Unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ präsentiert die neugewählte Ampelkoalition unter Coronabedingungen am 7. Dezember 2021 den Koalitionsvertrag in Berlin, v.l.n.r: Saskia Esken (SPD), Olaf Scholz (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Christian Lindner (FDP), Volker Wissing (damals FDP), Robert Habeck (Grüne), Anton Hofreiter (Grüne), Annalena Baerbock (Grüne) und Marco Buschmann (FDP). (© picture-alliance, SZ Photo | Jens Schicke)
Unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ präsentiert die neugewählte Ampelkoalition unter Coronabedingungen am 7. Dezember 2021 den Koalitionsvertrag in Berlin, v.l.n.r: Saskia Esken (SPD), Olaf Scholz (SPD), Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Christian Lindner (FDP), Volker Wissing (damals FDP), Robert Habeck (Grüne), Anton Hofreiter (Grüne), Annalena Baerbock (Grüne) und Marco Buschmann (FDP). (© picture-alliance, SZ Photo | Jens Schicke)
Der Weg zur ersten Ampelregierung auf Bundesebene
Niemand hätte vor der Bundestagswahl 2021 vorausgeahnt, dass unter allen denkbaren Zweier- und Dreikonstellationen ausgerechnet die „Ampel“, also eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP, das Rennen machen würde. Durch das Erstarken der Grünen und den mehr als zweistelligen Vorsprung der Unionsparteien vor der SPD in den Umfragen galt ein von der CDU/CSU angeführtes schwarz-grünes Zweierbündnis seit 2018 als mit Abstand wahrscheinlichster Wahlausgang. Schon 2013 hatten beide Seiten mit einem Zusammengehen geliebäugelt, doch fehlte den Grünen letztlich der Mut, das Bündnis zu wagen. 2017 reichte es zu einer Mehrheit dann nur noch zusammen mit der FDP. Diese brachte den Versuch, ein lagerübergreifendes Jamaika-Bündnis zu schmieden, prompt zum Scheitern. Umso mehr setzten die Liberalen darauf, den Fehler nicht noch einmal zu wiederholen, falls Union und Grüne 2021 erneut keine eigene Mehrheit erreichten. Tatsächlich sollte sich dieser Teil der Prognose bewahrheiten. Dass die FDP nicht mit ihrem Wunschpartner Union an der Seite, sondern mit der SPD regieren würde, lag bis Mitte Juli 2021 noch außerhalb des Vorstellbaren.
(© picture-alliance, dpa-infografik GmbH)
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Die Entwicklung in der Union
Die Unionsparteien befanden sich vor der Wahl in einer schwierigen Ausgangslage. Die immer noch populäre Kanzlerin Angela Merkel hatte angekündigt, nicht mehr antreten zu wollen. 2018 gab sie den Parteivorsitz an CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer ab, die sich in einer Kampfabstimmung gegen den in die Politik zurückgekehrten früheren Vorsitzenden der Union-Bundestagsfraktion Friedrich Merz (2000–2002) durchsetzte. Zur Staffelübergabe im Regierungsamt war Merkel jedoch nicht bereit. Dies musste für jeden denkbaren Kanzlerkandidaten eine Bürde darstellen und trug maßgeblich zum Scheitern Kramp-Karrenbauers bei, die entnervt bereits nach 15 Monaten vom Vorsitz zurücktrat.
Im Rennen um die Nachfolge, das sich coronabedingt fast ein Jahr hinzog, unterlag Friedrich Merz wieder nur knapp – diesmal gegen den Parteivize und nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet. Wie sehr es auch diesem an innerparteilichem Rückhalt mangelte, zeigte sich in der Auseinandersetzung um seine Kanzlerkandidatur, die Laschet in einem erbitterten, öffentlich ausgetragenen Machtkampf gegen den an der Parteibasis und bei den Wählerinnen und Wählern deutlich populäreren CSU-Vorsitzenden Markus Söder nur mühsam durchsetzen konnte.
Die Befürchtung, dass die dadurch aufgerissenen Gräben bis zur Wahl nicht wieder zuzuschütten sein würden, sollte sich auf dramatische Weise bewahrheiten. Waren CDU und CSU nach dem vergleichsweise erfolgreichen Krisenmanagement in der ersten Phase der Coronapandemie in der Sonntagsfrage auf über 40 Prozent nach oben geschnellt, lagen sie im Mai 2021 wieder bei unter 30 Prozent, bevor sie nach einer Pannenserie Armin Laschets im Zuge der Flutkatastrophe im Ahrtal und ihrer völlig missglückten Wahlkampagne ab Juli auf unter 25 Prozent abstürzten. Der im Frühjahr noch für undenkbar gehaltene Verlust der Regierungsmacht nach 16 Jahren wurde damit Wirklichkeit.
