Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung | Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie | bpb.de

Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie Editorial "Politik sollte sich nicht hinter einer wissenschaftlichen Bewertung verstecken". Fünf Fragen zu Wissenschaft, Kommunikation und Politik Demokratie und Expertise. Ambivalenzen und rechtliche Lösungsansätze (Pseudo-)Wissenschaft und Demokratie im Krisenzeitalter Warum demokratische Beteiligung mehr Wissenschaftskompetenz braucht Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus. Wie die politische Aufladung wissenschaftlicher Expertise polarisiert Objektivität in Anführungszeichen. Über Wissenschaft und Aktivismus Von der Wissenschaftskommunikation zur evidenzbasierten Information Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung

Wissenschaft und Gesellschaft: Neues zur Vertragsgestaltung

Sabine Maasen Barbara Sutter

/ 15 Minuten zu lesen

Die Rolle von Wissenschaft und ihre Bedeutung für Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft werden derzeit neu bestimmt. Um Relevanz und Responsivität zu erhöhen, geraten die Hochschulen sowie die Forschenden selbst in den Fokus.

Wissenschaft und Technologie treiben Innovationen in der Gesellschaft voran und wecken dadurch Erwartungen: Was können sie beitragen zu politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen auf Feldern wie Energie, Demografie, Mobilität, Gesundheit, Klima oder Digitalisierung? Und wenn sie etwas beitragen können, was wären die (nicht-intendierten) Folgen? Mehr noch: Wer wäre zu beteiligen? Die Herausforderungen, so die gegenwärtige Überzeugung, sind nicht nur in der und für die Gesellschaft zu lösen, sondern auch mit ihr. Die Ansprüche an Wissenschaft steigen: Exzellenz wird ebenso gefordert und gefördert wie Relevanz – und dies kann Innovation und Gründungstätigkeit, Bildung und Qualifizierung, gesellschaftliches Engagement oder auch ko-kreative Forschung mit Anspruchsgruppen bedeuten.

Kurz: Die Rolle von Wissenschaft in einer zunehmend fragmentierten und digitalen Gesellschaft sowie ihre Bedeutung für Politik, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft werden derzeit neu bestimmt. Bei dieser Neupositionierung von Forschung und Entwicklung geraten die Forschenden selbst sowie die Hochschulen in den Fokus. Um Relevanz und Responsivität zu erhöhen, soll Forschung transdisziplinärer, sollen die Hochschulen verstärkt auf "Societal Impact", also gesellschaftliche Wirkung, bedacht und die Forschenden engagierter sein. Was in der Wissenschaft als "missionsorientierte Forschung" diskutiert wird, fordert die Hochschulen dazu auf, neben Forschung und Lehre eine dritte Leistungsdimension auszubilden: Transfer. Die Forschenden schließlich sehen sich der Erwartung gegenüber, "Academic Citizenship" zu pflegen.

Diese verschiedenen Diskussionsstränge lassen sich als Teil einer bereits länger andauernden Suche nach einem neuen "Vertrag" zwischen Wissenschaft und Gesellschaft lesen. Der Begriff des Vertrags ist als Metapher zu verstehen: Er beschreibt "Arrangements von Vertrauen und Kontrolle, die in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten getroffen worden sind, und unter denen die Wissenschaft gefördert wird". Immer wieder schlägt dabei das Pendel zuungunsten von Vertrauen und zugunsten der Kontrolle aus. Dies betrifft etwa eine umfassendere Governance der Forschung, aber auch eine verstärkte Erwartung an ihre Relevanz.

