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Demokratie und Expertise | Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie | bpb.de

Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie Editorial "Politik sollte sich nicht hinter einer wissenschaftlichen Bewertung verstecken". Fünf Fragen zu Wissenschaft, Kommunikation und Politik Demokratie und Expertise. Ambivalenzen und rechtliche Lösungsansätze (Pseudo-)Wissenschaft und Demokratie im Krisenzeitalter Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus. Wie die politische Aufladung wissenschaftlicher Expertise polarisiert Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus Von der Wissenschaftskommunikation zur evidenzbasierten Information Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung

Demokratie und Expertise Ambivalenzen und rechtliche Lösungsansätze

Laura Münkler

/ 16 Minuten zu lesen

Die Rolle, die Experten in der Politikberatung zugeschrieben wird, führt auf ein Grundproblem moderner Demokratien zurück: Wie kann das Spannungsverhältnis zwischen demokratischem Entscheiden und Expertenwissen reduziert werden?

Welche Rolle Experten in der Demokratie zukommen darf und soll, ist angesichts der im Rahmen der Corona-Pandemie augenscheinlich gewordenen Angewiesenheit politischer Entscheidungsfindung auf Expertise in letzter Zeit wieder verstärkt diskutiert worden. Obwohl die Relevanz dieser Frage unter dem Eindruck der jüngsten Herausforderungen unverkennbar ist, stellt diese Thematik keine Besonderheit der Covid-19-Pandemie dar. Vielmehr wird in ihr lediglich die generelle Komplexität des Verhältnisses von Demokratie und Expertise sichtbar. Schließlich wird der modernen Demokratie bereits seit Längerem nachgesagt, expertokratische Tendenzen aufzuweisen – wobei ihr indes zugleich auch des Öfteren populistische Züge attestiert werden.

Die sich bereits hierin offenbarende Ambivalenz zwischen Demokratie und Expertise gibt Anlass, sich dem Verhältnis von Demokratie und Experten näher zu widmen. Dies gilt zumal, weil vielfach nicht hinreichend reflektiert wird, dass Demokratie weder ein symbiotisches noch ein widerstreitendes Verhältnis zu Expertise aufweist. Andernfalls würde die Diagnose expertokratischer wie auch populistischer Tendenzen kaum – vornehmlich anekdotisch – darauf gestützt werden, dass der Rat von Experten befolgt respektive ignoriert wird. Ebenso wenig erscheint es vor diesem Hintergrund als weiterführend, zur Lösung der Problematik auf die prinzipielle Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft(en) zu verweisen oder ein generelles Misstrauen gegenüber Experten und deren Rat zu schüren. Stattdessen erweisen sich sämtliche dieser Ansätze letzten Endes als kontraproduktiv, weil die verschiedenen Facetten des Spannungsverhältnisses zwischen Demokratie und Expertise hierbei nicht hinreichend erfasst werden.

Um die Problematik der Angewiesenheit moderner Demokratien auf Experten angemessen zu verarbeiten, müssen demnach zunächst die Hintergründe der eigentümlichen Gleichzeitigkeit von vermeintlich expertokratischen und populistischen Tendenzen näher aufgearbeitet werden. Erst auf dieser Basis lassen sich die Mechanismen erkennen, bewerten und optimieren, die bereits zum Einsatz kommen, um das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Expertise abzubauen. Diese Vorgehensweise mag zwar nicht denselben Reiz ausüben, wie in den vielstimmigen Chor des Abgesangs auf die Demokratie oder in die Ode der Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis einzustimmen, dürfte sich letztlich aber als produktiver erweisen.

Demokratie und Expertise – ein unauflösbarer Widerspruch?

