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Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht | Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie | bpb.de

Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie Editorial "Politik sollte sich nicht hinter einer wissenschaftlichen Bewertung verstecken". Fünf Fragen zu Wissenschaft, Kommunikation und Politik Demokratie und Expertise. Ambivalenzen und rechtliche Lösungsansätze (Pseudo-)Wissenschaft und Demokratie im Krisenzeitalter Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus. Wie die politische Aufladung wissenschaftlicher Expertise polarisiert Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus Von der Wissenschaftskommunikation zur evidenzbasierten Information Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung

Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht

Alexander Reutlinger Günther Sandner

/ 17 Minuten zu lesen

Bürger*innen sind zunehmend auf wissenschaftliche Kenntnisse angewiesen, um sich gut informiert an politischen Entscheidungen beteiligen zu können. Durch mehr Wissenschaftskompetenz ließe sich daher auch die demokratische Beteiligung stärken.

Wie könnten sich Bürger*innen in stärkerem Maße an politischen Prozessen beteiligen? Diese Frage ist ein Dauerthema in modernen Demokratien. Demokratie, so lautet ein häufig vorgebrachtes Argument, bedeutet nicht allein, Verantwortung und Entscheidungsgewalt zu delegieren, sondern Demokratie bedeutet ebenfalls, mitzureden, mitzugestalten und mitzuentscheiden. Gleichzeitig erfordern politische Entscheidungen in Bezug auf viele aktuelle Fragen und Probleme – etwa im Falle der Klimakrise oder der Covid-19-Pandemie – Informationen und Analysen aus der wissenschaftlichen Forschung und damit verbundene Beratung durch wissenschaftliche Expert*innen. Normativ gesprochen, sollten Entscheidungen in modernen Demokratien sowohl rational begründet (unter anderem durch wissenschaftlichen Input) als auch demokratisch legitimiert (unter anderem durch möglichst breite Beteiligung) sein.

Aber können diese beiden Anforderungen – rationale Begründung und demokratische Legitimität – zugleich erfüllt werden? Wir nehmen im Folgenden an, dass sogenannte pragmatische oder deliberative Modelle der Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft eine überzeugende, positive Antwort anbieten. Solche Modelle sehen eine diskursive Begegnung (Deliberation) unterschiedlicher Gruppen von Expert*innen, Politiker*innen und Bürger*innen vor, die an politischen Entscheidungen beteiligt sein sollten. Pragmatische Modelle sollen durch diese Begegnung rationale Begründung und demokratische Legitimität miteinander verbinden.

Im Folgenden diskutieren wir ein Problem, das sich im Rahmen von pragmatischen Modellen stellt: das Problem der epistemischen Asymmetrie. Wissenschaftliches Wissen ist Expert*innenwissen – ein Wissen, das auf hochgradiger Arbeitsteilung und einer damit einhergehenden Spezialisierung unter Forschenden beruht. Die meisten Bürger*innen verfügen jedoch darüber nicht oder nur in sehr geringem Umfang. Aus diesem Grund gibt es eine epistemische Asymmetrie (eine Wissenslücke) zwischen Expert*innen und Bürger*innen. Wenn politische Entscheidungen auf Expert*innenwissen angewiesen sind, scheint dies zunächst ein Hindernis für eine breite politische Beteiligung zu sein. Die epistemische Asymmetrie stellt daher eine Herausforderung für pragmatische Modelle dar und wirft Fragen auf: Wie kann die Wissenslücke zwischen Expert*innen und Bürger*innen ausgeglichen werden? Über welche Art von wissenschaftlichen Informationen sollten Bürger*innen verfügen, um kompetente politische Entscheidungen über komplexe Fragestellungen treffen zu können?

Wissenschaftskompetenz von und für Bürger*innen

Um epistemische Asymmetrien auszugleichen und mehr Beteiligung an demokratischen Prozessen zu ermöglichen, sollten Bürger*innen einen verlässlichen Zugang zu politikrelevanten wissenschaftlichen Informationen bekommen. Wir glauben, dass dies durch gezielte Wissenschaftskommunikation umgesetzt werden kann. Mit anderen Worten: Durch verbesserte Wissenschaftskommunikation sollen Bürger*innen Wissenschaftskompetenz erwerben können. Wissenschaftskompetenz – wie wir sie verstehen wollen – umfasst ein Verständnis von zumindest zwei Arten von Informationen:

  1. Ergebnisinformationen: Informationen über wissenschaftliche Forschungsergebnisse;

  2. Begründungsinformationen: Informationen darüber, wie Forschungsergebnisse begründet werden.

Ergebnisinformationen werden regelmäßig an Bürger*innen vermittelt, zum Beispiel die Ergebnisinformation, dass menschengemachter CO2-Ausstoß die globale Erwärmung verursacht. Dies trifft jedoch nicht – oder zumindest in geringerem Maße – auf Begründungsinformationen zu. Wissenschaftskommunikation besteht oft lediglich aus der Mitteilung von Ergebnisinformationen und vernachlässigt die Vermittlung von Argumenten und Begründungen, die für diese Ergebnisse sprechen. Wir halten dies in demokratisch verfassten Entscheidungssituationen für einen Missstand, denn gerade in solchen Situationen sollten Bürger*innen Gründe nachvollziehen können. Begründungsinformationen sollten Bürger*innen vermittelt werden, weil sich viele öffentliche Debatten über Wissenschaft im politischen Raum an der Frage entzünden, wie gut wissenschaftliche Forschungsergebnisse begründet sind. Wie Forschungsergebnisse begründet werden, wird sowohl in den Wissenschaften selbst (etwa in Form von innerwissenschaftlichen Methodenreflexionen, aber auch in Form von Sachstandsberichten) als auch in der Wissenschaftsforschung (das heißt in der Wissenschaftsgeschichte, -philosophie und -soziologie) systematisch untersucht. Wir werden uns im Folgenden auf die Perspektive der Wissenschaftsforschung – insbesondere der Wissenschaftsphilosophie – beschränken.

Wir glauben, dass die Informationen darüber, warum und wie empirische Evidenz, Konsens, Expertise und "nicht-epistemische" Interessen eine besonders zentrale Rolle bei der Begründung von Forschungsergebnissen spielen, von großer Relevanz für Bürger*innen sind. Diese Aufzählung von Begründungsinformationen ist freilich nicht vollständig und könnte noch ergänzt werden, etwa um die Unabhängigkeit von Expert*innen, Wissenschaftsfreiheit sowie Transparenz in der Forschung. Eine allgemeinverständliche Vermittlung der oben genannten Informationen ist für Bürger*innen deswegen höchst relevant, weil diese Informationen Bürger*innen dazu ermächtigen, kompetent einschätzen zu können, wie zuverlässig Forschungsergebnisse sind. Dies trägt zur selbstbestimmten Entscheidungsfindung aller Bürger*innen bei und stärkt damit ihre Beteiligung an politischen Prozessen. Zudem können wissenschaftskompetente Bürger*innen solche Begründungsinformationen auch von Politiker*innen und Wissenschaftler*innen einfordern, wenn sie ihnen nicht unaufgefordert zur Verfügung gestellt werden.

Empirische Evidenz

"Empirische Evidenz" nimmt einen zentralen Platz bei der Begründung von Forschungsergebnissen ein. Aber was genau ist darunter zu verstehen?

Nehmen wir an, dass eine Person Covid-19-Symptome hat und einen Antigen-Test macht, dessen Ergebnis negativ ist. Was bedeutet dieses negative Testergebnis? Es ist empirische Evidenz dafür, das heißt ein empirischer (durch Beobachtung und Messung erlangter) Hinweis darauf, dass diese Person nicht erkrankt ist. Das heißt, das Testergebnis stützt die Aussage empirisch, dass die Person nicht erkrankt ist. Doch hier ist Vorsicht geboten: Kein Testverfahren ist hundertprozentig zuverlässig. Nehmen wir an, dass das angewendete Testverfahren in 90 von 100 Fällen ein korrektes Ergebnis liefert (hier: das Testergebnis ist "negativ" und die getestete Person ist tatsächlich nicht krank). Das kann für die betreffende Person bedeuten, dass sie zu den zehn Prozent der Leute gehört, bei denen der Test das falsche Ergebnis liefert (in diesem Fall: das Testergebnis ist "negativ", aber die getestete Person ist dennoch krank). Dieser Umstand kann konkrete Auswirkungen auf das Handeln der getesteten Person haben: Wenn ihr Testergebnis negativ ist und ihr beispielsweise sehr viel daran liegt, ihre Eltern nicht anzustecken, kann es durchaus rational sein, die Eltern trotz des negativen Testresultats nicht sofort zu besuchen. Warum? Weil das Risiko besteht, dass die getestete Person unter die zehn Prozent der Leute fällt, bei denen der Test das falsche Ergebnis geliefert hat. Sie könnte stattdessen noch einen zweiten Test (unter Umständen einen zuverlässigeren PCR-Test) machen oder abwarten, bis die Symptome vollständig abgeklungen sind.