Im Folgenden skizzieren wir zunächst drei prototypische Stationen des Vertrags zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebildet haben. Diese Vertragsvarianten kreisen um zwei Pole: um Innovation durch Wissenschaft einerseits und Legitimation der Wissenschaft andererseits. Sie stehen in einem Verhältnis wechselseitiger Steigerung zueinander, und es sind vor allem normative Konzepte, die eine je neue Balance provozieren: etwa Partizipation, Responsivität und Nachhaltigkeit. Diese Skizze bildet den Hintergrund für die These dieses Beitrags, wonach es nun insbesondere den Hochschulen als organisationalen Akteurinnen im Wissenschaftssystem aufgetragen ist, mit der Spannung von Innovation und Legitimation umzugehen. Dies geschieht derzeit prominent über die dritte Leistungsdimension Transfer. Abschließend diskutieren wir, welche Ambivalenzen dies für die Forschenden zeitigt: "Academic Citizenship" verspricht engagiertes, unternehmerisches Agieren, erhöht aber zugleich auch die Anforderungen an die akademische Rolle – und überzieht sie auch. Im Fazit fragen wir danach, wie angemessen die Metapher des "Vertrags" nach dem Eintritt der Hochschulen in die "Vertragsgestaltung" ist.

Gesellschaftsverträge mit der Wissenschaft

Verträge sind als metaphorische Kurzformeln für die Ordnung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beziehungsweise ihrer Teilsysteme zu verstehen. Sie erlauben, diese Beziehung als normatives Resultat einer Aushandlung zu beobachten, die in der Regel implizit bleibt: Sie kann aus artikulierten Ansprüchen und Debatten sowie neuen Strukturen und Maßnahmen nur deduziert werden; neue Vertragsmodelle fallen vor allem immer dann auf, wenn sich Erwartungen deutlich ändern. Nicht zuletzt der forcierte Anspruch an science in, with and for society stellt eine solche auffällige Erwartungsänderung der vergangenen 15 Jahre dar. Bevor wir diese erläutern und danach fragen, ob sich hier ein neuer Gesellschaftsvertrag mit der Wissenschaft andeutet, schauen wir kurz zurück. Denn ein Blick auf die drei Vertragsmodelle, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet, einander jedoch nicht völlig abgelöst haben, zeigt, dass Vertrauen in die und Kontrolle der Wissenschaft immer neu ausbalanciert werden. Idealtypisch lassen sich das lineare, das finalisierte und das hybride Modell unterscheiden.

Das lineare Modell: Nach dem Zweiten Weltkrieg bildete sich ein am sogenannten linearen Innovationsmodell orientierter Vertrag heraus, der zutiefst vom Vertrauen in die Eigenrationalität und Selbststeuerungskapazität des Wissenschaftssystems geprägt war. Das Modell basiert auf der Annahme, dass Innovationen durch Wissen entstehen, das zunächst in der Grundlagenforschung produziert wird und sodann über die Anwendungsforschung in technische und gesellschaftliche Entwicklungen diffundiert. Politik und Staat beschränken sich darauf, angemessene Ressourcen bereitzustellen. Bei aller Umstrittenheit dieses Modells: Unbestritten ist, dass die Relevanz von Forschung für wirtschaftliches Wachstum ab etwa Mitte des 20. Jahrhunderts merklich an Bedeutung gewann. Externe Zweckbestimmungen wissenschaftlicher Forschung stießen hingegen sowohl in der Wissenschaft selbst als auch im politischen System weithin auf Ablehnung.

Das finalisierte Modell: Die zentrale Idee der Finalisierung der Wissenschaft ist, dass Disziplinen sowohl vor als auch nach ihrer zunehmenden theoretischen Schließung die Richtung der Theorieentwicklung nicht allein determinieren. Insbesondere über die theoretische Relevanz weiterer Arbeit muss daher nach zusätzlichen Kriterien entschieden werden. Nach Vorstellung der Vertreter dieses Modells sollte die Finalisierungsthese zu einer "wissenschaftstheoretischen Kartographie" ausgearbeitet und der Wissenschaftspolitik für eine rationale Forschungsplanung an die Hand gegeben werden. Im Kern der (auch medialisierten) Kritik an dieser These stand die Auffassung, dass sie Forschung tout court der politischen Planung überantworte. Gleichwohl benennt das Modell zentrale Problemfelder, die bis heute Gegenstand von Debatten und Zielkonflikten sind: Es geht zugleich um die Unverzichtbarkeit von Wahrheit für Forschung, eine offene Gesellschaft und die Notwendigkeit eines möglichst produktiven Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft.