Die Entwicklung in der SPD
Ähnlich turbulent, aber mit einem deutlich besseren Ende verlief die Entwicklung seit 2018 bei der SPD. Sie war nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen nur widerstrebend erneut als Juniorpartner in eine Große Koalition eingetreten. Andrea Nahles als Vorsitzende und Olaf Scholz als Vizekanzler und Finanzminister bildeten seit Martin Schulz‘ Rückzug ihr neues Führungsduo. Weil die Kritik an der Regierungspolitik nicht verstummte und die Umfragewerte im Keller blieben, geriet insbesondere Nahles frühzeitig unter Druck. Nach der Niederlage der SPD bei der Europawahl im Juni 2019 trat sie vom Vorsitz zurück.
Bei der Nachfolgeentscheidung betrat die Partei Neuland, indem sie zum ersten Mal die Wahl einer geschlechterparitätisch besetzten Doppelspitze ermöglichte. Das von der Parteiführung favorisierte Tandem aus Finanzminister Olaf Scholz und der brandenburgischen Landtagsabgeordneten Klara Geywitz unterlag dabei überraschend dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken. Diese konnten das Führungsvakuum freilich nicht ausfüllen. Die von ihnen erwogene Möglichkeit eines vorzeitigen Regierungsaustritts stand spätestens nach dem Ausbruch der Coronapandemie nicht mehr zur Debatte. Stattdessen bemühten sich Walter-Borjans und Esken um ein möglichst einvernehmliches Auftreten der Führungsspitze, indem sie Scholz schon im August 2020, also mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl, zum Kanzlerkandidaten ausriefen. Dies gab der Partei genügend Zeit für die Vorbereitung ihrer Wahlkampagne, die sie auch im weiteren Verlauf professionell durchzog. Dass die Sozialdemokraten nach einer furiosen Aufholjagd aus der Wahl als stärkste Kraft hervorgingen – am Ende lagen sie um 1,6 Prozentpunkt vor der Union –, war zwar vor allem den Fehlern der Konkurrenz geschuldet. Es zeigte aber zugleich, wie sie selbst aus eigenen Fehlern früherer Kampagnen gelernt hatten.
Die Entwicklungen bei der FDP und den Grünen
Die FDP hatte zu Beginn der Legislaturperiode stark unter den Nachwirkungen ihrer Flucht aus einem möglichen Jamaika-Bündnis zu leiden. Erst in der zweiten Phase der Coronapandemie, als sie ihre Doppelkompetenz als wirtschaftsfreundliche Partei und Anwältin der Bürgerrechte ausspielte, gingen die Umfragewerte wieder nach oben, sodass sie ihr gutes Ergebnis von 2017 nochmal um 0,7 Prozentpunkte verbessern konnte. Einen wesentlich größeren Sprung nach vorne machten die Grünen. Neben ihrer konstruktiven Rolle bei den Jamaika-Verhandlungen und einer gelungenen Neuaufstellung an der Parteispitze war dies vor allem dem Bedeutungsanstieg des Klimaschutzthemas im Zuge der weltweiten Fridays-for-future-Proteste geschuldet. Dass das Wahlergebnis enttäuschender ausfiel als erwartet, lag an der missglückten Kampagne der als Kanzlerkandidatin antretenden Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock, die durch nicht deklarierte Nebeneinkünfte, Plagiatsvorwürfe und Schönungen in ihrem Lebenslauf ins Straucheln geriet. Hatten die Grünen während der Legislaturperiode der SPD ihre Position als führende Kraft im linken Lager streitig gemacht und in den Umfragen für kurze Zeit sogar vor der Union gelegen, fielen sie jetzt wieder auf Platz drei im Parteiensystem zurück.