Wir haben in diesem fiktiven Beispiel angenommen, dass ein negatives Testergebnis die Aussage, dass eine bestimmte Person nicht erkrankt ist, empirisch stützt. Stützung durch Evidenz ist graduell. Dies kann beispielsweise so aussehen: In der Forschung gewonnene Daten sind Evidenz, die bestimmte Hypothesen stützen (wie die Beispiel-Hypothese, dass eine bestimmte Person nicht krank ist, aber auch Hypothesen über die Ursachen der Klimakrise oder über Infektionswege bei Covid-19). Evidenz kann eine Hypothese sehr gut, gut, weniger gut oder auch gar nicht stützen. Außerdem muss der Stärkegrad der Stützung nicht stabil bleiben. Die Datenlage kann sich ändern, und sie tut es häufig auch. In der Regel gewinnen Wissenschaftler*innen neue und überraschende Daten. Dies setzt einen rationalen Lernprozess in Gang, der folgende Form annehmen kann: Eine Hypothese, die gestern weniger gut durch die Daten gestützt war, ist heute – bei neuer Datenlage – sehr gut gestützt. In verschiedenen Wissenschaften wird Stützung durch empirische Evidenz – einschließlich des beschriebenen rationalen Lernprozesses – meist mit statistischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Begriffen präziser gefasst.

Konsens

Ein weiterer wichtiger Typ von Begründungsinformationen betrifft Konsens in den Wissenschaften. Beispielweise wird in politischen Debatten auf einen starken Konsens in den Klimawissenschaften verwiesen, um klimawissenschaftliche Forschungsergebnisse als besonders gut begründet auszuweisen. Aber was genau ist Konsens? Und welche Rolle spielt Konsens, wenn es darum geht, Forschungsergebnisse zu begründen?

Wissenschaftlicher Konsens wird typischerweise in sogenannten Sachstandsberichten zum Ausdruck gebracht. Das prominenteste Beispiel sind die Sachstandsberichte des Weltklimarates. Leitlinien für Krankheiten bilden eine weitere umfangreiche Klasse von Beispielen. Eine wichtige Funktion solcher Sachstandsberichte besteht darin, die veröffentlichten Ergebnisse von vielen verschiedenen Forschungsprojekten zu einem bestimmten Themenbereich zusammenzufassen und zu interpretieren (beispielsweise Forschungsergebnisse zu den Ursachen der Klimakrise oder des Long-Covid-Syndroms). Dies geschieht mit dem Ziel, verschiedene Personengruppen über den komplexen Forschungsstand übersichtlich zu informieren. Solche Gruppen umfassen Wissenschaftler*innen, aber auch nicht-wissenschaftliche Gruppen wie politische Entscheidungsträger*innen, Unternehmer*innen, behandelnde Ärzt*innen, Betroffene, Angehörige und manchmal auch alle Bürger*innen.

Sachstandsberichte fassen Forschung zusammen und interpretieren diese, das heißt, sie sollen die Frage beantworten, wie stark die gesamte, zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügbare empirische Evidenz, die meist durch eine große Zahl von Einzelstudien gewonnen wurde, bestimmte Hypothesen stützt. Eine Antwort auf diese Frage kann, je nach Art des Sachstandsberichts, unterschiedlich ausfallen. Zum Beispiel kann ein Bericht darüber informieren, dass ein bestimmter Anteil von Einzelstudien (etwa 87 von 100 Einzelstudien) eine fragliche Hypothese stützt. Es kann aber auch differenzierter informiert werden, etwa indem aufgeschlüsselt wird, wie stark ein bestimmter Anteil von Einzelstudien eine Hypothese stützt. Der Begriff "Konsens" ist ein theoretisches Werkzeug, um genau diese Zusammenhänge präzise zu beschreiben.