Das hybridisierte Modell: Dem Prototyp "radikale Autonomie der Wissenschaft" (Modell der Linearität) und dem Prototyp "Steuerbarkeit einer Wissenschaft in frühen und späten Phasen" (Modell der Finalisierung) folgt ein Prototyp nochmals anderer Art: ein Modell der Hybridisierung. Zu Beginn der 1990er Jahre machten sechs Wissenschaftsforscher:innen auf einen neuen Modus der Wissensproduktion ("Mode 2") aufmerksam. In allen seinen idealtypischen Charakteristika scheint der Umbau dadurch geprägt, dass sich die Systeme Wissenschaft und Gesellschaft entdifferenzieren und hybridisieren. Im Einzelnen geht es um anwendungsorientierte Wissensproduktion, Transdisziplinarität, die Heterogenität wissensproduzierender Einrichtungen, "social accountability", die Reflexivität der Forschung sowie um nachfrageorientierte Qualitätskontrolle. Geltung und Reichweite des Erklärungsanspruchs sowie die Vermischung von normativen und deskriptiven Elementen werden bis heute debattiert. Hier ist vor allem die zentrale Vertragsidee relevant: Sie forciert eine kontinuierliche und umfassende Berücksichtigung externer Ansprüche.

Spannung von Innovation und Legitimation

Von allen Treibern für immer neue Vertragsvarianten sind insbesondere die gestiegene Bedeutung der Forschung für Innovation und der zugleich gestiegene Bedarf nach ihrer Legitimation hervorzuheben. Neues und praktisch relevantes Wissen durch Forschung sowie die Rechtfertigung von Forschung zu erwarten, ist nicht neu, wird aber nun ausdrücklicher an die Forschung herangetragen und zudem in ambivalenter Art und Weise verknüpft: Auf der einen Seite gilt Wissen als wichtige Ressource für gesellschaftliche Innovationen, auf der anderen Seite gilt es, den Blick auf normative Ansprüche ebenso wie auf epistemische Aspekte guter Forschung nicht zu verlieren. Normative Ansprüche umfassen etwa die Sicherheit der Forschung; epistemische Aspekte etwa Richtlinien für gute wissenschaftliche Praxis.

Diese Situation verschärft sich angesichts des Umstands, dass unterdessen "Innovationsgesellschaft" zur bevorzugten Selbstbeschreibung gegenwärtiger Gesellschaften avanciert ist. In ihnen erscheint jede einzelne Innovation "‚nur noch‘ als Übergang für weitere, immer wieder neu im Kommen befindliche. Alles gilt es zu erneuern; alles erscheint durch Innovationen verbesserbar. Innovation wird so zu einem Handlungsimperativ – auch jenseits der klassischen Bereiche von Wirtschaft und Wissenschaft." Entsprechend sind Innovationen ubiquitär, dauerhaft und vielfältig. Und sie werden Gegenstand gesellschaftlicher Reflexivität, indem sie etwa verstärkt daraufhin befragt werden, ob sie auf wahrgenommene Probleme antworten (Responsivität), ob sie Teilhabe von Stakeholdern erlauben (Partizipation) und robuste Lösungen vorantreiben (Nachhaltigkeit).

Werden solche externen Ansprüche mehr und mehr berücksichtigt, gehen damit stets Versicherungen einher, dass es immer noch einen "epistemischen Kern der Wissenschaft" gebe, der sich nicht transwissenschaftlich verhandeln lasse. Dennoch ist die Spannung zwischen epistemischem Kern und gesteigerter Externalisierung der Wissenschaft konstitutiv. Während sich viele Programme eher ergänzend und begleitend zur "eigentlichen" Forschung verhalten, ändert sich dies durch Praktiken wie "Citizen Science" und "Responsible Research and Innovation" (RRI), die ihrerseits stark gefördert werden. Mindestens ebenso bedeutsam sind aktuelle Entwicklungen, die einen spezifischen Player in Stellung bringen, um forschungsbasierte Innovativität und Relevanzerwartung infrastrukturell zu sichern: die Hochschule.

