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Der Arabische Frühling und seine Folgen

Stephan Rosiny Thomas Richter Stephan Rosiny/Thomas Richter

/ 21 Minuten zu lesen

Fünf Jahre nach Ausbruch des Arabischen Frühlings ist die Bilanz ernüchternd: Die Hoffnungen auf eine politische Zeitenwende sind vorerst gescheitert, stattdessen prägen Repression, Bürgerkriege und Dschihadismus viele Länder des Nahen Ostens. Dennoch markieren die Proteste eine historische Zäsur, die Perspektiven für die Zukunft eröffnet.

Ausdruck von Stolz und Hoffnung: Eine Wandmalerei im libyschen Tripolis, aufgenommen am 16. März 2012, zeigt Läufer mit den Flaggen Libyens, Ägyptens und Tunesiens. Sie bringen die "Flamme der Freiheit" auf ausgestreckte Arme zu, die nach der Beschriftung Syrien und den Jemen versinnbildlichen. (© picture-alliance, zb / Matthias Tödt)

Anfang des Jahres 2011 erfasste eine breite Protestwelle, die als "Arabischer Frühling" bezeichnet wird, den Nahen Osten. In fast allen Ländern der Region kam es zu spontanen Demonstrationen, die sich in einigen Staaten zu breiten Protestbewegungen gegen die jeweiligen Regime ausweiteten und die autoritär herrschenden Präsidenten in Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen stürzten. In den meisten Ländern wurden in der Folge – wenn auch oft nur kosmetische – Reformen durchgeführt.

Über fünf Jahre später lässt sich leider nur eine ernüchternde Bilanz des Arabischen Frühlings ziehen, denn kaum eine mit ihm verbundene Erwartung erfüllte sich. Weder kam es zu einer breiten Demokratisierung in der Region, noch gelang es – mit Ausnahme Tunesiens –, verfassungsmäßig garantierte und staatlich geschützte Freiheitsrechte durchzusetzen. Die soziale und wirtschaftliche Lage hat sich in den meisten Ländern weiter verschlechtert, und fast alle autoritären Regime konnten ihre Herrschaft nach einer Phase der Unsicherheit erneut festigen. Mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, aus partiellen Reformen, finanziellen Vergünstigungen, dem Einsatz von Überwachungstechnologie und staatlicher Repression bis hin zu gewaltsamer Unterdrückung gelang es den Autokraten, die heterogenen Oppositionsbewegungen zu kooptieren, zu spalten, einzuschüchtern und zu unterwerfen. Einzig in Tunesien kam es zu einem Regimewechsel, der in einen anhaltenden, aber keineswegs unumkehrbaren Demokratisierungsprozess mündete.

In Syrien, Libyen, im Jemen und im Irak eskalierten oppositionelle Proteste und gewaltsame staatliche Repression in Bürgerkriege, die durch die Intervention regionaler und internationaler Akteure zusätzlich angeheizt wurden und bis heute anhalten. Die Folge waren schwere regionale Verwerfungen, deren Auswirkungen bis nach Europa reichen: Im Machtvakuum zerfallender Staaten haben sich die Dschihadisten von al-Qaida und vom "Islamischen Staat" (IS) ausgebreitet, die weltweit Terroranschläge verüben. Millionen von Menschen fliehen vor den Kriegen, viele von ihnen nach Europa. Doch wie konnte es dazu kommen, dass der mit so viel Hoffnung begonnene Arabische Frühling zur Rückkehr der Autokraten und zum Ausbruch von Bürgerkriegen führte?

QuellentextGestrandet in Libyen

[…] Kutobo lebt […] in einem Klassenraum. Die Behörden von Misrata haben eine Schule am Rand der Stadt in ein Auffanglager für illegale Migranten umgewandelt. Am Ende des Flures, an dem sich die Unterrichtsräume reihen, ist nun eine schwere Gittertür montiert. Die Räume […] sind voller junger Männer, die darauf warten, dass die Zeit verstreicht. Sie sehen müde aus, mancher ist gezeichnet von Hautausschlägen, Hunger, Schlägen. […]

"Wir wissen nicht, was wir tun sollen", sagt Kutobo, Anfang zwanzig, aus Senegal. Mechaniker von Beruf, wie er auf Französisch erklärt. Er schaut verstohlen auf den uniformierten Wärter […]. "Sie schlagen uns einfach immer weiter." Da treten mehrere der jungen Männer dazu, ziehen im Schutz der Gruppe ihre T-Shirts hoch, entblößen ihre Oberkörper, auf denen sich lange Striemen aneinanderreihen. […]

Es würde ihnen wohl kaum etwas nützen, ihre Botschaften zu informieren. Von Vertretern der örtlichen Sicherheitskräfte heißt es, dass die Diplomaten keinen Finger krumm machten, um die Rückführung zu unterstützen. […] "Sie scheren sich einen Dreck um ihre Landsleute", sagt [Muhammad] Kahousch [ein Polizeioffizier, der das Auffangzentrum von Misrata leitet]. So sei es unmöglich, die afrikanischen Migranten wieder abzuschieben. Er fühlt sich allein gelassen. Von den Herkunftsstaaten, von Europa, auch von den Politikern in der Hauptstadt […]

Zwei Stunden Autofahrt von seinem Büro entfernt toben in der Stadt Sirte blutige Kämpfe gegen die Dschihadisten des "Islamischen Staates". Libyen ist zerrissen, verstrickt in einen Machtkampf um die Ressourcen des Staates, der Hunderttausende zur Flucht im eigenen Land gezwungen hat. Die Wirtschaft ist im Niedergang, der Wert der Landeswährung im freien Fall. Die Behörden haben ebenso wenig Geld wie die Bevölkerung, die sich für die Ausgabe des streng rationierten Bargeldes durch lange Schlangen quälen muss. Und dann auch noch die Menschen, die zu Tausenden über die offenen Südgrenzen auf dem Weg nach Europa nach Libyen strömen. Gerade ist wieder Saison, und immer wieder werden in diesen Tagen die Leichname derer, die die Überfahrt nicht überleben, an die Strände gespült.

"Es sind zu viele", sagt der Offizier Muhammad Kahousch. Ihm fehlten die Mittel, die Lage zu bewältigen. Gäbe es nicht ein paar Geschäftsleute mit gutem Herz – er wäre aufgeschmissen, sagt er. […]

Mancher der Aufgegriffenen, die jetzt unter seiner Führung in der Schule von Misrata einsitzen, hatte weiterziehen wollen, sobald er das Geld für die Überfahrt beisammen gehabt hätte. Andere sagen, sie wollten in Libyen bleiben und die Familie oder das Dorf in der Heimat mit dem Geld versorgen, das sie hier verdienen. Wie in den anderen Städten Libyens gehören die afrikanischen Tagelöhner auch in Misrata zum Straßenbild. Sie warten an Kreuzungen und Kreisverkehren in der Hitze darauf, dass jemand anhält und sie für eine Handvoll Dinar beschäftigt. […]

[…] Die Flucht nach Europa erfolgt in Wellenbewegungen. Zunächst geht es in den Süden Libyens, in die Stadt Sabha. […] Von dort aus geht es nach einer Zeit dann aufs Meer und weiter nach Europa – wenn das nötige Geld aufgetrieben wurde.

"Die Schmugglerbanden üben großen Druck auf uns aus", berichtet eine junge Frau von der Elfenbeinküste, die ebenfalls in Misrata aufgegriffen wurde und jetzt im Frauentrakt des Auffangzentrums sitzt. Sie erzählt von Schlägen, auch von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen, denen Frauen während der Reise ausgesetzt sind. Und sie sagt wie auch die Männer ein Stockwerk weiter unten: Die Fahrt übers Mittelmeer sei nichts im Vergleich zu der langen Reise durch die Wüste. "Wer vom Lastwagen fällt, wird zurückgelassen. Das ist der sichere Tod".

[…] [D]ie Gründe für die Bewegungsfreiheit der Menschenhändler sind vor allem die Abwesenheit der Staatsmacht, Rechtlosigkeit und das Chaos. Milizen nehmen Recht in eigene Hände. Oft verfolgen sie Eigeninteressen und sind in den Schmuggel von Benzin, Menschen oder Waffen verstrickt. In Sabha und Umgebung bekämpfen sich die Stämme und Bevölkerungsgruppen seit Jahren untereinander. Inzwischen haben sich die Fehden politisch aufgeladen, indem sie sich den verfeindeten Lagern des innerlibyschen Machtkampfes angeschlossen haben. Und inmitten des Chaos ringt die unter UN-Vermittlung aufgestellte Regierung der nationalen Einheit darum, Fuß zu fassen.