Moderne Demokratien nehmen für sich in Anspruch, rational – also wissensbasiert – und zugleich demokratisch zu entscheiden. Dies ist rechtlich wegen des Zusammenspiels von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip sowie der Grundrechte ohnehin gefordert, der Demokratie aber auch selbst immanent, wie eine vergleichende Betrachtung der Demokratietheorie zeigt. Weil das Verhältnis der Demokratie zu Expertise jedoch ambivalent ist, ruft diese Vorgabe Friktionen hervor. Grund hierfür ist, dass in der demokratischen Entscheidungsfindung Expertise berücksichtigt werden muss, um legitime und mit Blick auf die hiermit einhergehenden Grundrechtseinschränkungen gerechtfertigte Entscheidungen treffen zu können. Hierdurch kommt Experten jedoch eine hervorgehobene Stellung zu, was wiederum demokratietheoretisch rechtfertigungsbedürftig ist, weil die staatlicherseits benötigten Expertisen, obgleich sie auf Daten beziehungsweise Informationen basieren, die einem Wahrheitsbeweis grundsätzlich zugänglich sind, hierin zumeist nicht aufgehen. Stattdessen umfassen – wie gerade im Rahmen der Pandemie augenscheinlich geworden ist – die Stellungnahmen von Experten, insbesondere sofern sie Handlungsempfehlungen enthalten, vielfach Wertungen, etwa mit Blick auf Nebenfolgen oder andere denkbare Zielsetzungen, die nicht bis ins letzte Detail objektiv begründbar sind, sondern von Vorannahmen abhängen. Derartige Vorannahmen wiederum sind zumindest potenziell von subjektiven Einstellungen beeinflusst, ohne dass dies von vornherein erkennbar wäre. Dementsprechend lässt sich die Objektivität beziehungsweise Neutralität einer in den politischen Entscheidungsprozess eingebrachten Expertise im Sinne ihrer Austauschbarkeit nicht garantieren. Folglich kann auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass es qua Expertise zu einer relevanten politischen Einflussnahme auf die Entscheidung kommt. Diese kann nämlich beispielsweise auch darin liegen, dass andere Optionen vorzeitig ausgeschlossen werden oder eine Möglichkeit politischen Reagierens als alternativlos stilisiert wird.

Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen Demokratie und Expertenwissen ist demnach, dass in die politische beziehungsweise rechtliche Entscheidungsfindung eingespeiste Expertisen prinzipiell weder als objektive und daher verbindliche Wahrheit noch als bloße Meinung angesehen werden können. Dies erklärt zugleich, weshalb eine rechtliche Bindung an Expertisen vor dem Hintergrund prinzipieller demokratischer Verfassungsvorgaben im rechtlichen Diskurs zumeist abgelehnt und stattdessen eine Entscheidung von den jeweils zuständigen, demokratisch legitimierten Hoheitsträgern darüber gefordert wird, welche Bedeutung der Expertise für die infrage stehende politische Entscheidung zugewiesen werden soll. Wäre diesbezüglich eine willkürliche Handhabe möglich und dürften Expertisen verworfen werden, ohne ihre Bedeutung auch nur in Betracht ziehen zu müssen, ließe sich der Vorwurf des Populismus insoweit durchaus begründen. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr werden im Recht die Ambivalenzen zwischen Demokratie und Expertise mithilfe einer vergleichsweise komplexen Konstruktion zu verarbeiten gesucht, die auf den Erkenntnissen eines Jahrhunderte währenden interdisziplinären Diskurses beruht.

Ansätze zur Verarbeitung der Ambivalenz zwischen Demokratie und Expertise

Um die Verarbeitungsmechanismen erkennen und bewerten zu können, die bewirken sollen, dass Expertise in der hoheitlichen Entscheidungsfindung herangezogen werden kann, ohne hierdurch Entscheidungen de facto an Experten zu verlagern, ist es notwendig, die aus diesen Diskursen gewonnenen Erkenntnisse knapp aufzuarbeiten.

Ideengeschichtliche Einsichten

Hierbei erweist sich insbesondere ein Blick in die Ideengeschichte als aufschlussreich. Zwar hängt es insbesondere von der zugrunde gelegten Gemeinwohlvorstellung sowie dem Wahrheitsverständnis ab, wie die jeweils konkrete Konzeptionalisierung in den verschiedenen ideengeschichtlichen Ansätzen ausfällt. Unabhängig hiervon macht die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ansätze jedoch deutlich, dass im Rahmen der Verarbeitung des aufgezeigten Spannungsverhältnisses insbesondere die notwendige Distanz beziehungsweise Nähe zwischen Ratgebern und Beratenen in den Blick genommen werden müssen, ebenso die Expertenauswahl, der Modus der Beratung, das Forum, in welchem Rat geäußert wird, sowie die Erkennbarkeit potenzieller Einflüsse auf den Inhalt des Rats. Demnach kommt der Organisation der Auswahlentscheidung der zu hörenden Experten, der Transparenz des Beratungsprozesses, der Pluralität des eingeholten Rats sowie der Sicherstellung der Entscheidungshoheit in Bezug auf den Umgang mit den Expertisen besondere Bedeutung dabei zu, sowohl wissensbasiert als auch demokratisch legitimiert entscheiden zu können. Die Maßgeblichkeit dieser Gesichtspunkte, um den Konflikt zwischen demokratischem und wissensbasiertem Entscheiden aufzulösen, zeigt sich ebenfalls im Rahmen der Untersuchung verschiedener demokratietheoretischer Konzeptionen und spiegelt sich in gewisser Hinsicht auch im erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskurs wider.

