde und auf dem man ein Kriegsverbrechen sieht: Die Besatzung eines Apache-Kampfhubschraubers erschießt mittels Bordwaffen zwölf Zivilpersonen auf einer Straße in Neu-Bagdad. Manning büßte für die Aufdeckung mit folterartiger Untersuchungshaft, mit hoher Strafe und der unehrenhaften Entlassung aus der Armee. Von einer unehrenhaften Entlassung der Todesschützen ist nichts bekannt.
In der 35 Seiten langen Rede vor dem Strafgericht wies Chelsea Manning klar von sich, eine Staatsfeindin zu sein. Sie habe die Dokumente an WikiLeaks gegeben, weil die US-Medien nicht reagierten: "Ich halte diese Dokumente nach wie vor für einige der wichtigsten Dokumente unserer Zeit. Ich glaubte, die Depeschen würden uns nicht schaden, aber sie würden peinlich sein. Ich glaubte, dass die Öffentlichkeit, insbesondere die amerikanische Öffentlichkeit, eine allgemeine Debatte über das Militär und unsere Außenpolitik im Irak und in Afghanistan führen wird, wenn sie denn einmal diese Dokumente lesen könnte. Es wäre damit eine Chance für unsere Gesellschaft gegeben, sich Rechenschaft über diese Form des Gegen-Terrorismus abzulegen, in dem wir die menschliche Seite der Bewohner in diesen Ländern Tag für Tag missachten." Das Gericht verurteilte Manning 2013 zu 35 Jahren Freiheitsstrafe; US-Präsident Barack Obama erließ ihr am 17. Januar 2017 einen Großteil der Strafe auf dem Gnadenweg.
Sind Whistleblower also auf Gnade angewiesen? Gibt es kein Recht, das Recht zu verteidigen, wenn es von denen, die eigentlich dazu verpflichtet sind, keiner tut? Hätten also auch die Informanten, die seinerzeit dem US-Journalisten Seymour Hersh vom Massaker in My Lai berichteten, bestraft werden müssen? Und hätte der für diese Aufdeckung mit dem Pulitzerpreis bedachte Hersh auch bestraft werden müssen? US-Soldaten hatten in diesem Dorf in Vietnam Frauen vergewaltigt und fast alle Einwohner ermordet. Die öffentlichen Debatten darüber haben mit zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen. War das falsch? Wäre "My Lai" eigentlich geschütztes Staatsgeheimnis gewesen?
Recht und Unrecht
Es gibt darauf eine klare Antwort: Schutzwürdig kann und darf in einem demokratischen Verfassungsstaat nur ein Dienst- oder ein Staatsgeheimnis sein, das mit dem geltenden Recht im Einklang steht. Das Recht darf nicht Unrecht schützen. Der große sozialdemokratische Jurist Adolf Arndt hat das 1963 in der "Neuen Juristischen Wochenschrift" schön beschrieben. Damals wurde in der Bundesrepublik erstmals, wenn auch nicht unter diesem Namen, über einen Whistleblower-Fall diskutiert. Werner Pätsch, ein kleiner Angestellter des Verfassungsschutzes, hatte enthüllt, dass dieser Geheimdienst deutsche Staatsbürger mithilfe der Alliierten verfassungswidrig überwachte. Pätsch war sozusagen ein deutscher Vorfahr von Edward Snowden. Ausgehend von diesem Fall schrieb damals Arndt: "In einer Demokratie gibt es an Staat nicht mehr, als seine Verfassung zum Entstehen bringt. Deshalb ist es weder zulässig, zwischen dem Schutz des Staates und dem Schutz der Verfassung zu unterscheiden, weil dieser Staat nur in seiner Verfassung schützbar ist; noch kann es ein rechtliches Erfordernis geben, etwas gegen das Recht zu sichern (zum Beispiel durch Geheimhaltung), was nach der verfassungsmäßigen Ordnung Unrecht ist." Der Aufsatz trägt den Titel: "Demokratische Rechtsauslegung am Beispiel des Begriffs ‚Staatsgeheimnis‘".