Die Koalitionsverhandlungen der Ampel
Das Wahlergebnis machte die Bildung einer Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP unausweichlich. Die SPD konnte nicht nur auf ihre Position als stärkste Kraft verweisen, sondern auch darauf, dass sie – genauso wie Grüne und FDP – an Stimmen zugelegt hatte, während die Union massive Verluste erlitt. Gleichzeitig wurde ihr Anspruch, den nächsten Kanzler zu stellen, dadurch unterfüttert, dass Scholz in der „Direktwahlfrage“ (Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler?) während des gesamten Wahlkampfs vor Laschet lag – am Ende sogar deutlich. Auch für Grüne und FDP gab es vor diesem Hintergrund zur Ampel keine Alternative. Die Frage eines Linksbündnisses erübrigte sich, weil es dafür wegen des schwachen Abschneidens der Linken keine Mehrheit gab. Selbst dann hätte sich Scholz von seiner Präferenz für die Ampel kaum abbringen lassen, die er bereits zu Beginn des Wahlkamps mehr oder weniger verklausuliert formuliert hatte.
Die Sondierungen und Koalitionsverhandlungen verliefen erstaunlich reibungslos und konnten in etwas mehr als zwei Monaten abgeschlossen werden. Sowohl den Sozialdemokraten als auch den Grünen gelang es dabei, ein Vertrauensverhältnis zur FDP aufzubauen, die als Partei des „anderen Lagers“ den weitesten Weg zurücklegen musste, um ihre Anhängerinnen und Anhänger von der auf Landesebene bis dato nur in Rheinland-Pfalz erprobten Ampel zu überzeugen. Tatsächlich konnten die Liberalen im Koalitionsvertrag viele ihrer Forderungen unterbringen – keine Steuerhöhungen, Einstieg in die Aktienrente, Verzicht auf ein allgemeines Tempolimit –, während die Grünen von ihren ehrgeizigen Klimaschutzzielen manche Abstriche machen mussten. Bei der Ressortverteilung wog ihr Verzicht auf das Verkehrsministerium schwer, wofür sie im Gegenzug freilich alle anderen umweltbezogenen Zuständigkeiten erhielten, vor allem das um den Bereich Klimaschutz erweiterte Wirtschaftsressort, das der neue Vizekanzler Robert Habeck besetzte. Mit Annalena Baerbock übernahm zum zweiten Mal nach Joschka Fischer eine Grünen-Vertreterin das Auswärtige Amt – als erste weibliche Außenministerin –, während der FDP-Vorsitzende Lindner dem neuen Kanzler Scholz als Finanzminister nachfolgte.
Koalitionsvertrag und Regierungspolitik der Ampelkoalition
In ihrem in relativ kurzer Zeitspanne von knapp sechs Wochen ausgehandelten und am 7. Dezember 2021 beschlossenen Regierungsprogramm präsentierten sich SPD, Grüne und FDP als „Fortschrittskoalition“. Der Titel des Koalitionsvertrages „Mehr Fortschritt wagen“, eine Anspielung auf Willy Brandts Motto „Mehr Demokratie wagen“ aus dessen Regierungserklärung vom Oktober 1969, sollte einen Aufbruch verheißen. Als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ wollten die Ampelparteien ihre jeweiligen Markenkerne produktiv zusammenführen. Ihr Ziel, „die notwendige Modernisierung Deutschlands voranzutreiben“, würden sie im Bewusstsein verfolgen, „dass dieser Fortschritt auch mit einem Sicherheitsversprechen einhergehen muss.“
Als Hauptbaustellen der Modernisierung wurden in der Präambel des Koalitionsvertrages „eine umfassende Digitalisierung der Verwaltung“ und die Neubegründung der sozialen Marktwirtschaft als „sozial-ökologische Marktwirtschaft“ genannt. Für die FDP und ihren designierten Finanzminister Christian Lindner war es wichtig, dass die dazu notwendigen Mittel für öffentliche Investitionen unter Einhaltung der Schuldenregel des Grundgesetzes aufgebracht würden. Im Gegenzug erklärte er sich bereit, die Umbuchung nicht-verbrauchter Coronakreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro in einen neu einzurichtenden Energie- und Klimafonds mitzutragen, was rechtlich heikel war und vom Bundesverfassungsgericht im November 2023 – also gut zwei Jahre später – tatsächlich als verfassungswidrig zurückgewiesen wurde.