Demokratietheoretische Konzeptionalisierung

Divergenzen zwischen verschiedenen Demokratietheorien lassen sich weniger auf ihre Vorannahmen in Bezug auf das Verhältnis von "Wissen" und demokratischem Entscheiden zurückführen, sondern sie lassen sich weitgehend mit divergierenden epistemologischen Grundannahmen erklären. Das mit der liberalen Demokratietheorie einhergehende instrumentelle Wissensverständnis, das bewirkt, dass im Wissensinput grundsätzlich kein legitimationsbedürftiger Aspekt erblickt wird, lässt sich vor allem mit zwei Aspekten erläutern: Zum einen handelt es sich um eine bestimmte erkenntnistheoretische Position, nach der Wissen grundsätzlich als objektiv angesehen werden kann. Zum anderen lässt sich diese in Bezug auf Wissen erfolgende Konzeptualisierung aber auch darauf zurückführen, dass Freiheitsrechte in der liberalen Demokratietheorie im Zentrum stehen und ins Verhältnis zu kollektiver Selbstbestimmung gesetzt werden.

Diese Vorannahmen der liberalen Demokratietheorie sehen sich – stark verkürzt wie auch vereinfachend dargestellt – insbesondere Angriffen vonseiten der partizipativen, deliberativen, pragmatischen und agonalen Demokratietheorien ausgesetzt. Die deliberative Demokratietheorie, die in dem machtfreien Diskurs über Gründe den Ausgleich zwischen Demokratie und Wissen verortet und von der Annahme getragen ist, hierdurch lasse sich sowohl die Verarbeitung vielfältiger, unterschiedlicher Informationen garantieren als auch eine demokratische Entscheidungsfindung sicherstellen, folgt der Annahme, dass über Wissen und dessen Bedeutung für die Entscheidung öffentlich diskutiert werden müsse. Wie das "beste Argument" hierbei erkannt werden soll, wenn kein Konsens gefunden wird, ist allerdings innerhalb dieses demokratietheoretischen Ansatzes ebenso umstritten wie die Frage, ob hierfür eigentlich eine Expertendeliberation genügt oder die Auffassung der breiten Öffentlichkeit entscheidend ist.

Die partizipative Demokratie wiederum vertritt die Ansicht, dass jeglicher in der liberalen, aber auch in der deliberativen Demokratietheorie enthaltene Verweis auf Wissen letztlich eine nicht zu rechtfertigende Einschränkung der demokratischen Entscheidungshoheit zur Folge habe. Insofern wird eine demokratisch souveräne Entscheidung über Wissen für notwendig erachtet und jeder Verweis auf Vernunft oder Expertise als "kryptometaphysisch" zurückgewiesen. Da sich Wissen und Wollen nicht gänzlich voneinander unterscheiden ließen, erfordere Demokratie – so die hiermit verbundene Ansicht –, auch über Wissen frei zu entscheiden. Hieraus folgt zugleich, dass bereits in der Wissensproduktion eine weitgehende Beteiligung von Bürgern für notwendig erachtet wird.

Trotz dieser bestehenden Divergenzen in der Demokratietheorie darüber, wie das Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Entscheiden in einer Demokratie aufzulösen ist, lässt sich in der Gesamtbetrachtung festhalten, dass es eines produktiven, aber reflektierten Umgangs mit Expertenwissen in Demokratien bedarf, um mittels Pluralität des Wissensinputs die demokratische Entscheidungshoheit aufrechtzuerhalten.

Grundlinien der rechtlichen Operationalisierung

Hieraus sind – unter Berücksichtigung des parallel verlaufenden erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Diskurses – Schlussfolgerungen für die rechtliche Konzeptualisierung des Verhältnisses von Demokratie und Expertise zu ziehen. Um weder expertokratischen noch populistischen Tendenzen zu erliegen, sind die interdisziplinären Erkenntnisse zu den verschiedenen Verarbeitungsmechanismen dieser Problematik im Recht in Bezug zu setzen.