Aber überall sind die Stammesbande wichtiger als das Interesse des Landes. Kriminelle werden nicht ausgeliefert, weil sie Söhne einer Stadt oder eines Clans sind. Vielerorts profitieren auch Dschihadistengruppen, die mit den Schmugglern gemeinsame Sache machen. Die Schleuserbanden haben leichtes Spiel, weil sie gedeckt werden oder unter dem Schutz der Milizen und korrupter Funktionäre agieren. Also bleibt nur eine Möglichkeit: die Flüchtlinge festzusetzen, die dann in den überlasteten Auffanglagern ausharren müssen. Wenn die Lager zu voll werden, dann werden Migranten freigelassen. Und auch korrupte Wärter eröffnen manchem Insassen einen Ausweg.

"Das alles ist ein Riesengeschäft, das sicher einige Milizionäre zu Millionären gemacht hat", sagt der junge Helfer im Auffangzentrum von Misrata. "Wenn du ein paar Boote kaufen kannst und ein paar Cousins mit Kalaschnikows hast, dann bist du dabei", sagt er. Schmuggel sei eben eine relativ sichere Erwerbsquelle in Zeiten der Wirtschaftskrise und der Rechtlosigkeit. […]

Christoph Ehrhardt, "Warten auf das Boot", in. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. August 2016. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Ein epochaler Einschnitt


Der Arabische Frühling begann mitten im Winter 2010/2011 mit einem unter den damaligen autoritären Regimen fast bedeutungslosen Ereignis; vergleichbar mit dem aus der Chaostheorie stammenden sprichwörtlichen "Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslöste". Am 17. Dezember 2010 beschlagnahmten in der kleinen tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid lokale Ordnungskräfte den Verkaufswagen des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi, weil er keine Verkaufslizenz besaß. Sie folgten damit einer üblichen Praxis, wobei dem jungen Händler vermutlich vor allem "Beziehungen" zu einer einflussreichen Person oder das nötige Kleingeld für eine Bestechung fehlten. Im Handgemenge soll ihn zudem eine Polizistin geohrfeigt haben. Sein bei einer höheren Stelle eingereichter Protest wurde abgelehnt. Eine Mischung aus Demütigung und Ohnmacht trieb ihn vermutlich dazu, sich anschließend vor dem örtlichen Verwaltungsgebäude öffentlich selbst zu verbrennen.

In den darauf folgenden Stunden und Tagen kam es zu zunächst spontanen, lokal begrenzten und später zu landesweiten Solidaritätskundgebungen. Die tunesischen Sicherheitskräfte reagierten anfangs der üblichen Praxis entsprechend, indem sie versuchten, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen; dabei kam es zu ersten Toten. Doch diesmal lief alles anders: Im Nachrichtenkanal al-Jazeera, der in Katar seinen Sitz hat, weite Teile der arabischen Bevölkerung erreicht und sich zum wichtigsten Mobilisierungsmedium des Arabischen Frühlings entwickeln sollte, erschienen mit Handy-Kameras aufgenommene Filme der Selbstverbrennung und der anschließenden Proteste. Bei der lokalen Verbreitung von Information und der Mobilisierung landesweiter Proteste spielten zusätzlich soziale Medien wie etwa Facebook eine Rolle. Schnell erreichte die Empörungswelle die tunesische Hauptstadt Tunis, verbreitete sich von dort weiter in benachbarte Länder und löste dort neue Protestwellen aus, über die dann abermals al-Jazeera berichtete.

In den ersten Tagen und Wochen des Arabischen Frühlings schlug die jahrzehntelang angestaute Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit in offene Wut gegen die autoritären Regime um, die sich durch die routinemäßige staatliche Repression nur noch steigerte. Immer mehr Menschen schlossen sich den Protesten an und durchbrachen gemeinsam die Mauer der Angst. Innerhalb von nur acht Wochen wurden zwei der vermeintlich stabilsten Autokraten des Nahen Ostens, Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien am 14. Januar 2011, und Hosni Mubarak in Ägypten am 11. Februar, gestürzt, und in fast allen arabischen Ländern brachen Unruhen aus.

Karikatur: Feindschaft verbindet (© Gerhard Mohr/Baaske Cartoons)

Proteste und ihre Folgen


Viele lokale Bezeichnungen für die Protestbewegungen – in Tunesien Jasminrevolution und in Ägypten Lotusblütenrevolution – haben sich nicht durchgesetzt. Diese Namen beziehen sich auf Vorgängerbewegungen wie die Nelkenrevolution in Portugal 1974, die Rosenrevolution in Georgien 2003 oder die Zedern-Revolution im Libanon 2005. Die botanischen Bezüge weisen zudem Nähe zu den osteuropäischen Farbrevolutionen der 2000er-Jahre und zur Grünen Revolution 2009 im Iran auf.

Der in westlichen Medien seit Beginn des Jahres 2011 aufgekommene Begriff des Arabischen Frühlings verbindet damit das Bild eines Tauwetters, welches die autoritären politischen Regime im Nahen Osten und Nordafrika dahinschmelzen lassen sollte. Bei vielen arabischen Kommentatoren stößt die Frühlings-Metapher eher auf Skepsis, weil sie ihrer Ansicht nach zu einseitig auf eine Demokratisierung nach westlichem Vorbild abzielt. So sprach man in arabischen Medien eher von "der Tunesischen", "der Ägyptischen" oder allgemein "der Arabischen Revolution" (ath-Thaura al-Arabiyya).

Die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings bestanden aus einer breiten Koalition aller sozialen Schichten, die ganz unterschiedliche Motive hatten. Viele außerhalb der Hauptstädte Lebende beklagten die Diskriminierung und Unterentwicklung ihrer ländlichen Gebiete oder peripheren Städte. Hohe Arbeitslosigkeit und die allgemeine Perspektivlosigkeit mobilisierten besonders junge Menschen. Seit 2007 rasant gestiegene Weltmarktpreise für Lebensmittel verschärften die Notlage vieler Menschen zusätzlich. Liberale verlangten nach politischer Freiheit und einem Ende der autoritären Eiszeit. Sie wollten sich politisch, kulturell oder ganz persönlich entfalten können und stießen dabei überall auf die Mauern repressiver Staaten und konservativer Gesellschaften.

Die sehr heterogenen Protestgruppen verband eine grenzüberschreitende Symbolik, die eine sich wechselseitig bestätigende und verstärkende Welle der regionalen Mobilisierung ermöglichte. Die einheitliche Namensgebung von Protesttagen, Parolen und Songs schufen eine gemeinsame Protestkultur. Eine wichtige Rolle spielten dabei soziale Medien wie Facebook, Twitter ­sowie Mobiltelefone, die zu den wichtigsten Mitteln der Kommunikation und Mobilisierung wurden. Satellitensender wie al-Jazeera und al-Arabiya, die in der gesamten Region verbreitet sind, strahlten Meldungen live aus. Zudem stellten sie ein Bindeglied zu westlichen Medien her: Von Demonstranten gezeigte arabische und englischsprachige Plakate, gefilmt mit Handykameras, ins Internet gestellt, zunächst in arabischen Satellitensendern gezeigt, dann von westlichen Fernsehkanälen wie BBC oder CNN übernommen, richteten sich an eine globale Öffentlichkeit.

Demonstrationstage erhielten Eigennamen, wie etwa der Tag des Zorns (Yaum al-Ghadab), mit dem die Proteste in Ägypten, Palästina, Bahrain, Libyen, Jordanien, Jemen und Saudi-Arabien begannen. Dies schuf eine unmittelbare Verbundenheit der Demonstrierenden über Landesgrenzen hinweg. Die Verwendung weiterer Namenstage verstetigte die Proteste.

Die Besetzung zentraler Straßen und Plätze wurde zu einem weiteren Erkennungsmerkmal des Arabischen Frühlings. In Tunesien war es die Place de la Kasbah in Tunis, auf dem Protestierende campierten und ihre Forderungen erhoben. In Rabat fanden Kundgebungen auf dem Boulevard Mohamad V. statt. Zum allgemeinen Kennzeichen des Arabischen Frühlings wurde aber der Befreiungsplatz (Midan at-Tahrir) in Kairo, auf dem seit dem 25. Januar 2011 alle wesentlichen Großkundgebungen stattfanden. Im Herzen Kairos gelegen, in der Nähe symbolträchtiger Gebäude wie der Geheimdienstzentrale, des Innenministeriums, der Parteizentrale der damals herrschenden Nationaldemokratischen Partei (NDP) und des Ägyptischen Nationalmuseums, gelangten die Bilder der Proteste über al-Jazeera und viele andere Medien in die ganze Welt. Auch die brutalen Übergriffe von Sicherheitskräften und Schlägertrupps des Mubarak-Regimes spielten sich vor laufenden Kameras auf dem Tahrir-Platz ab.