Konsens ist, genau wie Evidenz, kein absoluter, sondern ein gradueller Begriff. Konsens kann mehr oder weniger umfassend (weil es mehr oder weniger Einzelstudien geben kann, die Evidenz für eine Hypothese darstellen) und mehr oder weniger stark sein (weil mehr oder weniger dieser Einzelstudien eine Hypothese stark stützen). Konsens bedeutet daher auch nicht Einstimmigkeit, denn er erfordert nicht unbedingt, dass alle Einzelstudien eine Hypothese (mit einem bestimmte Stärkegrad) stützen. Der in den Wissenschaften verwendete Konsensbegriff erlaubt es, dass beispielsweise eine Mehrheit von Einzelstudien eine Hypothese stützt. Das hat eine wichtige Konsequenz: Auch wenn es eine oder sogar mehrere Einzelstudien gibt, die eine Hypothese nicht stützen, kann es dennoch einen Konsens in Bezug auf diese Hypothese geben.

Expertise

Eine weitere Begründungsinformation betrifft die Zuschreibung von wissenschaftlicher Expertise selbst. Wer kann und darf Begründungsinformationen (und Ergebnisinformationen) aus den Wissenschaften glaubwürdig und kompetent an Bürger*innen vermitteln? Und wer ist hinreichend qualifiziert, die oben beschriebenen Sachstandsberichte mit zu verfassen? "Expert*innen", lautet eine einschlägige Antwort auf die aufgeworfenen Fragen. Aber diese Antwort zieht neue Fragen nach sich.

Wer hat Expertise zu einem bestimmten Thema? Was ist Expertise? Und wie kann Bürger*innen kommuniziert werden, dass eine Person, die sich in der Öffentlichkeit zu einem Thema äußert, über relevante wissenschaftliche Kompetenz dazu verfügt? Diese Fragen stellen sich beispielsweise in Bezug auf Wissenschaftler*innen, die von einem Parlament oder einem Ministerium aufgrund ihrer Expertise zur Politikberatung herangezogen werden. Und diese Fragen stellen sich täglich in der Praxis, wenn sich Personen als Expert*innen in verschiedenen Medien, etwa zur Klima- oder Corona-Krise, äußern.

Bürger*innen könnten sich aufgrund des Problems der epistemischen Asymmetrie zum Beispiel die folgende Frage stellen: Wer sollte als wissenschaftliche Expert*in für Klimafragen gelten? Wer ist für Klimafragen kompetenter als eine x-beliebige Person? Wie könnte ein Kriterium für diese Art von Expertise aussehen?

Stellen wir uns einen konkreten Fall vor, um ein plausibles Kriterium dafür zu veranschaulichen. Ist eine bestimmte Person eine Expertin im Bereich der Klimawissenschaften? Nehmen wir an, wir erfahren Folgendes über die fragliche Person: Sie forscht seit 15 Jahren aktiv im Bereich der Klimawissenschaften und hat sowohl zwei Bücher bei einschlägigen wissenschaftlichen Verlagen als auch mehr als 50 Aufsätze in anerkannten Fachzeitschriften der Klimawissenschaften veröffentlicht. Wir erfahren zudem, dass ihre Bücher und Aufsätze große Anerkennung in der klimawissenschaftlichen Community genießen, was sich unter anderem darin niederschlägt, dass die Wissenschaftlerin von ihren Fachkolleg*innen oft konstruktiv zitiert und als Hauptrednerin zu Fachkonferenzen eingeladen wird. Mit anderen Worten: Es gibt Hinweise darauf, dass die Wissenschaftlerin seit Jahren kontinuierlich und produktiv zur Forschung in den Klimawissenschaften beiträgt.

Der Hinweis auf einen solchen Forschungsbeitrag ist ein Kriterium für Expertise. Wenn man dieses Kriterium akzeptiert, werden schnell zwei Dinge klar: Nicht alle vermeintlichen Expert*innen, die sich als solche in den Medien präsentieren oder präsentiert werden, können im Sinne dieses Kriteriums als Expert*innen gelten. Zudem gibt es Expert*innen, an die Bürger*innen und Journalist*innen nicht sofort denken. So gibt es nicht nur Physiker*innen mit klimawissenschaftlicher Expertise, sondern auch Soziolog*innen, die etwa soziale Auswirkungen der Klimakrise erforschen.

Es mag weitere hinreichende Kriterien für Expertise geben, aber es geht uns an dieser Stelle nicht um eine erschöpfende Darstellung solcher Kriterien, sondern darum, zu veranschaulichen, dass es überhaupt Kriterien für Expertise gibt, die Bürger*innen durch Wissenschaftskommunikation vermittelt werden können. Insofern es aber weitere Kriterien für Expertise gibt, gilt es, Bürger*innen zu vermitteln, ob jemand aufgrund dieser Kriterien als Expert*in gelten sollte oder nicht.