Nimmt man allein die hergebrachte rechtliche Konstruktion des Verhältnisses von demokratischem Entscheiden zu Wissen in den Blick, erscheinen die genutzten Verarbeitungsmechanismen zunächst als vergleichsweise unterkomplex. Grund hierfür ist, dass der Fokus auf dieser Konstruktionsebene vornehmlich auf der Wahl und der hieraus jeweils abgeleiteten Legitimation des Parlaments, der Regierung und hierüber der gesamten Exekutive liegt. Zudem wird als legitimationsbedürftig prinzipiell lediglich das formale Treffen von Entscheidungen angesehen, nicht aber die Einbeziehung von Expertise. Demnach bleiben die Willensbildung wie auch das sonstige Vorfeld der hoheitlichen Entscheidung – insbesondere die Expertenberatung – aus der rechtlichen Konstruktion von Demokratie scheinbar komplett ausgeklammert.

Diese Diagnose der zu weitgehenden Blickverengung des rechtlichen Verständnisses verbleibt allerdings zu stark an der Oberfläche der Art und Weise, wie im Recht die Verbindung von demokratischer Entscheidung und Wissen erfolgt. Denn die Problematik, worüber in Bezug auf Wissen demokratisch entschieden werden muss und wie mit Wissen in hoheitlichen Entscheidungen umzugehen ist, wird zwar nicht im Rahmen der demokratischen Legitimationskonstruktion im engeren Sinne verhandelt, ist jedoch Gegenstand von anderen rechtlichen Konstruktionen. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass verschiedene Mechanismen zum Einsatz gelangen, um die Entscheidungshoheit der demokratisch legitimierten Entscheidungsträger auch im Falle weitreichender Wissensabhängigkeit von zu treffenden Entscheidungen aufrechtzuerhalten.

Mit Blick hierauf erweisen sich vornehmlich vier Aspekte als für die rechtliche Gewährleistung einer wissensbasierten demokratischen Entscheidungsfindung maßgeblich: Erstens wird in Bezug auf die Konzeptualisierung des Verhältnisses von Wissen und demokratischem Entscheiden dem Expertenkonsens beziehungsweise -dissens im Recht eine entscheidende Rolle zugeschrieben, wie etwa der rechtliche Verweis auf den Stand der Erkenntnis von Wissenschaft und Technik zeigt. Zweitens wird grundsätzlich zwischen verschiedenen Arten von Wissen – Fakten, Prognosen, Erfahrung, norm- und transwissenschaftlichem Wissen – bei der Art und Weise des Umgangs differenziert. Drittens soll die Entscheidungsbefähigung des demokratisch legitimierten Hoheitsträgers selbst im Falle weitläufiger Einbeziehung von Expertenwissen aufrechterhalten werden, da nur mit Blick hierauf eine politische Sanktionierbarkeit der jeweiligen Entscheidungen möglich ist. Weil dieses Abstellen auf die Letztentscheidung eines Hoheitsträgers nicht dazu führen darf, dass das Entscheidungsvorfeld legitimatorisch aus dem Blick gerät und die Entscheidungshoheit de facto unterlaufen wird, sind, viertens, rechtliche Anforderungen an das Entscheidungsvorfeld unter dem Begriff der "Legitimationsverantwortung" entwickelt worden.

Die Tragbarkeit der so gearteten rechtlichen Konzeption des Verhältnisses von Demokratie zu Expertise hängt angesichts dieser Konstruktion allerdings weitgehend davon ab, inwieweit es einerseits in der Wissenschaft allgemein sowie andererseits mittels der Beratungsstruktur und Wissensbewertung sicherzustellen gelingt, dass Divergenzen und hiermit potenzielle Vorannahmen mittels hinreichender Pluralität des Wissensinputs sichtbar werden. Nur auf diese Weise lässt sich die eingeforderte Entscheidungsverantwortung des Hoheitsträgers gewährleisten. Aus diesen Grundüberlegungen lassen sich verschiedene Vorgaben für die Gesamtstruktur der Expertenberatung wie auch das institutionelle Design von beratenden Expertengremien ableiten.