Die regionale Protestdynamik des Arabischen Frühlings war ein bisher einzigartiges, epochales Ereignis. Neu waren dabei die sich wellenartig steigernden Proteste, ihre länderübergreifenden Wechselwirkungen, die durch die gemeinsam gesprochene Sprache, das Arabische, erst ermöglicht wurden, und der erstaunlich ideologiefreie Diskurs der Teilnehmenden. Die Mobilisierung richtete sich nicht mehr gegen äußere Feinde wie die USA und Israel, sondern setzte sich für ein authentisches, nationales Anliegen ein: den Sturz oder die Reform des jeweiligen autoritären Herrschaftssystems.

Die Reaktion der Autokraten

Die Regime wurden von der Spontaneität, der breiten Solidarisierung fast aller Gesellschaftsgruppen und der weitgehenden Führungslosigkeit der Protestbewegungen überrumpelt. Bisher verwendete Repressionsmaßnahmen, wie zum Beispiel politische Anführer zu verhaften, wurden dadurch untergraben. Die anfängliche Gewaltfreiheit verlieh den Protestierenden eine moralische Überlegenheit und Legitimität, die den zunehmend repressiv reagierenden Regimen umgekehrt immer mehr abhandenkam.

Aber die Hoffnung, dass nach dem Sturz von Ben Ali in Tunesien und von Mubarak in Ägypten ein autokratischer Herrscher nach dem anderen wie in einem Dominospiel fallen würde, bewahrheitete sich nicht. Denn nicht nur die Demonstranten, sondern auch die Regime begannen, voneinander zu lernen. Seit etwa März 2011 stellten sich die Autokraten zunehmend auf die neue Situation ein und griffen dabei – mit unterschiedlichem Erfolg – auf angepasste Instrumente der Herrschaftsstabilisierung zurück: Sie kamen zunächst einigen Forderungen der Demonstrierenden entgegen, etwa indem sie unbeliebte Minister oder ganze Regierungen als die mutmaßlichen Sündenböcke austauschten, Verfassungsreformen versprachen und teilweise auch umsetzten. Zusätzlich versuchten sie, sich Wohlverhalten zu erkaufen, indem sie Kürzungen staatlicher Subventionen auf Grundnahrungsmittel und Energieträger zurücknahmen, neue Subventionen einführten, kurzfristig Arbeitsplätze in der Bürokratie und im Sicherheitsapparat schufen und die Löhne im Staatssektor erhöhten.

Die Autokraten bemühten sich zudem, die Opposition zu spalten und zu diskreditieren. Sie beschimpften sie als "Agenten" ausländischer Mächte (so in Bahrain und Saudi-Arabien), als "Saboteure" und "Terroristen" (Syrien) und als "Ratten und Kakerlaken" (Muammar al-Gaddafi in Libyen), oder sie entwarfen die Drohkulisse ethnisch-konfessioneller Bürgerkriege (Bahrain und Syrien). Eine politische Liberalisierung, so warnten sie den besorgten Westen, werde zum Machtgewinn fundamentalistischer Islamisten und zu dschihadistischem Terrorismus führen. Wo alles nicht mehr half, verfielen die Regime in blanke Repression. Den Präzedenzfall setzte Bahrain, das mit Hilfe von Truppen aus Saudi-Arabien und den VAE am 14. März 2011 der friedlichen Besetzung des Perlenplatzes durch die Demonstranten gewaltsam ein Ende bereitete. Es folgten Jemen, Libyen und dann mit aller Wucht Syrien. In den drei letztgenannten Ländern griffen Teile der Opposition ihrerseits zu den Waffen, was zu bis heute anhaltenden Bürgerkriegen unter starker Beteiligung externer Mächte führte (Stand September 2016).

Die Monarchen verhielten sich insgesamt geschickter als die politischen Eliten der republikanischen Regime. König Mohammed VI. von Marokko beispielsweise setzte sich an die Spitze der Reformbewegung, indem er eine Verfassungsreform anstieß und hierdurch seine Monarchie stabilisierte. Der Emir von Katar, Hamad bin Khalifa Al Thani, trat sogar als Vorkämpfer der revolutionären Umgestaltung auf, indem er den Satellitensender al-Jazeera finanzierte, der die frühe Protestdynamik in der Region bekannt gemacht und damit indirekt gefördert hatte. Er beteiligte sich an der Militäroperation gegen das Gaddafi-Regime, bereitete maßgeblich die Sanktionen gegen das syrische Regime vor und gehört zu den Hauptfinanziers der syrischen Rebellen.

QuellentextMarokko während des Arabischen Frühlings

Mit Ende des Kalten Krieges 1989/90 musste Hassan II. sein Land auf Druck des damaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterand umgestalten und zusichern, nun grundlegende Menschenrechte einzuhalten. Langsam entfaltete sich eine Zivilgesellschaft mit einer Vielzahl von Bürgerrechtsgruppen. 1995 wurde ein nationaler Ableger der weltweiten Anti-Korruptionsinitiative Transparency International in Casablanca gegründet. Auch Amnesty International konnte, nachdem ihr dies zeitweise unter Hassan II. verboten war, wieder einreisen und kooperierte mit lokalen Menschenrechtsvereinigungen. Darüber hinaus wurden in den 1990er-Jahren, einmalig für die arabische Welt, Initiativen gegen AIDS, Opferverbände ehemaliger politischer Häftlinge wie auch ein Verein arbeitsloser Universitätsabsolventen gegründet. Diese Association nationale des diplômés chômeurs au Maroc gewann erst im Arabischen Frühling breitere Aufmerksamkeit außerhalb des Landes.

Die marokkanische Monarchie gilt als Meister der "weichen" Inkorporation gesellschaftlicher Forderungen. Dies bedeutet, dass es – im Gegensatz zu vielen anderen arabischen Staaten – durchaus funktionierende Kommunikationskanäle zwischen Staat und Gesellschaft gibt. Zwar bleibt Marokko ein autoritärer Staat, in dem grundlegende Bürgerrechte wie Reise- und Meinungsfreiheit verletzt werden. Aber gesellschaftliche Forderungen münden durchaus in politischen Veränderungen. Die rechtliche Gleichstellung der Frau hat sich nach langjähriger Lobbyarbeit vieler Vereinigungen verbessert, und Forderungen der Opferverbände führten 2004 zur Einrichtung einer Wahrheitskommission durch Mohammed VI., Sohn und Nachfolger von Hassan II..

Wieso konnte sich die marokkanische Monarchie im Zuge des Arabischen Frühlings halten? Und warum konnte eine prompte Verfassungsänderung den Druck der Straße mindern, während ähnliche Maßnahmen in anderen arabischen Ländern als Scheinreform bewertet wurden? Ein Grund liegt in der hier kurz angerissenen Entwicklung der vorangegangenen zwei Jahrzehnte. Ein weiterer Grund bestand darin, dass sich die alawidische Dynastie über die letzten 300 Jahre als "authentische" Monarchie etablieren konnte. Mohammed VI. stellt sich erfolgreich sowohl als Bewahrer eines marokkanischen Sonderwegs wie auch als Reformer und Modernisierer des Landes dar. Diese Verbindung von Authentizität und Moderne wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern als Errungenschaft betrachtet. Zwar gibt es öffentliche Kritik am undurchsichtigen Wirtschaftsimperium des Monarchen und an der Unterentwicklung großer Teile des Landes sowie an der anhaltenden Repression und Zensur. Trotzdem forderte kaum jemand die Absetzung des Königs. Wo solche Forderungen gestellt wurden, fühlten sich Teile der Demonstranten brüskiert und blieben den Protestaktionen fern.

Die Protestbewegung (Mouvement du 20 février oder M20 genannt) verlangte neben Würde, Freiheit und Demokratie den Rücktritt der Regierung, die Auflösung des Parlaments und ein Ende der Despotie. In erster Linie richteten sich die Aktivisten gegen die Repräsentanten der Monarchie, wie Fouad Ali Himma, einen Vertrauten des Königs, der 2009 die Parti Authenticité et Modernité (PAM) gründete, oder Mounir Majidi, Geschäftsmann und persönlicher Sekretär des Königs.