Implementierung einer dritten Leistungsdimension

Die Zeiten, in denen die Wissenschaft aufgrund ihrer unhinterfragten Autorität eine Sonderstellung in der Gesellschaft einnahm, sind lange vorüber. Mitte der 1980er Jahre leitete der Bodmer-Report der Royal Society, der Britischen Akademie der Wissenschaften, verstärkte Bemühungen in Sachen Wissenschaftskommunikation ein (Public Understanding of Science). Diese wurden jedoch als zu linear-belehrend kritisiert. Es entstanden in der Folge Förderprogramme und Initiativen, die für mehr Relevanz der Wissenschaft sorgen wollen. Ausgelöst durch die Humangenomforschung konzentrieren sich Programme wie ELSA (ethische, legale und soziale Aspekte) auf die empirisch gestützte Reflexion von Forschung; Programme wie PEST (politische, ökonomische, sozio-kulturelle und technologische Faktoren), etwa 2002 im Science and Society Action Plan der EU formuliert, setzen auf Formate von Interaktion und Engagement mit der Wissenschaft; Programme wie RRI, prominent annonciert in Horizon 2020 der EU, nehmen die laufende Mitgestaltung der Forschung durch Stakeholder – vom Agenda-Setting über die Forschung selbst bis hin zu ihrer Bewertung und gegebenenfalls Nutzung – in den Blick.

Die Relevanz der Forschung steht insbesondere als Gegenstand wissenschaftspolitischer Förderung also schon länger auf der Agenda. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung schalten sich nun auch Hochschulen ein, und zwar systematisch: Sie sind am "Societal Impact" ihrer Forschung interessiert und zu diesem Zweck etablieren sie "Transfer". Genau dies wird unter dem Stichwort "Third Mission" auch hochschulpolitisches Ziel. Allerdings: Hinter "Societal Impact" verbirgt sich kein klares, gar einheitliches Programm und hinter "Transfer" keine einheitliche Form der Institutionalisierung.

Mit "Societal Impact" ist zunächst jede Form ökonomischer, kultureller, politischer oder auch sozialer Wirkung gemeint, die sich als Folge von wissenschaftlicher Forschung, Technologieentwicklung oder künstlerischer Produktionen beobachten lässt. Mit Blick auf gesellschaftliche Wirkungen lassen sich zwei grundsätzliche Richtungen unterscheiden: Zum einen geht es um die Relevanz der Wissenschaft für die Gesellschaft, vor allem für zivilgesellschaftliche Akteur:innen, Innovationsprozesse oder politische Entscheidungsprozesse. Zum anderen geht es um die Relevanz der Gesellschaft für die Wissenschaft, etwa um die Beteiligung außerwissenschaftlicher Akteur:innen an und in der Forschung, an der Bewertung von Forschungsoptionen und -programmen oder an der Entwicklung von Innovationen. Auch die Wissenschaftsförderung nimmt nun gezielter die Hochschulen selbst in den Blick; paradigmatisch sind hier das Förderprogramm "Exzellenzstrategie" und die Förderinitiative "Innovative Hochschule" des Bundes und der Länder.

Dies markiert, so unsere These, einen deutlichen Wandel, wie die Relevanz von Forschung artikuliert und ausgehandelt wird. In der Metaphorik des Vertrages gesprochen: Es wird kein neuer Vertrag ausgehandelt, sondern das hybride Modell spezifiziert. Aufseiten der Wissenschaft wird ein deutlich sichtbarer Vertragspartner namens "Hochschule" identifiziert, der es sich zur Aufgabe macht, einen identifizierten Vertragsgegenstand namens "Dritte Leistungsdimension: Transfer" mit weiteren "Klauseln" zu konkretisieren. Denn bislang ist Transfer politisch so überdeterminiert wie wissenschafts- und hochschulpraktisch unterdefiniert. Erstmals ergibt sich die Situation, dass Hochschulen hier Erwartungsmanagement betreiben können: Denn mit Transfer sind grundsätzlich alle strategischen, infrastrukturellen und operativen Weichenstellungen gemeint, die Hochschulen vornehmen, um gesellschaftliche Wirkung zu erzielen. Im Folgenden illustrieren wir diese Weichenstellungen am Beispiel der Universität Hamburg.