Wissensbewertung zur Reduktion des Spannungsverhältnisses

Die Bewertung von Wissen stellt im Recht demnach einen entscheidenden Aspekt in Bezug auf die Reduktion des Spannungsverhältnisses zwischen demokratischem Entscheiden und Wissen dar. Angesichts der Schwierigkeiten, die eine tragbare Bewertung von Expertisen durch Laien mit sich bringt und die zur Problematik des "Vertrauenmüssens" in Experten bei gleichzeitig nicht vollständigem "Vertrauendürfen" führen, bedarf es der Zuhilfenahme von "Daumenregeln", anhand derer die Problematik durch Zuweisung von Argumentationslasten abgeschichtet werden kann. Insoweit ist sinnvollerweise das Vorliegen eines Expertenkonsenses beziehungsweise -dissenses als Ausgangspunkt für die Konzeptionalisierung von demokratischer Entscheidungsnotwendigkeit und "vertrauenswürdigem" Wissen zu wählen. Schließlich erscheint es, sofern ein Expertenkonsens besteht, als überwiegend wahrscheinlich, dass dem fraglichen Wissen keine politisch relevanten Wertungen zugrunde liegen, weil diese im Rahmen des Expertendiskurses voraussichtlich erkannt worden wären. Dies gilt zumindest, wenn der Expertenkonsens selbst als belastbar anzusehen ist und das Wissenschaftssystem Pluralität nicht unterdrückt, sondern ermöglicht.

In Anbetracht der grundrechtlichen Vorgaben einerseits und der demokratischen Legitimationsnotwendigkeit andererseits, weil also Expertisen weder ignoriert noch mit Blick auf die aus Daten und Informationen abgeleiteten Empfehlungen als für die politische Entscheidung bindend angesehen werden können, erweist sich folglich eine Abstufung von Begründungslasten anhand des Kriteriums Expertenkonsens beziehungsweise -dissens als weiterführend. Dabei ist ein Expertendissens als ein Indiz für den demokratischen Entscheidungsbedarf mit Blick auf die Bewertung von Wissen anzusehen. Aus diesem Grund stellen Dissense zwischen Experten – anders als vielfach unterstellt – gerade nicht den Ausgangspunkt des Problems dar, Expertenwissen und demokratisches Entscheiden in Ausgleich zueinander zu bringen. Divergierende Expertisen sichtbar zu machen, ist vielmehr als Gesichtspunkt der Auflösung des Spannungsverhältnisses zu begreifen. Denn eine nähere Beurteilung der Hintergründe des Dissenses ermöglicht aufzudecken, in welcher Hinsicht Wissenslücken bestehen, wo deshalb Wertungen vorgenommen werden müssen und welche Vorannahmen hinter diesen stehen. Folglich gilt es Foren zu schaffen, die einen Dissens ermöglichen.

Dass ein Expertendissens auch auf politischen beziehungsweise wirtschaftlichen Gründen beruhen mag und somit interessengeleitet erzeugt sein könnte, ändert hieran nichts. Schließlich lässt sich dies erst durch eine nähere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Expertisen, wie sie hier eingefordert wird, erkennen. Expertendispute zu verdecken, erweist sich dementsprechend generell nicht als weiterführend.

Doch wann liegt ein Expertenkonsens vor?

Die Annahme des Vorliegens eines Expertenkonsenses wird davon beeinflusst, wen wir mit Blick auf die zu beurteilende Frage als Experten anerkennen, was wiederum wertungsabhängig ist. Diese Wertungsabhängigkeit lässt sich anhand von drei Beispielen veranschaulichen, die teils auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Erstens: Im Rahmen der Diskussion um die Besetzung des Corona-Expertenrats wie auch vorhergehend hinsichtlich der Frage, inwieweit lediglich virologisches und epidemiologisches Wissen oder auch pädagogische, psychologische, ökonomische und rechtswissenschaftliche Einsichten im Rahmen der Reaktion auf die Ausbreitung des Corona-Virus maßgeblich sind, hat sich gezeigt, wie komplex die Bestimmung des maßgeblichen Expertenkreises sein kann, was wiederum Auswirkungen darauf zeitigt, ob ein Expertenkonsens anzunehmen ist oder nicht. Zweitens: Im Rahmen der Frage des menschengemachten Klimawandels wird Wissenschaftlern außerhalb der Klimaforschung, obgleich sie in ihrem Forschungsbereich durchaus wissenschaftlich ausgewiesen sind, der Expertenstatus abgesprochen und folglich ein Expertenkonsens angenommen. Ob jemand als Experte oder Laie anzusehen ist, kann also nicht abstrakt bestimmt werden, sondern immer nur mit Blick auf bestimmte Felder. Drittens: In einer historischen, für die Ausformung des Expertenbegriffes maßgeblichen Konstellation, in der es um die Beurteilung der Kontamination von Boden ging, ist Farmern von Wissenschaftlern der Expertenstatus mit Blick auf die Beurteilung derartiger Fragen abgesprochen worden, obgleich sie – retrospektiv betrachtet – aufgrund der Beobachtungen des Weideverhaltens ihrer Tiere maßgebliche Einsichten beizusteuern gehabt hätten.