Es wäre schon ein Erfolg, wenn sich Marokko tatsächlich zu einer "konstitutionellen, demokratischen und sozialen Monarchie", wie in der Verfassung vorgegeben, entwickeln würde. Mit diesem Ziel schlossen sich Aktivisten 2011 unter dem Slogan "Für eine parlamentarische Monarchie" zusammen. Allerdings wurde auch dieser Begriff umgehend in die neue Verfassung übernommen. Dies zeigt erneut, wie schnell staatliche Institutionen in der Lage sind, gesellschaftliche Forderungen zu erkennen und zu inkorporieren. Auch formierten sich starke Gegenbewegungen gegen die reformorientierten Aktivisten in Marokko wie das Mouvement du 9 mars oder Contre le mouvement du 20 février.

Als Reaktion auf die Demonstrationen und den Sturz der Präsidenten Ben Ali und Mubarak kündigte Mohammed VI. weitere Dezentralisierungsschritte sowie eine Verfassungsreform an, die 2011 per Referendum angenommen wurde. Ihre wichtigsten Neuerungen betreffen die Einführung der Berbersprache Tamazight als zweite Amtssprache, die verfassungsrechtlich garantierte Unabhängigkeit von Judikative, Legislative und Exekutive, die Aufwertung der Position des Premierministers und das Recht des Parlaments, mit den Stimmen eines Fünftels der Abgeordneten eine Untersuchungskommission zu beantragen. Mit der Reform wird der König nicht mehr als "heilig" bezeichnet, aber seine Person ist weiterhin "unantastbar". Dies mögen geringe semantische Veränderungen sein, sie waren jedoch ein wichtiger Schritt in der Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Herrscher und Bürgern.

In den anschließend vorgezogenen Parlamentswahlen konnte die gemäßigte islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la Justice et du Développement, PJD) ihre Sitze von 46 auf 107 erhöhen. In Anwendung der neuen Verfassung musste der König nun den Kandidaten der PJD, Abdellilah Benkirane, zum Ministerpräsidenten ernennen. Zuvor konnte der Monarch diesen Posten unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament bestimmen oder auch einen Parteilosen in das Amt berufen.

Obwohl die neue PJD-geführte Regierung eindeutig ein Ergebnis der Umbrüche in Nordafrika ist, stellte sich Benkirane explizit gegen die Protestbewegung. Kaum im Amt, verkündete er, die Proteste nicht zu unterstützen, da "die Monarchie in Gefahr sei" und die Jugendbewegung sich nichts auf ihre politische Stärke einbilden solle. 2007 hatte die islamistische, außerparlamentarische Oppositionsbewegung "Gerechtigkeit und Wohlfahrt" ihre Anhänger noch zur Stimmabgabe für die PJD aufgerufen, 2011 empfahl sie dies nicht mehr. Die PJD galt ihnen als königstreue Opposition. Trotzdem wurde sie in den Parlamentswahlen 2016 erneut zur stärksten Partei mit 125 von 395 Sitzen.

Weiterhin entwickelte sich in der Folge des Arabischen Frühlings aus den verschiedenen Protestgruppen eine Reihe von kleineren, themenbezogenen Zusammenschlüssen, etwa zur Reform des Hochschulwesens. Die graduellen Reformen in Marokko werden von vielen Bürgern – insbesondere mit Blick auf Algerien in den 1990er-Jahren und das heutige Syrien – als positiv bewertet. Andere verwerfen sie jedoch als Scheinreformen. Laut dem marokkanischen Kulturwissenschaftler Moha Ennaji glaubt die Opposition nicht, dass die Veränderungen ausreichen, damit sich Marokko zu einer konstitutionellen Monarchie nach europäischem Vorbild entwickelt. Der ungelöste Widerspruch zwischen den Verfassungszielen und der politischen Realität sowie die extremen sozialen Ungleichheiten im Land bergen weiterhin gesellschaftliche Sprengkraft.

Sonja Hegasy

Dr. Sonja Hegasy ist Islamwissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Zentrums Moderner Orient in Berlin.

Die Beständigkeit aller acht Monarchien – der sechs Golfmonarchien, Marokkos und Jordaniens – lässt sich durch ein Zusammenspiel von vier Faktoren erklären, die sie von den meisten Republiken unterscheiden: ihre traditionell bzw. religiös legitimierte Herrschaft, eine effektive Eliteneinbindung und Familienherrschaft, eine großzügige Distributionspolitik sowie westliche und regionale Unterstützung. Gewaltsame Repression hingegen, wie beispielsweise durch die bahrainische Monarchie, stellt die letzte Möglichkeit monarchischer Herrschaftsstabilisierung dar.

Bürgerkriege, Konfessionalismus und Dschihadismus

Neben der Frage von republikanischer oder monarchischer Herrschaft spielte die ethnisch-konfessionelle Zusammensetzung der Gesellschaften eine wichtige Rolle im Protest- und Konfliktverlauf des Arabischen Frühlings. In den weitgehend homogenen sunnitischen Gesellschaften Nordafrikas ging es bei den Protesten vor allem um die Machtverteilung im Staat, während in den stärker nach Ethnien, Stämmen und Glaubensrichtungen gespaltenen Gesellschaften des ostarabischen Raums (Bahrain, Irak, Saudi-Arabien, Syrien und Jemen) und in Libyen verschiedene Identitätsgemeinschaften um die Kontrolle und das Selbstverständnis des Staates konkurrieren. Einzig im Libanon war es bereits zu einem früheren Zeitpunkt gelungen, durch ein Machtteilungsarrangement alle Gemeinschaften weitgehend gleichberechtigt in den Staat einzubinden.

QuellentextDas libanesische Mosaik

Mit seinen rund 10.000 Quadratkilometern und vier Millionen Einwohnern gehört der Libanon zu den kleineren arabischen Ländern. Achtzehn Religionsgemeinschaften sind offiziell anerkannt: zwölf christliche und fünf muslimische Konfessionen sowie eine kleine jüdische Gemeinde. Ferner leben im Libanon mehr als zwei Millionen Flüchtlinge wie Armenier, Kurden, Palästinenser, Iraker und Syrer.

Im 19. Jahrhundert hatten sich europäische Mächte als Schirmherren einzelner Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich etabliert, um über Stellvertreter in dem zerfallenden Großreich Fuß zu fassen. Dadurch wuchs den Religionsgemeinschaften eine politische Bedeutung zu, soziale Revolten schlugen immer wieder in konfessionelle Bürgerkriege um. Zu deren Entschärfung wurde im 19. Jahrhundert ein Arrangement eingeführt, in dem die Religionsgemeinschaften sich die Macht teilen und proportional zu ihrer jeweiligen Stärke hohe Staatsämter bekleiden.

1920 übernahm Frankreich das Völkerbund-Mandat über Syrien und Libanon. Es schuf den heutigen Großlibanon, indem es dem vorwiegend von Christen bewohnten Libanongebirge den mehrheitlich muslimisch bewohnten Küstenstreifen mit den Städten Beirut, Saida und Tripoli sowie Territorien im Norden, Osten und Süden zuschlug. Christen behielten eine knappe Bevölkerungsmehrheit von 52 Prozent und dank französischer Protektion einige sicherheitsrelevante Posten wie beispielsweise das Oberkommando der Armee und des Geheimdienstes.

Als der Libanon 1943 unabhängig wurde, übernahm man dieses Prinzip der Machtteilung im Parlament, in der Regierung und in gehobenen Verwaltungsposten. Der Verteilungsschlüssel dieses "politischen Konfessionalismus" orientiert sich dabei mit geringfügigen Änderungen bis heute an der letzten offiziellen Volkszählung von 1932.

Ein komplexes Wahlrecht mit gemischtkonfessionellen Wahlbezirken sowie verschiedene Mechanismen der wechselseitigen Kontrolle von Verfassungsorganen sollen die Vertreter der Konfessionen zu Zusammenarbeit statt zu Konkurrenz bewegen. Dies verhinderte eine Machtkonzentration in den Händen Weniger oder einer einzelnen ethnisch-konfessionellen Gemeinschaft, wie sie in den übrigen arabischen Ländern ansonsten üblich war. Im ungeschriebenen Nationalpakt von 1943 wurde die politische Rollenzuschreibung der Konfessionen weiterhin gefestigt: Maroniten stellen seither den Staatspräsidenten, Sunniten den Ministerpräsidenten und Schiiten den seinerzeit eher protokollarischen Parlamentspräsidenten.

Darüber hinaus genießen die Religionsgemeinschaften Autonomie im Familienrecht, im Bildungssystem und in der Organisation sozialer Dienste. Ihre Eliten üben weitreichende Kontrolle über das Leben ihrer Glaubensmitglieder aus. Diese wenden sich für Dienstleistungen meist nicht an den Staat, sondern an die Vertreter ihrer Gemeinschaften. So ist eine zivile Eheschließung im Libanon erst seit kurzem und nur unter Schwierigkeiten möglich, was Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen hemmt und die Grenzen zwischen den Konfessionen zementiert. Auch Parteien, Medien, ja selbst staatliche Sicherheitsdienste sind meistens einer Konfessionsgemeinschaft zuzuordnen.