Wissenschaftskommunikation sollte solche Kriterien für Expertise transparent vermitteln, weil diese Kriterien einen wichtigen Hinweis auf die Zuverlässigkeit von wissenschaftlichen Informationen darstellen. Wenn wissenschaftskompetente Bürger*innen eine Person als Expert*in für Klimafragen einstufen, dann sollte dieser Umstand dazu führen, dass Bürger*innen die Aussagen dieser Person zum Klima für zuverlässiger halten als die Aussagen einer anderen Person, bei der es keinerlei Hinweis auf Expertise in Klimafragen gibt.

Nicht-epistemische Interessen und strategischer Wissenschaftsskeptizismus

Gerade in politischen Entscheidungssituationen kann es eine höchst relevante Begründungsinformation sein, ob und wie wissenschaftliche Forschung und Diskussionen über Wissenschaft durch "nicht-epistemische" politische oder wirtschaftliche Interessen geleitet werden. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn der Einfluss von Interessen illegitim ist und dazu führt, dass Forschungsergebnisse und deren Begründung untergraben werden. Zwar scheint es durchaus akzeptabel, dass politische und wirtschaftliche Interessen auch in der Wissenschaft eine legitime und wünschenswerte Rolle spielen (etwa bei der Auswahl und Förderung von Forschungsthemen und bei der Bewertung von Risiken, die mit der Forschung und deren Anwendung verbunden sind). Aber dennoch kann der Einfluss von solchen Interessen unter bestimmten Umständen illegitim sein.

Die illegitime Rolle von Interessen lässt sich gut am Beispiel des strategischen Wissenschaftsskeptizismus veranschaulichen. Von strategischem Wissenschaftsskeptizismus spricht man, wenn Organisationen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung und deren Begründung allein deswegen öffentlich kritisieren, um ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen zu wahren. Das derzeit prominenteste und folgenreichste Beispiel von strategischem Wissenschaftsskeptizismus betrifft die Erdöl- und Kohleindustrie und rechtspopulistische Parteien, die empirisch gut gestützte Forschungsergebnisse der Klimawissenschaften gezielt kritisieren. Wissenschaftsskeptiker*innen behaupten in diesem Zusammenhang beispielsweise, die Klimawissenschaften hätten nicht sicher bewiesen, dass der Klimawandel durch den Menschen verursacht ist, die Begründung von Forschungsergebnissen jedoch erfordere, dass diese sicher bewiesen sind.

Wissenschaftsskeptiker*innen treffen damit eine falsche oder zumindest irreführende Aussage darüber, wie die wissenschaftliche Begründung von Forschungsergebnissen tatsächlich funktioniert. Denn Beweise für die absolute, unbezweifelbare Sicherheit von Forschungsergebnissen zu liefern, ist keine Aufgabe der Klimawissenschaften und anderer empirischer Wissenschaften. Vielmehr ist es das Ziel der Wissenschaften, Theorien durch empirische Evidenz zu begründen. Eine erfolgreiche empirische Begründung von Forschungsergebnissen erfordert aber – entgegen der Behauptung von Wissenschaftsskeptiker*innen – weder vollständige Beweise noch absolute Sicherheit.

Nicht-epistemische Interessen spielen hier eine illegitime Rolle, weil sie dazu führen, dass strategische Wissenschaftsskeptiker*innen solche falschen oder irreführenden Aussagen treffen. Dies wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass Wissenschaftsskeptiker*innen ein strategisches Ziel erreichen wollen. Es geht ihnen beispielsweise darum, Klimaschutzmaßnahmen zu verhindern, deren Umsetzung den wirtschaftlichen Interessen der Industrie zuwiderlaufen würde. Das heißt, es geht Wissenschaftsskeptiker*innen nicht darum, die Wissenschaft durch Kritik zu verbessern, sondern darum, politische und wirtschaftliche Ziele zu erreichen.