Wenngleich auf Basis der aus letzterem Fall gewonnenen Einsichten der Expertenbegriff modifiziert wurde, zeigen diese Beispiele in ihrer Gesamtbetrachtung doch, dass die Zuschreibung des Expertenstatus selbst wertungsbasiert ist, weshalb die Auflösung des Spannungsverhältnisses nicht allein hierüber erfolgen kann. Ferner muss in die Bewertung eines Expertenkonsenses einbezogen werden, ob dieser im konkreten Fall auch belastbar ist, da andernfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass in methodischen Vorannahmen, sonstigen Prämissen oder der Ausblendung von Faktoren Annahmen enthalten sind, über deren Relevanz politisch entschieden werden muss. Die hinreichende Belastbarkeit eines Expertenkonsenses ist deshalb erst anzunehmen, sofern eine Fragestellung bereits über einen längeren Zeitraum von verschiedenen, nicht lediglich einer Arbeitsgruppe zugehörigen Experten mit unterschiedlichen Methoden bearbeitet wurde. Selbst unter diesen Umständen bleibt die Annahme, ein Expertenkonsens schließe aus, dass politisch relevante Wertungen in Expertise enthalten sind, noch immer davon abhängig, dass das Wissenschaftssystem Pluralität grundsätzlich gewährleistet.

Institutionelle Gewährleistung wissensbasierter, demokratischer Entscheidungsfindung

Um Expertisen beurteilen und hierauf basierend eine eigenständige Entscheidung treffen zu können, bedarf es demnach einer komplexen Beratungsstruktur, die gewährleistet, dass plurales Wissen zur Verfügung steht. Hierbei ist sowohl mit Blick auf die einzelnen Beratungsgremien als auch in Bezug auf die Gesamtberatungsstruktur zu beachten, dass sie Wissenskonflikte sichtbar machen müssen. Eine interdisziplinäre, diverse Besetzung von Beratungsgremien sowie die Einbeziehung von Interessenvertretern und Laien hilft dabei, Wissenskonflikte institutionell zu provozieren, um über diese anschließend politisch urteilen zu können. Des Weiteren ist ein Institutionenmix notwendig, um die Problematik von Nähe und Distanz beziehungsweise Abhängigkeit und Unabhängigkeit abzufedern. Weder führt allein ein institutionalisiertes Beratungssetting in fester Angliederung an einen Entscheidungsträger weiter, noch erscheint die Ad-hoc-Beratung als generell überlegen, weil hierdurch mit Blick auf die Hoffnung künftiger, erneuter Beratungstätigkeit ebenfalls ein Bias erzeugt werden kann. Überdies muss der Mechanismus der für die Beratung zu treffenden Expertenauswahl, die aktuell entweder weitgehend politisiert oder rein wissensbezogen erfolgt, optimiert werden, da auch hier die Ambivalenzen bislang nicht hinreichend berücksichtigt werden. Um dem Rechnung zu tragen, wäre es weiterführend, wenn eine Liste maßgeblicher Experten eines Feldes von einem Expertengremium zusammengestellt und aus dieser eine Auswahlentscheidung von den demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern getroffen würde.