Die Verteilung politischer Ämter nach Religionszugehörigkeit und die "Mentalität des Konfessionalismus" sind maßgeblich verantwortlich für die Zersplitterung der Gesellschaft, für einen hohen Grad an Klientelismus und Korruption sowie für die Schwäche des libanesischen Staats.
Unterschiedliche Geburten- und Abwanderungsraten der Gemeinschaften führten zu einer Verzerrung der Machtverhältnisse. Christen bilden heute nur noch eine Bevölkerungsminderheit, sie hielten aber bis zum Bürgerkrieg 1975 – 1990 die Mehrheit der Parlaments- und Kabinettssitze sowie viele Führungsämter. Der Bürgerkrieg war kein eigentlicher Religionskrieg, dennoch spielte die ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeit häufig eine größere Rolle bei der Bildung von Allianzen als politische Überzeugungen. Milizen verübten immer wieder Massaker an Angehörigen anderer Gemeinschaften, und in einigen Regionen entstanden durch Flucht und Vertreibung einzelner Gemeinschaften relativ homogene christliche und muslimische Siedlungsgebiete.

Auch heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Bürgerkrieges, geraten fast alle politischen Kontroversen ins Fahrwasser konfessioneller Konkurrenz, selbst wenn sie fern jeder religiösen Bedeutung sind wie etwa die Versorgung mit Elektrizität, die Müllentsorgung oder die Landesverteidigung. Externe Mächte nutzten diese Uneinigkeit wiederholt aus und nahmen über lokale Stellvertreter Einfluss. So mischen Iran und Saudi-Arabien, Israel und Syrien, die USA, Frankreich und viele weitere Länder im Kräftespiel des Landes mit. Syrien hatte von 1976 bis 2005 Truppen im Land stationiert und massiv die libanesische Innenpolitik beeinflusst. Israel besetzte 1978 mit Hilfe christlicher Milizen Teile des Südlibanon als "Sicherheitszone", nach libanesischer Lesart hat es sich bis heute nicht vom gesamten libanesischen Territorium zurückgezogen. Gegen diese Besatzung kämpften zunächst linke und nationalistische, palästinensische und libanesische Milizen. Seit 1982 engagiert sich in diesem Konflikt die schiitische Hisbollah.

Zahlreiche politische Morde und bewaffnete Auseinandersetzungen halten das Land seit 2005 in Atem. Der im März 2011 ausgebrochene und zum Bürgerkrieg eskalierte Aufstand in Syrien führte auch im Libanon vereinzelt zu Kämpfen zwischen Verbündeten und Gegnern des syrischen Regimes sowie zu einer Reihe von Bombenanschlägen. Libanesische sunnitische Salafisten kämpfen in Syrien auf Seiten der Rebellen, während die schiitische Hisbollah massiv auf Seiten des Assad-Regimes interveniert. Der Libanon ist mit weit über einer Million Syrienflüchtlingen das Land mit der weltweit höchsten Flüchtlingsquote pro Kopf.

Trotz all dieser Schwierigkeiten hat sich der Libanon eine erstaunliche politische und kulturelle Offenheit, Freiheit und Vielfalt bewahrt. Bis zum Arabischen Frühling war er die einzige Demokratie im arabischen Raum, in der bei regelmäßig stattfindenden, vergleichsweise freien Wahlen zahlreiche Kandidaten und Parteien gegeneinander antreten können, in der sich Regierungen, Staats- und Ministerpräsidenten abwechseln und in deren Parlament meist sehr kontrovers diskutiert wird. Die meisten Libanesen haben gelernt, wie in einem Mosaik mit den vielen verschiedenen Formen von Religion(en) und Kultur(en) auf engem Raum zusammenzuleben. Nicht zuletzt deshalb wird das libanesische Modell neuerdings als politische Lösung für Syrien und andere konfessionell heterogene Gesellschaften diskutiert.

Stephan Rosiny

In Syrien führten die massive Repression des (alawitisch dominierten) Regimes von Baschar al-Assad und der seit Sommer 2011 zunehmend gewalttätige, überwiegend von Sunniten getragene Aufstand zu einer verheerenden Gewaltdynamik. Bis Mitte 2016 kamen schätzungsweise zwischen einer viertel und einer halben Million Menschen ums Leben, fünf Millionen flohen ins Ausland, acht Millionen innerhalb des Landes. Zusammen ist dies mehr als die Hälfte der ehemals 23 Millionen Einwohner. Zwischen 1000 und 2000 verschiedene Milizen kämpfen in der zerstrittenen Opposition, die finanziell und militärisch von Saudi-Arabien, Katar, der Türkei, den USA und vielen weiteren Ländern Hilfe erhält. Das Regime wird unterdessen massiv von Iran und Russland sowie verschiedenen schiitischen Milizen wie der libanesischen Hisbollah unterstützt. Das Kriegsgeschick schwankte mehrfach hin und her, doch gelang keiner Seite ein grundlegender militärischer Sieg.

Im Machtvakuum zwischen Regimetruppen und Rebellen erstarkten salafistische und dschihadistische Milizen, die Syrien – genauer Großsyrien (arab.: Bilad asch-Scham), das auch den Libanon, Jordanien und Palästina/Israel umfasst – als Territorium einer apokalyptischen Endzeitschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen ansehen. Sie wollen es durch die Einführung einer rigiden Interpretation des islamischen Rechts, der Scharia, zu einem islamischen Musterstaat umwandeln.

Die radikalste dieser Gruppierungen ist die aus al-Qaida im Irak hervorgegangene Terrormiliz IS. Sie drang 2013 nach Syrien ein, eroberte dort weite Gebiete und gewann neue Anhänger, darunter Tausende ausländische Kämpfer aus arabischen Ländern, Europa und Kleinasien. Im Sommer 2014 kehrte sie in den Irak zurück, besetzte dort große Territorien und rief im Juni des Jahres ein Kalifat aus. Dieses wollte alle menschengeschaffenen Grenzen einreißen, einen universalen "Islamischen Staat" errichten und alle Muslime weltweit in seinem Territorium vereinen, um von dort aus die Endzeitschlacht zwischen Gläubigen und Ungläubigen zu führen. Diese apokalyptische Vision ist gescheitert, und der IS verliert rapide an Territorium und Anhängern. Allerdings hat er lokale Zellen weit über die arabische Welt hinaus gegründet, die mit einer Terrorkampagne die Region und Europa destabilisieren wollen.

Der IS hat den Konfessionshass zwischen Sunniten und Schiiten geschürt und profitiert nun von seiner Eskalation, indem er sich als Schutzmacht der Sunniten aufführt. Aber auch die konservativen sunnitischen Regime, allen voran Saudi-Arabien, fördern das Ressentiment gegen die schiitische Minderheit in der Region, indem sie diese als mutmaßliche Agenten des iranischen Expansionismus in die arabische Welt darstellen. Durch die Konstruktion dieses Bedrohungsszenarios versuchen sie, die Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung gegen den gemeinsamen Feind umzulenken. Von der militärischen Eskalation und konfessionellen Polarisierung profitieren momentan am meisten die Dschihadisten. Tausende arabische Freiwillige sind im Kampf in Syrien und Irak ideologisch radikalisiert und militärisch geschult worden. Wenn sie eines Tages in ihre Heimatländer nach Tunesien, Marokko, Saudi-Arabien, Bahrain oder in andere Länder der Region, nach Europa, Asien und Afrika zurückkehren werden, könnten sie dort den Kampf gegen ihre "gottlosen" Regime aufnehmen, so wie einst nach dem Afghanistankrieg (1979–1989), aus dem unter anderem al-Qaida hervorgegangen war.

Der Arabische Frühling und seine Folgen (© picture-alliance, dpa-Infografik)

Warum ist der Arabische Frühling gescheitert?


Die Wiederherstellung vieler Autokratien, Bürgerkriege und politische Gewalt sowie die Ausbreitung radikal-islamistischer Ideologien haben das hoffnungsvolle Bild des Arabischen Frühlings im Nachhinein stark getrübt. Der Wunsch nach Sicherheit, Stabilität sowie die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation haben die Forderungen nach Gerechtigkeit und Freiheit hintangestellt. Waren die Bedingungen für eine grundlegende politische Reform der Region noch nicht gegeben? Oder war die von außen herangetragene Erwartung an eine Demokratisierung nach westlichem Vorbild von Anfang an unrealistisch? An vier Fragen lassen sich wesentliche Missverständnisse über den Arabischen Frühling festhalten.