Die Lektüre hätte sich für den damaligen SPD-Bundesjustizminister Heiko Maas empfohlen, als er 2014 in seiner rechtlichen Beurteilung des Falls Snowden weit hinter Arndt zurückfiel. Snowden habe nun einmal, so Maas, durch seine Enthüllungen Strafgesetze verletzt – in seinem Fall die der USA. Aber auch in Deutschland, so Maas weiter, wäre ein solcher Geheimnisverrat strafbar. Diese wenig demokratische Betrachtungsweise floss dann auch in die Maas’sche Beurteilung von Snowdens Asylbegehren ein: Asyl für Snowden sei zwar eine sympathische Vorstellung, aber ohne Substanz. Substanz fehlte aber vielleicht eher dem, der so argumentierte. Stattdessen empfahl Maas Snowden ungerührt die Rückkehr in die USA.
Die Snowden-Kritiker argumentieren so, wie 1963 im Verfahren gegen Pätsch der Bundesanwalt Walter Wagner argumentiert hat. Der kümmerte sich nicht darum, dass der Verfassungsschutz alliierte Vorbehaltsrechte illegal genutzt und Hunderte Bundesbürger grundrechtswidrig abgehört hatte – er sah Sachbearbeiter Pätsch als strafbaren Bösewicht, der sich, nachdem er sich beim Referatsleiter vergeblich beklagt hatte, an den Rechtsanwalt Josef Augstein, den Bruder des "Spiegel"-Herausgebers Rudolf Augstein, gewandt hatte: "Wenn es gestattet wäre", so der Bundesanwalt, "unbestraft Amtsgeheimnisse an den Mann zu bringen, dann wäre die Folge eine Zerstörung auch der Staatsordnung".
So reden die, die Snowden, Manning und Pätsch als Kriminelle betrachten. So hatten es schon die Reichsrichter gesehen, die 1931 den späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky hinter Gitter brachten. Pätschs Richter haben 1963 anders geredet; sie sprachen ihn vom Landesverrat frei und verurteilten ihn nur wegen "Verletzung der Amtsverschwiegenheit" zu vier Monaten mit Bewährung; in schwerwiegenden Fällen sei, so hieß es im Urteil, die unmittelbare öffentliche Publikation zu akzeptieren. Leider ist diese Rechtsprechung nie mehr präzisiert worden.
Ossietzky, Herausgeber der "Weltbühne", hatte dort 1929 einen Aufsatz mit dem Titel "Windiges aus der Luftfahrt" veröffentlicht, in dem über die illegale "Schwarze Reichswehr" und deren heimlichen Aufbau berichtet wurde. Dieser Publikation wegen wurde Ossietzky ebenso wie Walter Kreiser, der Autor des Aufsatzes, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Begründung: Der einzelne Staatsbürger sei nicht berechtigt, gesetzwidrige Zustände öffentlich zu machen, von denen er wisse, dass diese im Interesse des Wohls seines Vaterlands geheim zu halten seien. Das Urteil verursachte internationale Empörung, zumal in der US-Presse. Die Empörung trug dazu bei, dass Ossietzky der Friedensnobelpreis für 1935 verliehen wurde.
Als Ossietzky am 10. Mai 1932, in den letzten Monaten der Weimarer Republik, in Berlin-Tegel seine Haft wegen Landesverrats antreten musste, verabschiedeten ihn in einem nahegelegenen Wäldchen seine Freunde, darunter Arnold Zweig, Erich Mühsam, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger, Hermann Kesten und Roda Roda. Ernst Toller hielt eine kurze, bittere Ansprache, in der er sich auf ein "nun wieder aktuell gewordenes Wort" des Dichters Christoph Wieland bezog. Es lautet so: "Wer sich erkühnen wird, Wahrheiten zu sagen, an deren Verheimlichung den Unterdrückern gelegen ist, wird Ketzer und Aufrührer heißen und als Verbrecher bestraft werden." Die Vorhersage stammt aus dem Jahr 1812. Sie stimmt immer noch.