Wissenschaftskompetenz erwerben

Nicht zuletzt die Ergebnisse des Eurobarometers 2021, das im Auftrag der Europäischen Kommission die Einstellungen der Bürger*innen zu Wissenschaft und Technologie in 38 europäischen Ländern analysierte, haben gezeigt, dass Interaktionen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verbessert und intensiviert werden müssen. Sie dokumentieren ein – freilich länderweise höchst ungleich verteiltes – Defizit an Wissenschaftskompetenz in der Bevölkerung. Der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen und Wissenschaftskompetenz sollte daher möglichst barrierefrei sein und Formate für den Dialog von Bürger*innen mit Expert*innen geschaffen werden. "Public Understanding of Science", "Public Engagement", "Citizen Science" und "Open Science" sind Schlagworte, die diese Interaktion mit unterschiedlichen Ausrichtungen gegenwärtig beschreiben.

Doch auch ältere, institutionelle Modelle eines nicht elitär orientierten Dialogs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft werden wiederbelebt. Ein Musterbeispiel dafür, wissenschaftliche Expertise Bürger*innen kostenlos und ohne Eintrittshürde zur Verfügung zu stellen, sind die Anfang der 1970er Jahre in den Niederlanden entstandenen Wissenschaftsläden, die bald danach auch in Deutschland und Österreich gegründet wurden. Wissenschaftsläden existieren in unterschiedlichen Organisationsformen – etwa was Anbindung und Nähe zu einer Universität betrifft – und verfolgen oft radikaldemokratische, egalitäre Zielsetzungen. Dabei handelt es sich um nicht auf Gewinn ausgerichtete Einrichtungen, die Gruppen der Zivilgesellschaft oder engagierten Individuen den kostenfreien Zugang zu wissenschaftlichen Informationen ermöglichen und somit auch Wissenschaftskompetenz stärken können.

Auch die politische Bildung in ihren unterschiedlichen Anwendungsfeldern (Schule, außerschulische Jugendbildung, Erwachsenenbildung) ist ein Schlüsselbereich der Kommunikation von und über Wissenschaft – nicht zuletzt auch wegen ihres interdisziplinären Charakters. Fragen nach dem Erwerb von Wissenschaftskompetenz und allgemein nach der Vermittlung und Zugänglichkeit wissenschaftlichen Wissens sind zudem demokratiepolitisch höchst relevant. Wissenschaftsorientierung ist folgerichtig auch ein didaktisches Prinzip der politischen Bildung. Sie bedeutet nicht nur, dass sich der Unterricht am Erkenntnisstand der Wissenschaft orientiert und Schüler*innen lernen, "subjektives Glauben und Meinen von rational begründeten Argumenten, die für alle nachvollziehbar sind, zu unterscheiden". Die Orientierung an der Wissenschaft kann und soll auch bedeuten, dass politische Bildung nicht nur Inhalte und Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, insbesondere zu demokratierelevanten Fragen, in Bildungsprozessen vermittelt. Sie sollte auch zumindest grundlegende Angaben zu Begründungsinformationen allgemeinverständlich zugänglich machen.

Auch in den vergangenen Jahren verstärkt zum Einsatz kommende deliberative "Mini-Publics" könnten ein institutionelles Setting einer demokratischen Interaktion zwischen Bürger*innen und Expert*innen sein – und zumindest teilweise sind sie es auch schon geworden. Es handelt sich um ein Setting, das Wissenschaftskompetenz zugleich erfordert und befördert. Institutionen, die in diesem Zusammenhang immer wieder genannt werden, sind per Losverfahren zusammengesetzte Bürger*innenräte (Citizens’ Panels/Councils), die in zahlreichen Ländern bereits existieren. Abgesehen von zentralen demokratiepolitischen Fragen (etwa nach dem Auswahlmodus, der Repräsentativität und der politischen Gestaltungsmacht dieser Institutionen), die wir an dieser Stelle außer Acht lassen müssen, können solche Versammlungen auch als ein Modell für die demokratisch gestaltete Kommunikation zwischen Expert*innen und Bürger*innen dienen. Sie gewinnen angesichts epochaler Herausforderungen wie jener der globalen Erderhitzung an Bedeutung. Deliberative "Mini-Publics" können – so ist jedenfalls die Hoffnung – nicht nur gesellschaftliche Polarisierung reduzieren und die Partizipation stärken, sondern auch die Diskussions- und Entscheidungsqualität erhöhen.