Der Arabische Frühling: Proteste und Folgen - Bitte klicken Sie auf das Bild, um das PDF zu öffnen. (© bpb)

Wie überraschend war der Arabische Frühling?

Im Verlauf des Jahres 2011 konnte man in vielen Kommentaren lesen, dass sich der Arabische Frühling aus heiterem Himmel entwickelt habe und nicht vorhersehbar gewesen sei. Einer genauen Prüfung hält dieser Eindruck allerdings nicht stand. Denn in den meisten Ländern der Region gab es bereits seit vielen Jahren Demonstrationen und Streiks gegen Korruption, soziale Not, wirtschaftliche Ungleichheit und staatliche Willkür. Die meisten dieser Proteste blieben lokal und erreichten keine regionale oder gar globale Aufmerksamkeit. Dies änderte sich erst in den 2000er-Jahren, in denen es vermehrt zu länderübergreifenden Protesten kam. Der Ausbruch der Zweiten Intifada in den Palästinensergebieten 2000, der von den USA angeführte Irakkrieg zum Sturz Saddam Husseins 2003 und die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen 2005 führten zu Protesten gegen westliche und israelische Angriffe und zu Solidaritätskundgebungen für deren Opfer. Diese richteten sich allerdings nur indirekt gegen die autoritären Regime selbst.

Viele der im Arabischen Frühling kritisierten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Defizite sind seit Jahren wohlbekannt. Der seit Anfang der 2000er-Jahre von arabischen Wissenschaftlern verfasste Arab Human Development Report dokumentiert diese klar und deutlich. Wirtschaftliche Unterentwicklung und enorme Wohlstandsgefälle innerhalb einzelner Länder und zwischen diesen gehen einher mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit in Gesellschaften, in denen die überwiegende Mehrheit sehr jung ist. Bessere Bildung und globalisierte Medien haben in dieser Jugend Erwartungen geweckt, die aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit und staatlicher Gängelung enttäuscht wurden.

Die Veröffentlichung von vorher geheimen US-Regierungsdokumenten über die Onlineplattform Wikileaks hat kurz vor Ausbruch des Arabischen Frühlings Belege für die Korruption der arabischen Regime bereitgestellt und damit schwarz auf weiß dokumentiert, was die Menschen in der Region längst geahnt hatten.
Insbesondere Frauen erleben die vielfältigen Ungleichbehandlungen wegen ihrer geschwächten Rollenzuschreibung in konservativen Gesellschaften noch intensiver. Im Arabischen Frühling beteiligten gerade sie sich besonders zahlreich an den öffentlichen Kundgebungen. Repression seitens der Regime und der Ausbruch von Bürgerkriegen machten diese emanzipative Entwicklung jedoch zunichte. Denn Frauen wurden Opfer sexistischer Demütigungen bei Demonstrationen und sexueller Gewalt im Kontext von Kampfhandlungen.

Es war deshalb nicht die Frage ob, sondern bestenfalls wann sich die massive Unzufriedenheit in der arabischen Welt Luft machen würde. Da die Probleme bis heute fortbestehen, sie sich vielfach sogar weiter verschärft haben und sich die politischen Eliten eher mit der Stabilisierung ihrer Herrschaft als mit notwendigen Reformen befassen, ist davon auszugehen, dass es in Zukunft zu weiteren Protesten und gewaltsamen Aufständen kommen wird.

Ging es beim Arabischen Frühling um eine Demokratisierung?

Zunächst beschrieben viele Beobachter die Demonstrationen des Arabischen Frühlings in der Zählweise des renommierten US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel Huntington als Nachzügler der "Dritten Welle der Demokratisierung", die mit der Nelkenrevolution von 1974 in Portugal begann. Andere sehen seit 1989 eine "Vierte Welle der Demokratisierung", zu der der Arabische Frühling verspätet gehöre, während einige sogar von einer "fünften Demokratisierungswelle" sprechen, die den Nahen Osten erfasst habe.

Im Nachhinein lässt sich feststellen, dass diese Beschreibungen falsch und bestenfalls verfrüht waren. Eine liberale Demokratie, die vom Westen hoffnungsvoll erwartet wurde, blieb selbst in Tunesien, dem Vorzeigeland des Arabischen Frühlings, krisenanfällig. In Ägypten wurde eine solche Entwicklungsperspektive im Sommer 2013 durch die Armee hinweggeputscht. In allen anderen Ländern konnte sie sich erst gar nicht entwickeln.

Karikatur: Was ist Demokratie im Nahen Osten? (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

Einerseits kann man dies als Scheitern einer Demokratisierung betrachten. Andererseits liegt dieser Beschreibung eine falsche Wunschvorstellung vor allem westlicher Betrachter zu Grunde. Die Protestierenden jedenfalls hatten zuvorderst soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Würde gefordert, und sie protestierten gegen Despotismus, Korruption und Klientelismus der existierenden Regime. In einigen Ländern wurde der "Sturz des Systems" verlangt; aber in keinem einzigen Land die Einführung einer liberalen Demokratie.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Menschen in der Region kein Interesse an Demokratie hätten oder dass Muslime grundsätzlich keine Demokraten sein können; die Gründe sind vielschichtiger: Die Protestierenden kamen aus nahezu allen Segmenten der Gesellschaft, und sie waren unzufrieden mit der autoritären Herrschaft, den massiven wirtschaftlichen Missständen und der alltäglichen Korruption. Jedoch fand die sozial und politisch zwischen Säkularen sowie Islamisten und innerhalb dieser Lager gespaltene Opposition zu keiner gemeinsamen Vision einer alternativen Ordnung. Sie verstanden die Verteilung der Macht im Staat zu oft als Nullsummenspiel und fanden – mit Ausnahme Tunesiens – zu keiner neuen Form politischer Machtteilung. Dies lässt sich im Wesentlichen durch drei Faktoren erklären:

  • Die autoritären Regime haben in den vergangenen Jahrzehnten die säkulare Opposition mit dem Argument unterdrückt, politische Meinungsverschiedenheiten würden die nationale Einheit gefährden. Dadurch konnte sich keine Kultur gewaltfreier, kritischer Auseinandersetzung etablieren.

  • Die autoritären Herrscher überzeugten den Westen davon, dass angesichts einer Bedrohung durch Islamisten ihre Form der "gelenkten Demokratie" die bessere Alternative sei. Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 und im gemeinsamen "Krieg gegen den Terrorismus" erhielten sie daher westliche Rückendeckung bei der Unterdrückung von Protesten und wurden zudem großzügig mit Waffen beliefert.

  • Schließlich wurde "Demokratie" in der Region als ein westliches Konzept skeptisch betrachtet, weil die Einführung von Demokratie den USA 2003 als Legitimation ihrer völkerrechtswidrigen Invasion in den Irak gedient hatte. Auch hatte der Westen Militärputsche gegen von Islamisten gewonnene Wahlen in Algerien 1992 und gegen die gewählte Regierung der Muslimbruderschaft in Ägypten 2013 unterstützt sowie die 2006 im Gazastreifen und in der Westbank gewählte Hamas-Regierung boykottiert. Dies hat bei vielen oppositionellen Akteuren zu großen Vorbehalten in Bezug auf das aufrichtige Interesse des Westens an Demokratie im Nahen Osten geführt.

War der Arabische Frühling eine homogene Bewegung?

Ein weiteres Missverständnis besteht darin, den Arabischen Frühling als eine homogene, regionale Protestbewegung zu betrachten. Obwohl sich die Ursachen der Unzufriedenheit, die Formen der Mobilisierung und in manchen Ländern auch das Wechselspiel aus Protest, Repression und Reform ähnelten, gab es immense regionale Unterschiede, etwa in der sozialen Zusammensetzung und den Forderungen der Demonstranten. Regionale und innerstaatliche Unterschiede im Pro-Kopf-Einkommen – besonders drastisch zwischen den Golfmonarchien VAE, Katar und Kuwait auf der einen sowie Jemen, Ägypten und Syrien auf der anderen Seite –, im Bildungsniveau, in der sozialen Schichtung, dem Grad der Industrialisierung und Urbanisierung spiegeln sich auch in einer unterschiedlichen Zusammensetzung der Protestbewegungen wider.

Zu Beginn der Proteste gab es zwei unterschiedliche Konstellationen: In einigen Ländern riefen gebildete junge Erwachsene über soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook in den urbanen Zentren zu Kundgebungen für mehr Freiheit und gegen staatliche Willkür auf. Solche "Happenings" hatte es in Ägypten, Bahrain, Libanon, Marokko, Oman und Tunesien bereits zuvor gelegentlich gegeben. Aufgrund der nationsübergreifenden Proteste durch moderne Medien beteiligten sich unerwartet viele Menschen an den Demonstrationen, und staatliche Repression führte nicht zur Beendigung, sondern zur weiteren Mobilisierung und Ausweitung der Proteste.