Aufdecker und Aufrührer
Im demokratischen Rechtsstaat sollte es anders sein. Dann würde es auch Julian Assange nicht so dreckig ergehen. Was er getan hat? Er hat die Wahrheit veröffentlicht. Er hat US-Kriegsverbrechen offenbart. Er hat als Gründer von WikiLeaks in Zusammenarbeit mit klassischen Medien geleakte Militärprotokolle veröffentlicht, die unter anderem Kriegsverbrechen der USA während der Kriege in Afghanistan und im Irak belegen. Diese Protokolle und Akten zeigen, wie Folter und Hinrichtungen dort zur Praxis wurden. Das von ihm via WikiLeaks publizierte Material enthält auch das berüchtigte Video, auf dem zu sehen ist, wie Piloten eines US-Kampfhubschraubers auf einer Straße in Bagdad unschuldige Zivilisten niedermähen, darunter zwei Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters. Man wird mit diesem Video Zeuge der furchtbaren Details: "He is wounded", hört man einen amerikanischen Soldaten sagen. "I’m firing." Und dann wird gelacht. Ein Minibus kommt angefahren, der die Verwundeten retten will. Der Fahrer hat zwei Kinder dabei. Man hört die Soldaten sagen: "Selber schuld, wenn der Kinder aufs Schlachtfeld bringt." Und dann wird gefeuert. Verfolgt wurden und werden aber nicht die Kriegsverbrecher, nicht die feixenden Todesschützen in Uniform. Verfolgt wurden und werden die, die deren Taten publizieren.
Der Fall Assange ist zum Exempel geworden, zum Exempel auch für die Bedrohung der Pressefreiheit. Behörden werfen ihm "Verbreitung geheimer Informationen" vor, Verschwörung und Spionage. Aus Aufdeckung wird also Spionage, aus vorbildlichem Journalismus wird Verschwörung. Deswegen wird Assange mit wütender Nachhaltigkeit verfolgt, deswegen wurde und wird WikiLeaks von den US-Behörden als Terrororganisation bezeichnet. Der angebliche Terror besteht in der Aufdeckung von Terror.
Seit mehr als einem Jahrzehnt versucht Assange verzweifelt, sich dem Zugriff der US-Weltmacht zu entziehen. Er suchte und fand zunächst Zuflucht in der Londoner Botschaft von Ecuador, wurde aber dann dort hinausgeworfen und den britischen Behörden ausgeliefert, die ihn verurteilten und der Auslieferung an die USA nichts entgegenhielten. Dort erwarten ihn bis zu 175 Jahre Haft, Haft also bis zum Tode. Hätte Julian Assange Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte in der Ukraine öffentlich gemacht, wäre alles ganz anders: Er würde in den USA und in Europa als Held der Pressefreiheit gefeiert. Wäre er dann von Russland inhaftiert worden, würde man ihn im Westen als Märtyrer der Menschenrechte preisen. Aber so ist es nicht.
Für Assange, den Pionier der digitalen Aufklärung, ergreift keine EU-Kommissionspräsidentin Partei, kein EU-Außenminister fordert seine Freilassung. Auch Annalena Baerbock hat dies nur so lange getan, wie sie noch nicht deutsche Außenministerin war. Diejenigen, die sonst so viel von Menschenrechten reden, sind ziemlich still. Stattdessen sind es private Gruppen und Initiativen, Journalisten- und Publizistenorganisationen, die sich hinter Assange stellen. Im Juni 2022 ist Julian Assange im Funkhaus des Deutschlandradios in Köln mit dem Günter-Wallraff-Preis der "Initiative Nachrichtenaufklärung" ausgezeichnet worden; den Preis nahm seine Ehefrau entgegen. Birgit Wentzien, Chefredakteurin des Deutschlandfunks, betonte in ihrer Laudatio, dass Assange die veröffentlichten Dokumente von seinen Quellen zugespielt wurden – und er sie nicht etwa gestohlen hat. Sollte Julian Assange verurteilt werden, wäre das, so Wentzien, "ein Zeichen der Abschreckung für Reporterinnen und Reporter auf der ganzen Welt".
Doch nicht erst ein künftiges Urteil wäre ein Zeichen der Abschreckung. Die gesamte bisherige, unnachgiebige, über zehn Jahre andauernde Verfolgung des Mannes ist Abschreckung im Fortsetzungszusammenhang. Es ist nicht nur der Mensch Assange in Gefahr, es ist der Schutz von Informanten und Whistleblowern in Gefahr, es ist die Pressefreiheit in Gefahr. An Assange wird ein Exempel der Abschreckung statuiert. Über einem aufklärenden, investigativen Journalismus schwebt künftig ein Damoklesschwert. "Denkt an Assange", steht drohend auf der Klinge. Es geht nicht darum, ob man diesen Pionier der Aufklärung besonders sympathisch findet oder nicht. Es geht um die Pressefreiheit in toto. Jeder, dem sie lieb und teuer ist, muss sich für diesen Mann einsetzen.