Der russische Angriffskrieg und die daraus resultierende Energiekrise
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 erforderte eine neue Prioritätensetzung und machte so wesentliche Teile des Koalitionsvertrages zur Makulatur [= Papierabfall; hier: sinnlos]. In seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar – es war das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass das Parlament an einem Sonntag einberufen wurde –, sprach Kanzler Olaf Scholz von einer außen- und sicherheitspolitischen „Zeitenwende“ und verband dies mit der Ankündigung eines 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögens zur Aufrüstung der Bundeswehr. Der dafür erforderlichen Änderung des Grundgesetzes stimmte auch die CDU/CSU zu. Unmittelbare innenpolitische Rückwirkungen hatte der Krieg auf die Energieversorgung. Weil Russland seine Gaslieferungen einstellte, musste die Regierung für Ersatz sorgen. Dass die Beschaffung von Flüssiggas und Bereitstellung entsprechender Terminals in kurzer Zeit gelang, brachte die Bundesrepublik sicher über den nächsten Winter und bewahrte die Industrie vor Produktionsstopps. Gleichzeitig schien es ein gutes Omen für das neue „Deutschlandtempo“ bei den Investitionen, auch wenn Natur- und Klimaschutzziele dafür hintangestellt werden mussten. Die dramatisch steigenden Energiekosten, die die Inflation 2022 auf den höchsten Wert seit den 1970er-Jahren trieb, versuchte die Regierung durch mehrere Entlastungspakete und einen „wirtschaftlichen Abwehrschirm“ abzufedern. Die allein für die Gas- und Strompreisbremse anfallenden 200 Milliarden Euro finanzierte sie über ein weiteres Sondervermögen. Zu den innovativen Einzelmaßnahmen gehörte die Einführung eines bundesweit gültigen „Deutschlandtickets“ für den Öffentlichen Personennahverkehr, dessen Einstiegspreis von 9 Euro später auf 49 Euro (ab 1. Mai 2023) bzw. 58 Euro (ab 1. Januar 2025) angehoben wurde.
Bei der militärischen Unterstützung der Ukraine verfolgte Olaf Scholz eine „mittlere Linie“. Indem er den Forderungen nach Waffenlieferungen nur zögerlich nachgab oder sich ihnen – wie beim Taurus-Marschflugkörper – ganz verweigerte, wollte er die Gefahr einer Eskalation vermeiden und verhindern, dass Deutschland selbst in den Krieg hineingezogen wird. Diese Position, die im Einklang mit der seiner Partei, der SPD, und der mehrheitlichen Meinung der Bevölkerung stand, stieß bei den Unionsparteien, aber auch bei Grünen und FDP auf Kritik. Als Belastung für Scholz und die SPD erwies sich die überfordert wirkende Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, die nach einem missglückten Neujahrsgrußvideo im Januar 2023 zurücktrat und durch den niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius ersetzt wurde. Dieser erwarb sich in der Truppe rasch Respekt und stieg in den Umfragen zum beliebtesten Politiker des Landes auf.
Klimaschutz und Rezession
Innenpolitisch wurde das zweite Regierungsjahr der Ampel, 2023, zunächst von der Auseinandersetzung um das – umgangssprachlich „Heizungsgesetz“ genannte – Gebäudeenergiegesetz überschattet, das den Austausch von Öl- und Gasheizungen regelt. Im Koalitionsvertrag war vereinbart worden, dass ab dem 1. Januar 2025 jede neu eingebaute Heizung auf der Basis von 65 Prozent erneuerbarer Energien betrieben werden soll. Was unter „erneuerbare Energien“ genau zu verstehen ist, ging aus der Formulierung aber nicht klar hervor und bot deshalb ein Einfallstor für die vor allem von der FDP beschworene „Technologieoffenheit“. Handwerkliche Fehler bei der Vorbereitung des Gesetzes durch den zuständigen Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck und eine schlechte öffentliche Kommunikation sorgten für heftigen Gegenwind gegen das Vorhaben, der auch aus den Reihen der Koalitionspartner angefacht wurde. Habeck entschärfte die Vorlage daraufhin in wesentlichen Punkten, bevor sie im September 2023 beschlossen wurde. Ob eigene Fehler oder – wie der Minister mutmaßte – die allgemein fehlende Akzeptanz konkreter Klimaschutzmaßnahmen in der Bevölkerung für sein Scheitern verantwortlich waren, sei dahingestellt. Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte.