In anderen Ländern begannen Kundgebungen zunächst an der Peripherie, bei sozioökonomisch, konfessionell, ethnisch oder regional diskriminierten Gruppen, etwa in Tunesien, Jordanien, Bahrain, Syrien und Saudi-Arabien. In einigen der genannten Länder blieben die Proteste dabei auf einzelne Gruppen beschränkt, sodass sich kein breiter, nationaler Widerstand bildete. In Saudi-Arabien spaltete sich die Opposition auf in Schiiten, die bereits seit Jahrzehnten eine Gleichberechtigung als Staatsbürger fordern; in Frauen, die für ihre Emanzipation im öffentlichen Raum – symbolisiert im Recht, ein Auto zu steuern – demonstrierten; in Liberale, die eine Lockerung rigider religiöser und sozialer Normen verlangten, und in Salafisten, denen die bestehende moralische Lockerung bereits zu weit ging.

Eine Verstetigung und Ausweitung des Widerstands fand vor allem in jenen Ländern statt, in denen sich der lokale und der urbane Trend zu einer nationalen Bewegung vereinten, so vor allem in Tunesien, Marokko, Syrien und Libyen. Die Forderungen waren entsprechend umfangreich. Sie umfassten materielle Verbesserungen in der Lebensmittelversorgung, bezahlbaren Wohnraum und Energie, verbesserte Dienstleistungen und mehr Arbeitsplätze sowie schlussendlich institutionelle Reformen des Staatswesens: politische Partizipation, Gewaltenteilung und zuverlässige, nicht korrupte Institutionen.

Diese Forderungen passten sich lokalen Gegebenheiten an. Eine Aufhebung der Notstandsgesetzgebung wurde in Ägypten und Syrien verlangt, der Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen im Irak. Palästinenser forderten die Fatah-Regierung in der Westbank und die Hamas-Regierung im Gazastreifen auf, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und die Spaltung der Palästinensischen Autorität (PA) zu beenden. Im Libanon demonstrierte eine zivilgesellschaftliche Bewegung gegen die Verteilung politischer Ämter nach Religionszugehörigkeit. Aus Sorge vor einer innergesellschaftlichen Polarisierung und Gewalteskalation blieben die Forderungen der Protestbewegungen in Ländern mit Bürgerkriegserfahrung wie dem Libanon und Sudan, in Algerien und Palästina in ihren Forderungen moderater.

Das verbindende und übergeordnete Element der sozial heterogenen Proteste waren moralisch-ethische Prinzipien, vor allem das Verlangen nach Gerechtigkeit (adala), Freiheit (hurriya), Würde (karama) und Respekt (ihtiram). Demonstranten verlangten von den staatlichen Autoritäten respektiert statt paternalistisch bevormundet zu werden, ein Leben in Würde an Stelle demütigender Gängelung und Unterdrückung durch Sicherheitskräfte und Behörden, Gerechtigkeit im Zugang zu Ressourcen und Chancen statt klientelistischer Belohnung für Wohlverhalten sowie Rechtsstaatlichkeit als Ersatz für despotische Willkürherrschaft und privilegierte Freiräume der Eliten. Schließlich wollten sie an der globalen Entwicklung zu mehr Wohlstand, Fortschritt, Bildung und Mitbestimmung teilhaben.

Die weitreichendste Forderung nach einem Systemsturz entwickelte sich interessanterweise erst in Situationen der Gewalteskalation seitens der Regime, wenn schrittweise Reformen unter der Herrschaft der bisherigen Eliten nicht mehr möglich erschienen. Dies geschah in Tunesien, Ägypten, Jemen, Libyen und Syrien, wobei einzelne Akteure auch in Bahrain und Jordanien die Forderung "Das Volk will den Sturz des Systems" (arab.: asch-scha’b yurid isqat an-nizam) erhoben.

Das Militär und die Sicherheitskräfte reagierten in den einzelnen Ländern höchst unterschiedlich auf die Proteste. In Tunesien verweigerten sie den Befehl, auf Demonstranten zu schießen, während die Polizei dazu in Ägypten zunächst bereit war. In Syrien kam es zwar zu vielen Desertionen aus der Armee, aber nicht zu deren Spaltung, und der Sicherheitsapparat bekämpft den Aufstand und dessen ideelle Grundlagen bis heute mit äußerster Brutalität. Auch in der Erfahrung früherer Proteste und Aufstände unterscheiden sich die Länder, was das wechselseitige Verhalten von Regime und Opposition im und nach dem Arabischen Frühling jeweils länderspezifisch prägte. Als ein weiterer entscheidender Faktor hat sich der Einfluss der Ereignisse in den Nachbarstaaten erwiesen. Dies zeigt sich beispielsweise in Jordanien, wo der eskalierende Bürgerkrieg im benachbarten Syrien die Protestbereitschaft aus Furcht vor einem Übergreifen der Gewalt dämpfte.

Wurde der Arabische Frühling durch einen islamischen Winter abgelöst?

Zahlreiche westliche Beobachter waren enttäuscht oder sogar schockiert, als die Muslimbrüder in Ägypten bei den ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2011 und 2012 gewannen. Für Regionalexperten war dies allerdings keine wirkliche Überraschung: Viele moderate Islamisten kritisierten bereits seit Jahrzehnten die autoritären Herrscher und genossen deshalb gerade im Kontext der vorherigen Proteste gegen die Autokraten Glaubwürdigkeit als politische Akteure. Sie engagierten sich außerdem auf lokaler Ebene sozial und wirtschaftlich, indem sie Wohlfahrtsleistungen, Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten bereitstellten und eigene Wirtschaftsunternehmen betrieben, in denen sie tausende von Arbeitsplätzen geschaffen hatten.

Auf der anderen Seite haben Enttäuschungen in Bezug auf konkrete Regierungsleistungen und wirtschaftliche Verbesserungen durch Islamisten mit zum Putsch in Ägypten im Juli 2013 und einer Wahlniederlage in Tunesien im Oktober 2014 beigetragen. Salafistische Akteure fordern als Konsequenz auf den nur mäßigen Erfolg moderater Islamisten eine Intensivierung religiöser Prinzipien, ohne aber konkrete Lösungen für die grundlegenden Herausforderungen in der Region anzubieten.

Karikatur: Die ägyptische Revolution (© Chappatte in NZZ am Sonntag, Switzerland, July 07, 2013)

Der Aufstieg des IS und die Ausrufung des Kalifats in Syrien und im Irak haben zudem zu einer massiven Krise in der religiösen Selbstdarstellung des sunnitischen Islam geführt, dem sowohl Salafisten und Dschihadisten als auch die Muslimbrüder angehören. Ob sich moderate Islamisten in einem Klima von Repression und Gewalt selbst radikalisieren oder ob sie ein tolerantes und pluralistisches Gegenmodell zur radikalen Version von al-Qaida und IS entwickeln können, ist eine der größten Unsicherheiten für die zukünftige Entwicklung in der Region.

QuellentextRepression in Äypten

Die Aufgabe war äußerst undankbar: In den ersten beiden Wochen ihrer Amtszeit Anfang Januar hatten Ägyptens neu gewählte Parlamentarier nicht viel Anderes zu tun, als fast 300 Dekreten ihre Zustimmung zu erteilen, die Militärmachthaber Abd al-Fattah as-Sisi seit seinem Amtsantritt Mitte 2014 verhängt hatte. Auszusetzen hatten sie an den präsidentiellen Erlassen wenig. Bis auf das umstrittene Zivilrechtsgesetz, das Angestellten im öffentlichen Dienst Gehaltseinbußen beschert hätte, nickten die Abgeordneten vor Auslaufen der Frist am 25. Januar alles ab, was der Staatschef mit seinen legislativen und exekutiven Vollmachten zuvor im Alleingang beschlossen hatte.

[…] Der neue Herrscher am Nil setzt nicht auf Partizipation, sondern auf Unterdrückung weiter Teile der Bevölkerung. Während der Revolution 2011 war Sisi als Militärgeheimdienstchef entscheidend daran beteiligt, die Proteste einzudämmen. Als absehbar war, dass Mubarak nicht zu halten sein würde, avancierte das jüngste Mitglied des Hohen Militärrats zum Mittelsmann zu den Muslimbrüdern. Mit deren Aufstieg arrangierten sich die Generäle nur widerwillig – auch nach der Wahl Mohammed Mursis zum Präsidenten im Juni 2012.