Es gibt freilich Leute, die abwiegeln und beschwichtigen. Sie sagen, die Pressefreiheit sei schon deswegen nicht gefährdet, weil Julian Assange alles Mögliche sei, aber kein Journalist. Er sei gewiss ein Politaktivist, ein genialer Computerspezialist, ehemaliger Computerhacker, Programmierer, Gründer und Sprecher von WikiLeaks – aber eben nicht wirklich ein Journalist. Er sei nicht einschlägig ausgebildet, er habe keine Liste von journalistischen Veröffentlichungen vorzuweisen, er habe auch die geleakten Dokumente nicht wirklich ausgewertet, analysiert und schon gar nicht kommentiert. Er habe sie halt veröffentlicht. Aber das ist die Basis und das Kennzeichen für all die Produkte, für die die Pressefreiheit gilt. Journalismus ist keine verspätete Veranstaltung des mittelalterlichen Zunftwesens. Pressefreiheit gilt nicht nur für den, der auf einer Journalistenschule war, und nicht nur für den, der einen Presseausweis in der Tasche hat. Journalist ist in den Tagen des Internets auch der, der ein Forum führen, der eine Plattform betreiben kann. Assange hat dort heikle Informationen publiziert – und auf diese Weise für Aufklärung gesorgt. Er hat sich um die Pressefreiheit verdient gemacht.
Assange mag kein Dreyfus sein. Er ist ein Egomane, ein Narziss. Und er ist ein armes Schwein. Doch zugleich ist er ein Märtyrer. Märtyrer sind in ihrer Rigorosität, oft auch in ihrer Besessenheit, nicht unbedingt sympathische Menschen. Aber die Grund- und Menschenrechte gelten selbstredend auch und erst recht für sie. Assange mag ein seltsamer Mensch sein, ein Aufdeckungsbesessener, der geheime Papiere von hohem allgemeinen Interesse publiziert hat, aber im Überlegenheitsrausch nicht wenige Fehler gemacht hat. Die mit der Veröffentlichung der E-Mails von Hillary Clinton verbundene Einflussnahme auf die US-Präsidentschaftswahl 2016 war vermutlich ein solcher. Alan Rusbridger, der frühere Chefredakteur des "Guardian", hat viel mit Assange zusammengearbeitet und ihn oft kritisiert. Er sagt aber auch über ihn: Er sei der Mann gewesen, der eine Transparenzbewegung im digitalen Zeitalter ausgelöst habe, noch bevor die etablierte Presse gelernt hatte, mit Massen von Enthüllungsmaterial umzugehen. Assange war also ein Pionier, ein genialer Whistleblower. Wer ihn verteidigt, verteidigt auch die Pressefreiheit – weil die Pressefreiheit stirbt, wenn man die Informanten der Presse vernichtet. Wenn das Aufdecken von Verbrechen selbst zum Verbrechen wird, ist die Pressefreiheit in höchster Gefahr.
Wo Gefahr ist …
Mit dem Schicksal von Julian Assange steht auch die Zukunft des Whistleblowings auf dem Spiel. Ohne die Zivilcourage derer, die Missstände aufdecken, kann eine Gesellschaft nicht leben. Die Europäische Union hat dies erkannt und 2019 eine Richtlinie zum Whistleblower-Schutz erlassen. Der Einsatz der EU für Julian Assange ist ein Prüfstein, ob und wie ernst es ihr damit ist. Bislang spürt man wenig von diesem Ernst.