Auch ansonsten fiel die Bilanz der Koalition in Sachen Klimaschutz eher schlecht aus. Von den Ausbauzielen der Elektromobilität blieb sie weit entfernt, weil der Markt nach der plötzlichen Streichung der Kaufprämie einbrach, es weiterhin an der nötigen Ladeinfrastruktur fehlte und der auf nationaler wie europäischer Ebene geplante Abschied vom Verbrennungsmotor offen in Zweifel gezogen wurde. Der von CDU und CSU geforderte und von der FDP ebenfalls gut geheißene Weiterbetrieb der zur Abschaltung bestimmten Atomkraftwerke stieß bei den Grünen auf erwartbaren Widerstand. Kanzler Scholz musste von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen, um einen Kompromiss zu erzielen, der den Weiterbetrieb bis zum 15. März 2023 erlaubte. Uneingelöst blieb das Versprechen, Geringverdienende für den gewollten Anstieg des CO2-Preises durch Zahlung eines Klimageldes zu entschädigen. Nachdem die Koalition im November 2024 zerbrochen war, konnte auch das Kraftwerkssicherungsgesetz nicht mehr verabschiedet werden, das die mit dem geplanten Kohleausstieg ab 2030 entstehende Energielücke durch den Bau neuer Gaskraftwerke schließen sollte.
Dass die Ambitionen beim Klimaschutz zurückgestellt wurden, lag vor allem an der schwächelnden Wirtschaft. Der Wegfall der billigen Gasimporte aus Russland und der schrumpfende chinesische Exportmarkt trafen die Bundesrepublik stärker als andere Volkswirtschaften. Zudem rächte sich, dass man jahrzehntelang zu wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert hatte. Das „neue Wirtschaftswunder“, das Olaf Scholz mit Blick auf die grüne Transformation versprach, lag in weiter Ferne. Stattdessen rutschte das Land 2023 in die Rezession. Am stärksten machte sich die Krise in der Automobilindustrie – der deutschen Schlüsselbranche schlechthin – bemerkbar, die in der Elektrotechnologie der Konkurrenz hinterherhinkte und deshalb erhebliche Marktanteile verlor. Hersteller wie Volkswagen oder Ford kündigten 2024 erstmals Werksschließungen an. Die Regierung reagierte auf die Krise mit einer Reihe von Maßnahmenpaketen, die die Angebotsbedingungen der Unternehmen verbessern und vor allem die Energiekosten senken sollten. Von ihrer 49 Einzelpunkte umfassenden „Wachstumsinitiative“, die sie zuletzt – im Juli 2024 – beschloss, wurde wegen des Richtungsstreits in der Koalition am Ende aber kaum noch etwas umgesetzt.
Erfolge und vertane Chancen der Ampel
In der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik trug das Regierungshandeln überwiegend die Handschrift der SPD, die hier mit Hubertus Heil (Arbeit und Soziales) und Karl Lauterbach (Gesundheit) zugleich die Ressortzuständigkeit besaß. Das den Grünen zugesprochene Familienministerium wurde nach dem Rücktritt Anne Spiegels ab Januar 2022 von Lisa Paus geführt. Neben der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro war den Sozialdemokraten vor allem daran gelegen, die im Wahlkampf versprochene Stabilisierung des Niveaus der gesetzlichen Rente durchzusetzen. Dafür gestand sie der FDP die Einführung eines schuldenfinanzierten Generationenkapitals zu, um den Anstieg der Beitragssätze zu begrenzen. Das Gesetz kam im Bundestag nach dem Bruch der Koalition allerdings nicht mehr zur Abstimmung – genauso wie das Tariftreuegesetz, das Unternehmen bei öffentlichen Aufträgen auf die Einhaltung von Tarifbestimmungen verpflichten sollte.
Erfolgreicher war die Koalition mit der von Minister Lauterbach gegen erhebliche Widerstände durchgebrachten Krankenhausreform, die in einer turbulenten Bundesratssitzung am 22. November 2024 auch von den Ländern mehrheitlich unterstützt wurde, und dem von Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger aufgelegten „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen sowie Schülerinnen und Schüler. Weit unter der im Koalitionsvertrag vorgesehenen Zielmarke blieb die Koalition beim Wohnungsbau: Statt der versprochenen 400.000 Wohnungen pro Jahr konnten 2022 und 2023 nur jeweils rund 300.000 fertiggestellt werden. Zudem scheiterte die von SPD und Grünen befürwortete Verlängerung der Mietpreisbremse am Widerstand des FDP-geführten Justizministeriums.