Als der Islamist fünf Monate später die Verfassung außer Kraft setzte, begann der inzwischen zum Armeechef beförderte Sisi an dessen Absetzung zu arbeiten. Diese erfolgte im Juli 2013 mit Unterstützung von Massendemonstrationen in einem Staatsstreich, den konterrevolutionäre Justiz-, Armee-, Polizei- und Geheimdienstkreise mehr als ein halbes Jahr lang vorbereitet hatten.

[…] Richter und Staatsanwälte gehören neben den Beamten des Innenministeriums zu den entscheidenden Stützen des sogenannten "tiefen Staates", der inzwischen wieder ungehindert die Strippen in Ägypten zieht. Stärker noch als der Armeeführung war der reaktionären Justiz die Vormacht der Muslimbrüder und ihrer damaligen islamistischen Verbündeten – der von Saudi-Arabien unterstützten salafistischen Nur-Partei – ein Dorn im Auge. Den Beschluss, das Unterhaus wegen vermeintlicher Verfahrensfehler bei der Parlamentswahl für illegitim zu erklären, setzte noch Sisis Vorgänger an der Spitze des Armeerats, Feldmarschall Mohammed Hussein Tantawi, gegen die Proteste der Abgeordneten durch.

Über zwei Jahre blieb Ägypten deshalb ohne Legislative, regiert per Dekret zunächst von Mursi und dem nach dessen Sturz eingesetzten Interimsstaatschef Adli Mansur sowie – nach Sisis Sieg bei der Präsidentenwahl im Mai 2014 – vom heutigen Machthaber. Eine neue Volksvertretung wurde erst Ende 2015 gewählt – diesmal jedoch ohne Beteiligung der Partei der Muslimbrüder, die nach dem Putsch 2013 zunächst verboten und dann zur terroristischen Organisation erklärt worden war. Selbst die Marionettenparlamente Mubaraks hatten der Bewegung mehr Freiräume gewährt als das neue Regime, sodass im Parlament zum ersten Mal seit anderthalb Jahrzehnten keine nennenswerte islamistische Opposition mehr vertreten ist.

Im Jahr 2000 hatten die Muslimbrüder mit unabhängigen Kandidaten 17 Sitze errungen, darunter Mursi; 2005 waren es bereits 88. Doch die Kompromisslosigkeit der einst für Bürgerrechte eintretenden Kräfte wie die "Partei der freien Ägypter", die sich vor der Wahl im Herbst mit ehemaligen Offizieren, Wirtschaftsoligarchen und Angehörigen der inzwischen aufgelösten Nationalen Demokratischen Partei Mubaraks zum Block "Aus Liebe zu Ägypten" zusammengeschlossen haben, lässt eine Rückkehr zu diesem System vorerst ausgeschlossen erscheinen.

Ebenso wie die erfolgreichen Kandidaten von der Wafd-Partei und der "Zukunft des Vaterlands" führten die "Freien Ägypter" des Multimilliardärs Naguib Sawiris einen dezidiert antiislamistischen Wahlkampf; eine Versöhnung mit moderaten Kräften der Muslimbruderschaft lehnen sie ab. […]

"Aus unserer Sicht waren die vergangenen beiden Jahre nicht von Repression geprägt, sondern von Befreiung", sagt der Sprecher der "Freien Ägypter" heute. 40.000 politische Gefangene, wie sie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch nennt, und das nun auch vom Parlament angenommene restriktive Versammlungsgesetz, das jede unangemeldete öffentliche Zusammenkunft unter Strafe stellt, sprechen allerdings eine andere Sprache.

[…] In den Wochen vor dem Jahrestag des Sturzes Mubaraks im Februar ließ die Regierung Hunderte Verhaftungen vornehmen. Ins Visier des Sicherheitsapparats geraten längst nicht mehr nur Islamisten, sondern ebenso die versprengten Überbleibsel der liberalen, auf eine pluralistischere Gesellschaftsordnung setzenden Protestbewegung von 2011. […]

Markus Bickel "Säkulare Extremisten", in: Internationale Politik 2, März/April 2016, S. 82 ff.

Perspektiven nach dem Arabischen Frühling


Es war kein zufälliger Flügelschlag eines Schmetterlings, der den Arabischen Frühling verursachte, sondern es waren tiefgreifende, strukturelle Konflikte, die das Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten, zwischen Wohlhabenden und Armen, Islamisten und Säkularen, Sunniten und Schiiten und zwischen verschiedenen konkurrierenden Regionalmächten bis heute schwer belasten. Korrupte autoritäre Regime haben institutionell unterentwickelte Staaten, massive Wohlstandsgefälle, wirtschaftliche Unterentwicklung und tief gespaltene Gesellschaften hinterlassen oder stehen immer noch an deren Spitze. Keines dieser Probleme wurde bislang gelöst: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auf, ein Machtkampf um die regionale Führung lässt lokale Konflikte zu regionalen Stellvertreterkriegen eskalieren.

Und wieder warnen autoritäre Regime, unter Hinweis auf die aktuelle Lage in Syrien, Libyen, Irak oder Jemen, dass die Alternativen zu ihrer "stabilen" Herrschaft nicht politische Freiheit, sondern Bürgerkrieg und Terrorismus seien. Sie polarisieren die politische Rhetorik und warnen vor vermeintlichen externen Verschwörungen. Sie präsentieren sich als "Beschützer des Volks" und rechtfertigen die Verfolgung unliebsamer Kritiker.

Der Arabische Frühling stellt eine historische Zäsur dar, welche die politische Entwicklung in den betroffenen Ländern wie auch die nahöstliche regionale Ordnung dauerhaft prägen wird. Die Bevölkerungen haben gelernt, dass sie vereint und ohne Waffengewalt autoritäre Regime stürzen können. Die breiten Protestbewegungen haben gezeigt, dass die autokratischen Regime entgegen ihrem Selbstverständnis über keine gefestigte Legitimität mehr verfügen. Viele Regime waren gezwungen, sich auf politische Reformen wie Wahlen, Parteienvielfalt, einen öffentlichen Diskurs über Politik und Verfassungsreformen einzulassen. Diese Veränderungen haben die Freiräume für Kritik – wenn auch nur geringfügig – erweitert und das politische Klima insgesamt verändert. Insbesondere junge Menschen lassen sich heute nicht mehr alles gefallen.

Vor allem die wohlhabenden Regime haben versucht, den Unmut ihrer Bevölkerung durch Geldgeschenke zu besänftigen. Angesichts des derzeitigen Ölpreisverfalls müssen viele Subventionen allerdings wieder rückgängig gemacht werden. Selbst die Golfmonarchien, die ihre Staatsbürger bislang mit Steuerfreiheit und subventionierten Preisen für Wasser, Strom, Öl und viele andere Dienstleistungen verwöhnten, sind gezwungen, nach neuen Staatseinnahmen zu suchen und hierfür Steuern und Abgaben einzuführen bzw. zu erhöhen. Solche Maßnahmen lassen sich allerdings nur dauerhaft durchsetzen, wenn die Bevölkerung umgekehrt an politischen Entscheidungen mitwirken darf und ihr mehr Freiräume zur individuellen Selbstentfaltung zur Verfügung stehen.

Der Arabische Frühling weckte die Hoffnung auf politische Reformen. Diese Erwartung lässt sich nicht mehr ungeschehen machen und wird die politischen Debatten und Auseinandersetzungen der folgenden Jahrzehnte in der Region prägen. Obwohl in vielen Ländern durch die Rückkehr der Autokraten gelähmt oder aufgrund des Gefechtslärms der Milizen verstummt, werden die Menschen nach dem Ende der Kämpfe oder angesichts einer deutlichen Verschärfung der Wirtschaftskrise sehr wahrscheinlich erneut auf die Straße gehen. Es ist davon auszugehen, dass sie dabei wieder Gerechtigkeit, Freiheit, Würde und Respekt fordern werden.

Dr. Stephan Rosiny ist Politik- und Islamwissenschaftler. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien. Zuvor war er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Islamwissenschaft der FU Berlin tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Machtteilung in multiethnischen Gesellschaften; politischer Islam/Islamismus, Sunna-Schia-Verhältnis sowie das Verhältnis von Religion und Gewalt.
Kontakt: E-Mail Link: rosinys@hotmail.com

Dr. Thomas Richter ist Politikwissenschaftler und seit 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter am GIGA Institut für Nahost-Studien. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind: Stabilität und Wandel autoritärer Regime, Rentierstaatstheorie, Politikdiffusion und die arabischen Golfstaaten.
Kontakt: E-Mail Link: thomas.richter@giga-hamburg.de