Strategische Weichenstellungen beziehen sich einerseits auf die neue Rollenidentität, etwa "Flagship University", zum anderen auf die Formulierung eines grundlegenden Transferverständnisses im Sinne von "Knowledge Exchange", eines Mission Statements (wie "innovating and cooperating for a sustainable future") sowie eines Profils aus der Vielfalt der möglicher Transfermodalitäten (Innovation und Gründung, Bildung und Qualifizierung, gesellschaftliches und kulturelles Engagement sowie ko-kreative Forschung). Mit diesen strategischen Weichenstellungen legt eine Hochschule zugleich fest, wer ihre gesellschaftlichen Vertragspartner:innen sind: Unternehmen, Theater, spezifische zivilgesellschaftliche Akteur:innen, Studierende, Alumni und andere mehr.

Infrastrukturelle Weichenstellungen beziehen sich auf personelle Aspekte (wie Verankerung des Transfers im Hochschulpräsidium, qualifiziertes hochschulprofessionelles Personal), organisationale Aspekte (etwa Einrichtung einer zentralen Transferagentur und dezentraler Transferstellen) und budgetäre Aspekte ebenso wie etwa digitale Kommunikations- und Vernetzungsinfrastrukturen. Mit diesen infrastrukturellen Weichenstellungen legt eine Hochschule zugleich die Sichtbarkeit und Intensität der Beförderung transferbezogener Aktivitäten fest.

Operative Weichenstellungen beziehen sich auf die konkreten Maßnahmen (wie beraten, beforschen, kommunizieren, vernetzen, dokumentieren, evaluieren) und deren Ziele (beispielsweise Sensibilisierung, Sichtbarmachung, Services); sie beziehen sich auch auf die Strukturierung von Kooperationsbeziehungen zu anderen transferbezogenen Einheiten in der Hochschule inklusive ihrer Verwaltung sowie Anspruchsgruppen außerhalb der Hochschule. Mit operativen Weichenstellungen verstetigt eine Hochschule ihre Transferarbeit und macht kenntlich, auf welche Weisen und auf welchen Ebenen (zentral, fakultär, regional) Transfer adressiert wird.

Im Zuge dieser Weichenstellungen legen Hochschulen fest, wo und wie sie Relevanz erzeugen und woran sie sich auch messen wollen beziehungsweise messen lassen wollen. An dieser Stelle folgt dann nicht selten die Kritik, wonach Transfer unweigerlich die Autonomie der Wissenschaft einschränke und zu bloßer Nützlichkeitsorientierung führe. Bei näherer Betrachtung ist dies eine unproduktive Engführung. Der Soziologe Niklas Luhmann hat vorgeschlagen, dreierlei zu unterscheiden, wenn man auf die Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Gesellschaft schaut, nämlich Funktion, Leistung und Reflexion: Die Funktion der Wissenschaft besteht demnach im "Gewinnen neuen, unvertrauten, überraschenden Wissens"; die Leistung besteht darin, brauchbares Wissen für die Ökonomie, die Politik oder die Zivilgesellschaft bereitzustellen; und reflektiert werden muss die Spannung zwischen Funktionserwartungen und Leistungserwartungen, damit es nicht zu Blockaden kommt.