Es gibt Sätze, die wie ewige Wahrheiten klingen und auf deren Weisheit man sich nur zu gerne verlassen möchte. Einer dieser tröstlichen Sätze stammt von Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist", hat er geschrieben, "wächst das Rettende auch". Das Problem ist, dass es oft so ungeheuer lange dauert, bis das Rettende wächst. Jan Hus, ein Whistleblower des 15. Jahrhunderts, hat darauf vergeblich gewartet. Gewiss, das ist lange her. Aber auch Edward Snowden und Julian Assange, Whistleblower des 21. Jahrhunderts, warten bisher vergeblich. Hus wurde 1415 auf dem Konzil von Konstanz verbrannt, weil er Missstände in der Kirche angeprangert hat. Assange und Snowden werden nicht verbrannt, aber verketzert. Ob die Whistleblower-Richtlinie der EU daran etwas ändern wird? Diese Richtlinie gewährt zwar nicht den Whistleblowern der ganzen Welt Asyl; sie schreibt Leuten wie Snowden keinen globalen Schutzbrief. Aber sie könnte immerhin das rechtliche Bewusstsein dafür schärfen, dass ein Hinweisgeber, der in der EU gemeinschädliche Sauereien anzeigt, kein Verräter ist und Schutz braucht. Die Richtlinie schafft die Möglichkeiten, Repressalien des Arbeitgebers gegen Whistleblower abzuwehren. Sie ermöglicht es, dass Skandale wie die in den "Panama" und "Paradise Papers" aufgedeckten künftig publiziert werden können, ohne dass die Hinweisgeber fürchten müssen, als Kriminelle behandelt zu werden. Das ist nicht wenig.
Und es gibt ja nicht nur die prominenten Whistleblower. Es gibt auch die vielen kleinen Helden des Alltags – Leute wie den Lkw-Fahrer Miroslaw Strecker, der 2007 die Behörden informierte, als er verdorbene Schlachtabfälle zur Lebensmittelfabrik fahren sollte. Es wird künftig nicht mehr so sein können, dass diese Menschen zwar von den Zeitungen gefeiert, aber von ihren Arbeitgebern gefeuert werden, weil sie "Betriebsgeheimnisse" verraten haben. Künftig ist klar: Rechtsverletzungen sind nicht als Betriebsgeheimnisse geschützt. Das steht zwar schon so ähnlich im "Geschäftsgeheimnisgesetz", das der Bundestag im Frühjahr 2019 verabschiedet hat. Aber in diesem Gesetz werden keine schützenden Folgerungen daraus gezogen. Von einem Bundesverdienstkreuz, das einem Whistleblower verliehen wird, kann er im Fall seiner Kündigung nicht abbeißen. Einem Hinweisgeber, der von seinem Arbeitgeber schikaniert wird, hilft kein Orden. Er braucht ein Recht, das ihm recht und finanzielle Sicherheit gibt.
Andererseits: Es gibt auch Pseudo-Whistleblower, Leute, die sich nur als solche gerieren, es aber nicht sind und auf Loyalität und Kollegialität pfeifen. Das Recht darf solch bösartige Denunzianten und rachsüchtige Querulanten nicht animieren. Das heißt: Es muss nicht nur Whistleblower schützen, es muss auch die Leute zügeln, die die Whistleblowerei missbrauchen. Das Recht muss also auch Sanktionen gegen Leute vorsehen, die bewusst falschen Verdacht verbreiten und in Schädigungsabsicht Falschanzeigen erstatten. Der Schutz vor diesen Sackpfeifen ist, neben der Konkretisierung des Schutzes der wirklichen Whistleblower, Aufgabe des nationalen Gesetzgebers. Die EU-Richtlinie verlangt allerdings nicht, dass der Whistleblower ausschließlich aus edlen, uneigennützigen Motiven handelt. Es reicht, dass seine Anzeige "geeignet" ist, das öffentliche Interesse zu schützen. Mischmotivationen sind also denkbar.
Die Richtlinie schützt Personen, die gemeinwohlschädliche Verstöße gegen das EU-Recht anprangern; da geht es um Geldwäsche, um Verstöße bei der Unternehmensbesteuerung, um Verstöße beim Datenschutz, beim Umweltschutz, bei der Lebensmittelsicherheit. Es wäre jedoch seltsam, wenn nur die Whistleblower in der Privatwirtschaft geschützt würden. Es darf hier keine Privilegien für Staatsbetriebe geben. Auch die Beamten und Angestellten, die beim Staat arbeiten, brauchen rechtlichen Schutz, wenn sie Amtsmissbrauch, Korruption und Betrug aufdecken.
Für das deutsche Whistleblower-Schutzgesetz gäbe es gute Paten. Leute wie Margrit Herbst. Sie war Amtstierärztin für Fleischhygiene, die nicht einfach zuschauen wollte, wie in ihrem Betrieb Tierkörper trotz BSE-Verdachts zur Weiterverarbeitung freigegeben wurden. Sie wurde, das ist jetzt fast 30 Jahre her, von ihrem Arbeitgeber entlassen. Rehabilitiert ist sie bis heute nicht. Eine Entschädigung für die beschäftigungslose Zeit von der Kündigung bis zum Pensionseintrittsalter hat sie nicht erhalten. Die Richter, die seinerzeit ihren Fall verhandelt haben, raunten von "Treuepflichten" gegenüber dem Arbeitgeber. Ein solches Geraune darf es künftig nicht mehr geben.