Zur Bedeutung von Expertise für die Demokratie

Was heißt dies für die Bedeutung, die Experten in einer Demokratie zugeschrieben wird? Die Beteiligung von Experten und die Einbeziehung ihrer Expertise in die demokratische Entscheidungsfindung ist weder per se als demokratisch noch als undemokratisch anzusehen. Wenn Expertise herangezogen wird, verlagert sich die Legitimation der Entscheidung potenziell auf die Legitimität der Experten, wodurch verdeckt zu werden droht, welche Entscheidungen hinsichtlich des Umgangs mit Wissen getroffen wurden. Insoweit ist einerseits die Kennzeichnung von Expertise als prinzipiell undemokratisch als politische Strategie durchschaubar, sich einem wissensbezogenen Diskurs nicht stellen zu müssen, wie er indes rechtlich und demokratisch gefordert wird. Andererseits erweist sich auch die Betonung der Objektivität und Neutralität von Expertise sowie hiermit einhergehender Sachzwänge als problembehaftet, weil hiermit eine demokratisch nicht tragbare Verantwortungsverlagerung auf Experten einhergeht. Expertenwissen darf in einer Demokratie folglich weder negiert noch überhöht werden. Aus diesem Grund ist zwar jederlei irgendwie geartete Bindung an Expertise im Recht abzulehnen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass mit Expertenwissen willkürlich umgegangen werden darf. Expertisen sorgen vielmehr dafür, dass innerhalb des demokratischen Diskurses beziehungsweise im Rahmen der hoheitlichen Entscheidungsfindung Begründungslasten entstehen. Diese dürfen nicht faktisch asymmetrisch dadurch verteilt werden, dass lediglich Expertisen einer einzigen Sichtweise generiert und präsentiert, Gegenstimmen hingegen verdeckt werden. Dies lässt sich mithilfe einer stärkeren Transparenz der Expertenberatung sowie der Sicherstellung von Pluralität im Rahmen der Gesamtberatungsstruktur erreichen. Die Gewährleistung der eigenständigen Entscheidungsbefähigung von Hoheitsträgern, die zumeist Laien sind, über Expertenwissen erfolgt somit dadurch, dass einerseits im Wege der Gesamtstruktur der Expertenberatung pluraler Wissensinput abgesichert und andererseits bei den einzelnen Expertengremien eine "ausgewogene Besetzung" angestrebt wird. Es gilt demnach, im Wege der Besetzung innerhalb von Expertengremien Wissenskonflikte zu provozieren und argumentativ aufzuarbeiten. Dies erfolgt derzeit zumeist mittels einer interdisziplinären Zusammensetzung, wobei gerade im EU-Recht, partiell jedoch auch im deutschen Recht, zusätzlich die Beachtung von Diversitätsgesichtspunkten rechtlich eingefordert wird. Darüber hinaus wird vornehmlich mittels der Beteiligung von Interessenvertretern versucht, eine bestimmte Perspektive in ein Expertengremium einzubringen. Die Offenlegung der hierdurch erkennbaren Dissense sowie die deliberative Auseinandersetzung innerhalb der Expertengremien ermöglicht es grundsätzlich, politisch über Wissen zu urteilen. Demnach muss vornehmlich im Rahmen der Wissensbewertung sichergestellt werden, dass diese zwar wissensbasiert erfolgt, schlussendlich aber demokratisch darüber entschieden wird, was politisch als maßgeblich erachtet wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Laura Münkler, Nothing else matters. Wem Gehör schenken in der "Corona-Krise"?, in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts 1/2021, S. 535–554.

  2. Vgl. beispielsweise Aaron B. Wildavsky, Speaking Truth to Power, Boston 1979; Frank Fischer, Technocracy and the Politics of Expertise, Newbury Park 1990; Sheila Jasanoff, (No?) Accounting for Expertise, in: Science and Public Policy 3/2003, S. 157–162; Gotthard Bechmann, The Rise and Crisis of Scientific Expertise, in: ders./Imre Hronszky, Expertise and Its Interfaces: The Tense Relationship of Science and Politics, Berlin 2003, S. 17–33.

  3. Vgl. F.F. Ridley, French Technocracy and Comparative Government, in: Political Studies 1/1966, S. 34–52, hier S. 45; Jon Elster, The Market and the Forum: Three Varieties of Political Theory, in: James Bohman/William Rehg (Hrsg.), Deliberative Democracy. Essays on Reason and Politics, Cambridge, MA 1997, S. 3–33, hier S. 14; Sabine Maasen/Peter Weingart, What’s New in Scientific Advice to Politics? Introductory Essay, in: dies. (Hrsg.), Democratization of Expertise?, Dordrecht 2005, S. 1–19, hier S. 3; Katie Steele, The Scientist qua Policy Advisor Makes Value Judgments, in: Philosophy of Science 5/2012, S. 893–904, hier S. 903; Christoph Möllers, Wir, die Bürger(lichen), in: Merkur Nr. 818/2017, S. 5–16, hier S. 13.