Was ist daran wichtig? Die Frage nach Transfer und Impact der Forschung ist nicht nur eine Dienst-/Leistungsfunktion der Wissenschaft für die Gesellschaft. Tatsächlich steht die Erwartung gesellschaftlicher Wirkung in notwendiger Spannung zu überraschendem Wissen und disruptiven Technologieentwicklungen. Damit und wenn sie Wirkungen erzeugen sollen, müssen Hochschulen dies in ihre Strukturen und Prozesse einbauen. Dazu bemühen sie sich um die Sichtbarkeit von Wissensangeboten; dies ist eine Vorbedingung dafür, dass dieses Wissen überhaupt aufgegriffen werden kann. Und sie unterstützen Bemühungen von Forscher:innen, das von ihnen erzeugte Wissen in Bezug auf gesellschaftliche Probleme und Debatten zu artikulieren. Dies erhöht die Passform für gesellschaftliche Akteur:innen und damit die Wahrscheinlichkeit, dass in weiteren Prozessen Impact, also Wirkung oder gar Wirkungen, entsteht. Ob, wann und wie es zu Impact kommt, liegt jedoch nicht in ihrer Hand. Was Hochschulen beeinflussen können, ist es, Bedingungen für Impact zu schaffen.

Zentrale Aufgabe der Hochschule ist mithin der produktive Einbau von Transfererwartungen, ihre Filterung durch responsive Strukturen und die Übersetzung in die eigenen Praktiken. Es geht um beides und dies in konstitutiver Spannung: die inner- und außerwissenschaftliche Anschlussfähigkeit wissenschaftlichen Wissens.

Ambivalente Konsequenzen für Transferakteur:innen

Der Anspruch an diese doppelte Anschlussfähigkeit von Forschung ändert das, was wir, in Erweiterung von Überlegungen der Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt, "sozio-epistemische Begegnungsräume" nennen wollen. In diesen Räumen finden wir auf der Seite der Gesellschaft den "Scientific Citizen": Im Unterschied zu bloßen Nutzer:innen oder Kund:innen ist "Scientific Citizenship" (pro)aktiv gedacht. Es geht zum einen um "das Recht, über Wissenschaft und Technik informiert zu werden, mitzureden und möglicherweise auch mitzuentscheiden, zum anderen um die Pflicht, sich zu informieren, sich auseinanderzusetzen, Verantwortung mitzutragen". Derzeit erweitert sich diese dialogisch gedachte Idee um ko-kreative und ko-innovative Formate. Auf der Seite der "Wissenschaft" finden wir das Rollenmodell eines "Academic Citizenship". Die Erwartung an Forschende unter diesem Label umfasst interne wie externe Dienstleistungen. Dazu gehören zum einen – noch forschungsnah – die Begutachtung von Manuskripten, Gastredaktionen, die Betreuung jüngerer Kolleg:innen und Weiterbildungsangebote, zum anderen aber – näher am Transfer – auch Aufbau und Pflege von Kontakten zur Industrie und zu Berufsverbänden, die Beratung von und mit politischen wie wirtschaftlichen Entscheidungsträger:innen oder Ausgründungen.

Obwohl "Scientific" ebenso wie "Academic Citizenship" noch wenig konkretisiert, gar standardisiert ist und flächendeckend qualitätsgesichert geschieht, wachsen die Ansprüche an beide Seiten und ihre sozio-epistemische Begegnung. Gearbeitet wird insbesondere daran, Forschenden bestimmte Aufgaben strukturell zuzuweisen und Aktivitäten in diesem Rahmen damit dokumentierbar und evaluierbar zu machen. Ziel ist zum einen, die Bedingungen für die Forschenden, die bisher oftmals Zeit und andere Ressourcen für individuelle Transferaktivitäten vermissen, zu verbessern. Zum anderen eröffnet sich damit auch die Möglichkeit, Verantwortungsübernahme von Wissenschaftler:innen nicht nur zu erwarten, sondern auch zu überprüfen. Frei nach dem Motto: Vertrauen in die Selbstverpflichtung der Forschenden als "Academic Citizens" ist gut, Kontrolle ihrer tatsächlichen Leistungen ist besser. Doch auch hier gilt, was für den "Societal Impact" der Hochschulen behauptet werden kann: Die Festlegung möglicher Aufgaben, also an was sich die Forschenden messen wollen beziehungsweise messen lassen wollen, ist nicht nur gestaltungsoffen, sondern auch -bedürftig.