Der David des Alten Testaments hatte eine Schleuder, um gegen den Riesen Goliath anzutreten. Whistleblower in der EU haben nun ein Schutzgesetz. Sie sind keine "Ketzer" mehr wie früher, auch keine "Verräter". Sie sind Menschen mit Zivilcourage. Ohne diese Zivilcourage gibt es keine gute Demokratie. Die EU-Richtlinie und die nationalen Whistleblower-Schutzgesetze sind Anti-Duckmäusergesetze. Sie helfen beim aufrechten Gang.
Demokratischer Widerstand
Der Bundespräsident ruft zum Widerstand auf. Ist er verrückt geworden? In seiner "Rede an die Nation" im Herbst 2022 hat Frank-Walter Steinmeier "Widerstandskraft und Widerstandsgeist" beschworen; fünfmal in dieser Rede hat er sich "widerstandskräftige Bürger" gewünscht. Das war und ist deswegen spektakulär, weil "Widerstand" ein Wort ist, das Rechtsextremisten seit geraumer Zeit für sich zu kapern versuchen. Sie berufen sich auf den Widerstandsartikel des Grundgesetzes, um missliebige Politik zu verleumden, um Rassismus, Menschenverachtung und Gewalt zu legitimieren, um Flüchtlingsheime anzuzünden und zum Bruch mit dem "System", also der rechtsstaatlichen Demokratie, aufzufordern. Das ist geschichtsvergessen, das ist verrückt. Der Bundespräsident rückt diese Verrücktheit wieder gerade, indem er Widerstand leistet gegen den Missbrauch des Widerstands. Er versucht zu deklinieren, wie Widerstand in der Demokratie aussieht: Es geht um Widerspruch, Zivilcourage und den aufrechten Gang.
"Widerstandsfähige Bürger", so Steinmeier, "treten ein für ihre Meinungen und äußern ihre Sorgen – aber sie lassen sich nicht vereinnahmen von denen, die unsere Demokratie attackieren. Widerstandskräftige Bürger unterscheiden zwischen der notwendigen Kritik an politischen Entscheidungen – und dem Generalangriff auf unser politisches System. Widerstandskräftige Bürger halten Unsicherheit aus und lassen sich nicht verführen von denen, die einfache Lösungen versprechen." Das alles ist richtig. Aber es fehlt etwas: Es fehlt der Appell, solchen Widerstand zu achten und nicht als Unverstand zu diskreditieren. Auch Politik muss widerstandskräftig sein: Sie muss den demokratischen Widerspruch respektieren.
Das sagt sich leicht, ist aber schwer, wenn es um die großen Themen, wenn es um die Corona- oder die Ukraine-Politik geht. Da gilt ein Einspruch schnell als unverantwortliche Systemkritik und als verfassungsfeindlicher Generalangriff. Diejenigen, die anders denken als die Andersdenkenden, müssen also das Andersdenken achten. Es ist eine Missachtung des geforderten Widerstandsgeistes, wenn demokratische Kritik dadurch verunglimpft wird, dass man ihr vorwirft, sie spiele Extremisten, Putinisten und Corona-Leugnern in die Hände. Widerstand kann auch der Widerstand gegen die eigene Angst vor dem Shitstorm sein, gegen die eigene Bequemlichkeit, gegen das Angepasstsein.
Das Wort "Widerstand", das der Bundespräsident gebraucht, ist ein großes Wort. Der Widerstand gegen Adolf Hitler, nicht zuletzt die Personen des "20. Juli", standen Pate für den Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes, in dem es heißt: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist." Dieser Satz stand nicht von Anfang an im Grundgesetz, er kam erst 1968/69 mit der Notstandsverfassung hinein. In diesem Artikel steckt auch die Aufforderung, es nicht so weit kommen zu lassen, dass es diesen großen Widerstand braucht; dieser Widerstandsartikel ist also zugleich die Aufforderung zum kleinen Widerstand, zum friedlichen Widerstand in der Demokratie, wie Steinmeier ihn sich wünscht. So ein Widerstand à la Steinmeier hat nichts mit Revolution, aber viel mit Evolution zu tun. Er verlangt Geduld, aber nicht Schafsgeduld, sondern geduldige Ungeduld. Er ist eine Kraft, die der Rechtsstaat braucht und von der die Demokratie lebt. Solcher Widerstand ist ein demokratischer Wirkstoff, er ist so etwas wie der Blütenhonig der Demokratie. Man darf ihn nicht zum Gift erklären, nur weil er einem gerade zu klebrig ist.