Ein prominentes Beispiel ist der Klima-Bürger*innenrat in Frankreich, bei dem eine per Losverfahren bestimmte, repräsentativ zusammengesetzte Gruppe aus 150 Menschen Vorschläge erarbeitete, wie Frankreich bis 2030 eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 erreichen kann. Eingeladen waren auch Klimaexpert*innen, die eine wissenschaftliche Analyse der Thematik lieferten und für Fragen zur Verfügung standen. Zudem waren ein rasches Abrufen und Überprüfen von wissenschaftlichen Informationen für die Teilnehmer*innen möglich, beispielsweise, indem sie über Messengerdienste mit Wissenschaftler*innen an der Sorbonne kommunizierten.

Solch eine kurzfristige und auf einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung beschränkte Maßnahme ist mit Sicherheit nicht ausreichend, um von einer "Demokratisierung" der Expertise zu sprechen. Viele prozedurale Probleme – etwa die Frage, wer welche Expert*innen auswählt und wie genau sie in den Beratungsprozess eingebunden werden – wurden durch das französische Beispiel offensichtlich auch noch nicht befriedigend beantwortet. Dennoch könnten auch Bürger*innenräte ein gesellschaftliches Labor sein, in dem demokratiefördernde Wissenschaftskompetenz erworben und eine damit verbundene Wissenschaftskommunikation von Ergebnis- und Begründungsinformationen erprobt werden könnte.

Fazit

Wir haben das Problem der epistemischen Asymmetrie aufgeworfen, das sich insbesondere für pragmatische oder deliberative Modelle der Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik stellt. Als Lösung haben wir vorgeschlagen, dass die Vermittlung von Ergebnis- und Begründungsinformationen dabei helfen kann, epistemische Asymmetrien zu überwinden und Wissenschaftskompetenz zu erzeugen. Erworbene Wissenschaftskompetenz ermächtigt Bürger*innen dazu, besser informierte politische Entscheidungen zu treffen und sich auf diesem Wege neue Möglichkeiten der politischen Beteiligung zu schaffen. Die Vermittlung und der Erwerb von Wissenschaftskompetenz bilden daher zumindest wichtige Schritte, um das Versprechen von pragmatischen Modellen einzulösen, rationale Begründung und demokratische Legitimität miteinander zu verbinden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Verschiedene pragmatische bzw. deliberative Ansätze werden beispielsweise vertreten von Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik in demokratischer Gesellschaft, in: Helmut Krauch/Werner Kunz/Horst Rittel/Rationalisierungs-Kuratorium der Deutschen Wirtschaft e.V. (Hrsg.), Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen amerikanischer Forschungsinstitute, München–Wien 1966, S. 130–144; Philip Kitcher, Science in a Democratic Society, Amherst 2011; Heather Douglas, The Rightful Place of Science. Science, Values, and Democracy. The 2016 Descartes Lectures, Tempe 2021. Vgl. zu Otto Neuraths pragmatischem Modell, das auf der "Orchestrierung" verschiedener gesellschaftlicher Gruppen aufbaut, Alexander Reutlinger/Günther Sandner, Wissenschaftliche Expertise in der Demokratie. Zur Aktualität von Otto Neuraths politischer Wissenschaftsphilosophie, in: Gernot Waldner (Hrsg.), Die Konturen der Welt. Geschichte und Gegenwart visueller Bildung nach Otto Neurath, Wien–Berlin 2021, S. 79–100.

  2. Zur kritischen Diskussion von alternativen Modellen der Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft (wie z.B. der Expertokratie) vgl. Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2001, S. 136–139; Harry Collins/Robert Evans, Rethinking Expertise, Chicago 2007; Laura Münkler, Expertokratie: Zwischen Herrschaft kraft Wissens und politischem Dezisionismus, Tübingen 2020.

  3. Vgl. Otto Neurath, Visual Education. Humanisation versus Popularisation, in: Friedrich Stadler/Elisabeth Nemeth (Hrsg.), Encyclopedia and Utopia. The Life and Work of Otto Neurath (1882–1945), Boston–London 1996, S. 245–335, hier S. 251; Alvin Goldman, Experts: Which Ones Should You Trust?, in: Philosophy and Phenomenological Research LXIII/2001, S. 85–110, hier S. 85; Helga Nowotny, Experten, Expertisen und imaginierte Laien, in: Alexander Bogner/Helge Torgersen (Hrsg.), Wozu Experten? Ambivalenzen der Beziehung von Wissenschaft und Politik, Wiesbaden 2005, S. 33–44, hier S. 41.

  4. Bei der Darstellung von Evidenz und Expertise folgen wir in großen Teilen Reutlinger/Sandner (Anm. 1), S. 94–97. Im Abschnitt über Interessen greifen wir ein Beispiel für strategischen Wissenschaftsskeptizismus auf, siehe ebd., S. 98.