Fazit

Die beschriebenen Entwicklungen betreffen die Hochschulen, die Hochschularten und die Mitglieder von Hochschulen weder in gleicher Weise noch gleichermaßen. Nicht in gleicher Weise: Da "Third Mission" in notwendiger Spannung zu der jeweils betriebenen Forschung und zum Forschungsprofil beziehungsweise -auftrag steht, sind auch differenzierte Profile in Sachen Transfer erwartbar. Nicht gleichermaßen: Ungleichzeitigkeiten ergeben sich nicht zuletzt aus unterschiedlichen Lesarten des Transfers. Handelt es sich um einen strukturverändernden Impuls für Forschung und/oder Hochschule oder eher um einen Ausbau bereits institutionalisierter Pfade (Anwendungsforschung, Wissenschafts- und Technologietransfer etc.)?

So oder so: Die Rede von einem Gesellschaftsvertrag zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bleibt zwar eine Metapher, doch war sie noch nie so angebracht wie im Moment – nicht zuletzt drückt sie wie ein juristischer Vertrag eine hohe Selbstbindung aus. "Societal Impact" der Hochschulen und "Academic Citizenship" ihrer Mitglieder lassen sich als immer konkretere Klauseln eines Vertrages begreifen, der, wenn auch nicht förmlich ratifiziert, so doch Stück für Stück in Kraft gesetzt wird. Es geht jedoch nicht darum, vorab festgelegte Leistungen und Gegenleistungen zwischen klar definierten Partnern zu erfüllen, wie es bei Verträgen im juristischen Sinne der Fall wäre. Vielmehr bringen Hochschulen die sukzessive Definition einer ganzen Leistungsdimension im Sinne einer Vertragsgestaltung zu allererst hervor. Mit der Metapher des Vertrages und ihrem Assoziationsraum (Vertragspartner, Klauseln etc.) sieht man, wie "Third Mission", obschon sie immer noch als unterbestimmte Anrufung auftritt, nun dennoch allmählich performative Kraft entfaltet.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Sabine Maasen/Sascha Dickel, Partizipation, Responsivität, Nachhaltigkeit. Zur Realfiktion eines neuen Gesellschaftsvertrags, in: Dagmar Simon et al. (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftspolitik, Wiesbaden 2016, S. 225–242.

  2. Peter Weingart, Die Wissenschaft der Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit der Wissenschaft, in: Barbara Hölscher/Justine Suchanek (Hrsg.), Wissenschaft und Hochschulbildung im Kontext von Wirtschaft und Medien, Wiesbaden 2011, S. 45–61, hier S. 46.

  3. Vgl. Maasen/Dickel (Anm. 1), S. 226.

  4. Vgl. Richard Owen/Phil Macnaghten/Jack Stilgoe, Responsible Research and Innovation: From Science in Society to Science for Society, With Society, in: Science and Public Policy 6/2012, S. 751–760.

  5. Vgl. Maasen/Dickel (Anm. 1).

  6. Vgl. David Guston, Retiring the Social Contract for Science, in: Issues in Science Technology 4/2000, Externer Link: https://issues.org/p_guston.

  7. Vgl. Gernot Böhme/Wolfgang van den Daele/Wolfgang Krohn, Die Finalisierung der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Soziologie 2/1973, S. 128–144.

  8. Vgl. Thomas Wieland, Neue Technik auf alten Pfaden? Forschungs- und Technologiepolitik in der Bonner Republik. Eine Studie zur Pfadabhängigkeit des technischen Fortschritts, Bielefeld 2009, S. 14f.

  9. Vgl. Gerard Radnitzky/Gunnar Andersson, Was wahr ist, was frei macht, 23.4.1976, Externer Link: http://www.zeit.de/1976/18/was-wahr-ist-was-frei-macht/komplettansicht.

  10. Vgl. Maasen/Dickel (Anm. 1).

  11. Vgl. Michael Gibbons et al., The New Production of Knowledge. The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies, London 1994.