Für den Einzelnen kann so ein kleiner Widerstand durchaus ein großer sein, weil er nicht selten mit großen Risiken verbunden ist. Die "Whistleblower des Alltags" haben das erlebt und durchlitten: Der erwähnte Lkw-Fahrer Miroslaw Strecker, der die Behörden informierte, als er verdorbene Schlachtabfälle zur Fleischfabrik fahren musste, wurde vom Bundeslandwirtschaftsminister mit einer goldenen Plakette geehrt. Ein stabiler Kündigungsschutz wäre ihm lieber gewesen, denn sein Arbeitgeber, der 150 Tonnen Abfall an Dönerbetriebe weiterverkauft hatte, setzte ihn rechtswirksam vor die Tür. Wenn Insider auspacken, können sie einpacken. Das ist die bittere Lehre aus den vergangenen Jahrzehnten. Das neue Hinweisgeberschutzgesetz will das ändern. Es ist der Versuch, den Widerstand im Alltag zu schützen und zu stärken.
Das neue Recht und die Rede Steinmeiers über den guten Widerstand kommen allerdings spät. Viel zu spät für den Steuerfahnder Klaus Förster, der 1976 illegale Parteispenden aufdeckte und damit die Flick-Parteispendenaffäre auslöste. Förster wurde gemobbt und aus dem Dienst gedrängt. Das neue Recht kommt auch zu spät für Rudolf Schmenger und Marco Wehner. Das waren die hessischen Finanzbeamten, die in den 1990er Jahren die Millionen-Schwarzgelder der hessischen CDU aufgespürt haben, die als "jüdische Vermächtnisse" getarnt waren. In der Folge des Skandals gelangte die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Spitze der CDU. Die Finanzbeamten aber gelangten an den Rand des Wahnsinns; sie wurden mit psychiatrischen Gutachten traktiert, die ihnen eine "paranoid-querulatorische Entwicklung" attestierten.
Das neue Recht kommt auch zu spät für die schon erwähnte Tierärztin Margrit Herbst, die nicht zuschauen wollte, wie ihr Betrieb Tierkörper trotz Seuchenverdachts verarbeitete, und die deshalb entlassen wurde. Auch für den Innenrevisor Erwin Bixler kommt das neue Recht zu spät. Er brachte ein System manipulierter Statistiken bei den Arbeitsämtern zu Fall, wurde deswegen mit schlechten Beurteilungen degradiert, krank und berufsunfähig gemacht. Der Altenpflegerin Brigitte Heinisch ging es ähnlich. Sie prangerte Missstände in ihrem Heim an, wurde gekündigt, klagte vergeblich bei deutschen Gerichten und bekam erst 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte recht. Martin Porwoll, kaufmännischer Leiter einer Großapotheke in Bottrop, deckte auf, dass sein Chef in großem Umfang Krebsmedikamente bis zur Unwirksamkeit verdünnte. Der Apotheker wurde wegen seiner kriminellen Profitgier zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Porwoll stürzte in die Arbeitslosigkeit; Schadenersatz oder Entschädigung hat er nicht erhalten.
So ergeht es Widerständlern, immer wieder und immer noch. Und wie es einem widerständlerischen Whistleblower ergeht, der der ganz großen Politik in die Quere kommt, davon kann Edward Snowden in seinem Moskauer Exil, davon kann Julian Assange im britischen Hochsicherheitsgefängnis ein Lied singen. Es ist das Lied einer traurigen Realität. Diese Realität ist demokratieschädlich. Notwendig ist ein neuer Geist – der Geist des kleinen großen Widerstands gegen das Unrecht. Es wäre gut, wenn sich dieser neue Geist mit den neuen Whistleblower-Gesetzen entfaltete.