  5. Vgl. John Earman, Bayes or Bust? A Critical Examination of Bayesian Confirmation Theory, Cambridge, MA 1992.

  6. Vgl. Michael Oppenheimer et al., Discerning Experts. The Practices of Scientific Assessment for Environmental Policy, Chicago 2019.

  7. Etwa gemäß dem Begriff der "contributory expertise" von Collins/Evans (Anm. 2).

  8. Es kann beispielsweise ein Kriterium für eine weitere Art von wissenschaftlicher Expertise sein, dass eine Person eine hinreichend genaue Kenntnis des Forschungsstands in einem Themenbereich hat, ohne selbst zur Forschung beizutragen. Vgl. Collins/Evans (Anm. 2) zu "interactional expertise".

  9. Vgl. Heather Douglas, Values in Science, in: Paul Humphreys (Hrsg.), The Oxford Handbook of Philosophy of Science, New York 2016, S. 609–663, für einen Überblick zur jüngsten Debatte über Interessen und Werte in den Wissenschaften.

  10. Wer strategischen Wissenschaftsskeptizismus kritisch analysiert, kann selbstverständlich akzeptieren, dass eine nicht-strategische, skeptische Haltung – im Sinne einer kritisch überprüfenden Herangehensweise – eine Tugend sein kann. Zu weiterführenden Analysen des strategischen Wissenschaftsskeptizismus vgl. Naomi Oreskes/Erik Conway, Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscures the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming, New York 2010; Alexander Reutlinger, Strategischer Wissenschaftsskeptizismus, in: Michael Jungert/Andreas Frewer/Erasmus Mayer (Hrsg.), Wissenschaftsreflexion. Interdisziplinäre Perspektiven zwischen Philosophie und Praxis, Paderborn 2020, S. 351–369.

  11. Beweise und Sicherheit von Forschungsergebnissen lassen sich, wenn überhaupt, nur in der reinen Mathematik erreichen.

  12. Vgl. Alexander Reutlinger, When Do Non-Epistemic Values Play an Epistemically Illegitimate Role in Science? How to Solve One Half of the New Demarcation Problem, in: Studies in the History and Philosophy of Science Bd. 92/2022, S. 152–161.

  13. Vgl. Europäische Kommission, Special Eurobarometer 516: European Citizens’ Knowledge and Attitudes Towards Science and Technology, 1.5.2022, Externer Link: https://europa.eu/eurobarometer/surveys/detail/2237.

  14. Vgl. Brigitte Peter/Norbert Steinhaus, Wissenschaftsläden. Wissens-Broker mit weltweit gutem Ruf, in: Beatrice Dernbach/Christian Kleinert/Herbert Münder (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftskommunikation, Wiesbaden 2012, S. 117–123.

  15. Ingo Juchler, Wissenschaftsorientierung, in: Wolfgang Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts. 20144, S. 284–292, hier S. 286.

  16. Vgl. Rebecca Willis/Nicole Curato/Graham Smith, Deliberative Democracy and the Climate Crisis, in: WIREs Climate Change 2/2022, Externer Link: https://doi.org/10.1002/wcc.759.

  17. Vgl. Anatol Itten/Niek Mouter, When Digital Mass Participation Meets Citizen Deliberation. Combining Mini- and Maxi-Publics in Climate Policy-Making, in: Sustainability 14/2022, Externer Link: http://www.mdpi.com/2071-1050/14/8/4656/htm.

  18. Vgl. Diarmuid Torney, Deliberative Mini-Publics and the European Green Deal in Turbulent Times. The Irish and French Climate Assemblies, in: Politics and Governance 3/2021, S. 380–390, hier S. 385–387.

  19. Vgl. Itten/Mouter (Anm. 17).

  20. Wir danken Maria Kronfeldner für hilfreiche Kommentare.

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Weitere Inhalte

ist Akademischer Rat am Munich Center for Mathematical Philosophy der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht und lehrt im Bereich Wissenschaftsphilosophie.
E-Mail Link: alexander.reutlinger@lrz.uni-muenchen.de

ist Research Fellow am Institut Wiener Kreis der Universität Wien. Er lehrt in den Bereichen Politikwissenschaft, Geschichte und in der außeruniversitären politischen Bildung.
E-Mail Link: guenther.sandner@univie.ac.at