  12. Vgl. Rainer Fretschner, Zwischen Autonomie und Heteronomie – Wissenschaft als Dienstleistung. Eine systemtheoretische und praxeologische Analyse des Strukturwandels der Wissenschaft, Dissertation, Ruhr-Universität Bochum 2006, Externer Link: https://hss-opus.ub.ruhr-uni-bochum.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/1465/file/diss.pdf.

  13. Vgl. Helga Nowotny, Im Spannungsfeld der Wissensproduktion und Wissensvermittlung, Zürich 1997, S. 12, Externer Link: https://www.kommunikation.uzh.ch/static/unimagazin/archiv/1-97/wissensproduktion.html.

  14. Vgl. Maasen/Dickel (Anm. 1), S. 230.

  15. Vgl. Sabine Maasen, The Quest for Reproducibility: Viewed in the Context of Innovation Societies, in: Harald Atmanspacher/dies. (Hrsg.), Reproducibility: Principles, Problems, Practices, and Prospects. A Handbook, New York 2015, S. 541–562.

  16. Arnold Windeler, Reflexive Innovation. Zur Innovation in der radikalisierten Moderne, in: Werner Rammert et al. (Hrsg.), Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, Wiesbaden 2016, S. 69–110, hier S. 70.

  17. Vgl. Maasen/Dickel (Anm. 1), S. 231ff.

  18. Vgl. stilbildend Helga Nowotny/Peter Scott/Michael Gibbons, Re-thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Oxford 2001.

  19. Vgl. The Royal Society, The Public Understanding of Science, Externer Link: https://royalsociety.org/~/media/royal_society_content/policy/publications/1985/10700.pdf.

  20. Vgl. Alexander Bogner, Ist gesellschaftliche Relevanz von Forschung bewertbar und wenn ja, wie?, in: Forschung und Gesellschaft 4/2019, S. 29–46, hier S. 31ff.

  21. Vgl. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 216.

  22. Vgl. Julian Hamann/David Kaldewey/Julia Schubert, Ist gesellschaftliche Relevanz von Forschung bewertbar und wenn ja, wie?, in: Forschung und Gesellschaft 4/2019, S. 13–27.

  23. Vgl. Ulrike Felt/Maximilian Fochler, Der gesellschaftliche Impact sozialwissenschaftlichen Wissens in Österreich: Wirkungswege, Messung, Potentiale, Wien 2018, S. 4, Externer Link: https://impact-sowi.univie.ac.at/.

  24. Vgl. Ulrike Felt et al., Transdisziplinarität als Wissenskultur und Praxis: Eine Analyse transdisziplinärer Projektarbeit im Programm ProVISION aus der Sicht der Wissenschaftsforschung, Wien 2013, S. 8.

  25. Ulrike Felt, Scientific Citizenship: Schlaglichter einer Diskussion, in: Gegenworte 11/2003, S. 15–20, hier S. 19.

  26. Vgl. Bruce McFarlane, The Academic Citizen. The Virtue of Service in University Life, London 2007.

  27. Vgl. Nicola J. Beatson et al. 2021, The Gradual Retreat from Academic Citizenship, in: Higher Education Quarterly, 8.6.2021, Externer Link: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/hequ.12341.

  28. Vgl. bspw. Giacomo Carli/Maria Rita Tagliaventi, Can You Do all in One Professional Label? Complementarity, Substitution, and Independence Effects in Academic Life, in: Higher Education, 19.5.2022, Externer Link: https://doi.org/10.1007/s10734-022-00868-y.

  29. Vgl. Tessa Rodema/Jacqueline Broese/Frank Küpper, Who is Going to Believe Me, if I Say 'I’m a Researcher'? – Scientists’ Role Repertoires in Online Public Engagement, in: Journal of Science Communication 3/2021, S. 1–19, hier S. 15.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Sabine Maasen, Barbara Sutter für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Weitere Inhalte

ist Professorin für Wissenschafts- und Innovationsforschung an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg.
E-Mail Link: sabine.maasen@uni-hamburg.de

ist Akademische Oberrätin an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.
E-Mail Link: barbara.sutter@uni-hamburg.de