  4. Vgl. Nico Stehr, Wissenspolitik. Die Überwachung des Wissens, Frankfurt/M. 2003, S. 30.

  5. Näher hierzu Laura Münkler, Expertokratie. Zwischen Herrschaft kraft Wissens und politischem Dezisionismus, Tübingen 2020, S. 107ff.

  6. In diesem Kontext wird der Begriff "Wissen" weitgehend im Sinne von Expertise verwandt.

  7. Vgl. Yaron Ezrahi, The Descent of Icarus. Science and the Transformation of Contemporary Democracy, Cambridge, MA 1990; Alistair S. Duff, Information Liberation? The Relations of Knowledge and Freedom in Social-Democratic Thought, in: Nico Stehr, Knowledge & Democracy: A 21st-Century Perspective, New Brunswick 2008, S. 199–215.

  8. Vgl. Robert A. Dahl, Democracy and Its Critics, New Haven 1989.

  9. Dies wird etwa deutlich bei Robert A. Dahl, A Democratic Dilemma: System Effectiveness versus Citizen Participation, in: Political Science Quarterly 1/1994, S. 23–34.

  10. Vgl. John Dewey, Wissenschaft und Gesellschaft, in: Achim Eschbach/Nora Eschbach (Hrsg.), John Dewey. Liberalismus und gesellschaftliches Handeln. Gesammelte Aufsätze 1888 bis 1937, Tübingen 2010, S. 218–228, hier S. 219f.

  11. Vgl. Bernard Manin, On Legitimacy and Political Deliberation, in: Political Theory 3/1987, S. 338–368, hier S. 357, S. 351, S. 354; Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1998, S. 203; Elster (Anm. 3), S. 11; Mark B. Brown, Expertise and Deliberative Democracy, in: Stephen Elstub/Peter McLaverty (Hrsg.), Deliberative Democracy: Issues and Cases, Edinburgh 2014, S. 50–68, hier S. 50.

  12. Jürgen Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S. 144, S. 161.

  13. Kritisch zu dieser Problematik innerhalb der deliberativen Demokratietheorie Alexander Somek, Demokratie als Verwaltung: Wider die deliberativ halbierte Demokratie, in: Hauke Brunkhorst (Hrsg.), Demokratie in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2009, S. 323–348.

  14. Vgl. Benjamin R. Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994, S. 33.

  15. Ders., The Conquest of Politics: Liberal Philosophy in Democratic Times, Princeton 1988, S. 199ff.

  16. Vgl. ebd., S. 295f.

  17. Vgl. BVerfGE 83, 60 (74). Siehe hierzu insbesondere Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung. Entscheidungsteilhabe Privater an der öffentlichen Verwaltung auf dem Prüfstand des Verfassungsprinzips Demokratie, Berlin 1993, S. 395.

  18. Näher hierzu Münkler (Anm. 5).

  19. Vgl. ebd., S. 247ff., S. 436ff.

  20. Vgl. ebd., S. 237ff.

  21. Eberhard Schmidt-Aßmann, Verwaltungslegitimation als Rechtsbegriff, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 3/1991, S. 329–390.

  22. Vgl. Münkler (Anm. 5), S. 443ff., S. 471ff.

  23. Vgl. Naomi Oreskes, Science and Public Policy: What’s Proof Got To Do With It?, in: Environmental Science & Policy 5/2004, S. 369–383, hier S. 381; Sheila Jasanoff, Transparency in Public Science: Purposes, Reasons, Limits, in: Law and Contemporary Problems 3/2006, S. 21–45, hier S. 36.

  24. Vgl. Brian Wynne, Misunderstood Misunderstandings: Social Identites and Public Uptake of Science, in: Alan Irwin/ders. (Hrsg.), Misunderstanding Science? The Public Reconstruction of Science and Technology, Cambridge 1996, S. 19–46, hier S. 22ff.

  25. Vgl. Münkler (Anm. 5), S. 614ff.

  26. Vgl. Eva Krick, Creating Participatory Expert Bodies. How the Target Selection of Policy Advisers Can Bridge the Epistemic-Democratic Divide, in: European Politics and Society 1/2019, S. 101–116, hier S. 109ff.

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ist Professorin für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
E-Mail Link: laura.muenkler@uni-wuerzburg.de