Zu großen Konfliktthemen entwickelten sich die Einführung einer Kindergrundsicherung und die Reform des Bürgergelds. In den Koalitionsverhandlungen noch relativ unstrittig, gerieten beide Projekte durch die schwache Konjunktur und fehlende Haushaltsmittel unter Beschuss. Von der ursprünglichen Idee der Kindergrundsicherung, verschiedene staatliche Leistungen wie Kindergeld oder Kinderzuschlag sowie Sozialleistungen für Kinder zu bündeln, blieb am Ende außer einer leichten Erhöhung des Kinderzuschlages und Kindergeldes kaum etwas übrig. Statt der verlangten 12 Milliarden, die auch in den Aufbau einer neuen Behörde fließen sollten, musste sich Ministerin Paus mit 2,4 Milliarden Euro für das Vorhaben begnügen. Beim Bürgergeld, das an die Stelle der bisherigen Grundsicherung (Hartz IV) treten sollte, stand das Ziel einer verbesserten Integration in den Arbeitsmarkt im Vordergrund. Um die Zustimmung der unionsregierten Länder im Bundesrat zu erlangen, musste die Regierung die im Gesetz vorgesehene Anhebung des Schonvermögens und Lockerung der Sanktionen teilweise zurücknehmen. Die Kritik aus den Unionsparteien riss in der Folge aber nicht ab und wurde innerhalb der Regierung auch von der FDP aufgegriffen. Sie entzündete sich einerseits an der Höhe der Leistungen, die angeblich zu wenig Arbeitsanreize vermittelten (Lohnabstandsgebot), andererseits an der seit 2022 auf etwa 5,5 Millionen angewachsenen Zahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger, darunter 1,5 Millionen Erwerbsfähige. Der Anstieg ging vor allem auf die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine zurück, von denen 2023 etwa zwei Drittel (rund 700.000 Personen) Bürgergeld bezogen. Zudem störte sich die Union an dem Begriff „Bürgergeld“, der den Eindruck erwecke, es handele sich um ein bedingungsloses Grundeinkommen.
Migrationspolitik
Die Flüchtlingssituation katapultierte die Migration ab 2022 auf der Agenda der wichtigsten Themen erneut nach oben. Wie 2015/2016 profitierte davon hauptsächlich die AfD. Neben den 1,2 Millionen Flüchtenden aus der Ukraine, die einen temporären Sonderstatus besitzen, spielte dabei auch der Wiederanstieg der Asylbewerberzahlen aus dem Nahen Osten und Afrika eine Rolle. Im Bereich der Arbeitsmigration konnte die Ampelkoalition das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts als Erfolg verbuchen. Letztere ermöglicht eine Einbürgerung künftig schon nach fünf statt wie bisher acht Jahren, ohne dass die vorhandene Staatsbürgerschaft abgegeben werden muss (Mehrstaatigkeit).
Bei den Flüchtenden erwiesen sich die Erschöpfung der Aufnahmekapazitäten in den Kommunen und die geringe Zahl der Abschiebungen als wiederkehrende Probleme. Angeheizt wurde die Debatte durch die Messerangriffe radikalisierter muslimischer Gewalttäter in Mannheim (Mai 2024) und Solingen (August 2024), bei denen vier Personen ums Leben kamen und weitere 14 zum Teil schwere Verletzungen erlitten. Die Ampelregierung beschloss daraufhin ein Sicherheits- und Asylpaket, das viele Maßnahmen enthielt, die das SPD-geführte Innenministerium und die Grünen bis dahin abgelehnt oder als nicht praktikabel angesehen hatten (Einführung von Grenzkontrollen, Abschiebeflüge nach Afghanistan, Streichung von Leistungen für Asylbewerber, Einsatz von Gesichtserkennung etc.). Der Forderung der Union, Flüchtende an den deutschen Grenzen generell zurückzuweisen, erteilte sie eine Absage, weil das europarechtlich nicht möglich sei. Es hätte auch dem Geist des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) widersprochen, auf dessen Reform sich die EU-Mitgliedstaaten im Dezember 2023 mühsam verständigt hatten. Außerdem konnte die Regierung darauf verweisen, dass die Asylbewerberzahlen 2024 im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 40 Prozent zurückgegangen waren.
Unter den sonstigen gesellschaftspolitischen Themen waren die programmatischen Schnittmengen zwischen den Ampelpartnern größer. Hier stechen neben der Streichung des in § 219 des Strafgesetzbuches geregelten Werbeverbots für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen vor allem das Selbstbestimmungsgesetz in Bezug auf den Geschlechtseintrag sowie die Cannabislegalisierung heraus, die nach langem Hin und Her gegen heftige Kritik aus der Union im Februar 2024 beschlossen wurde. Auf der Habenseite der Koalition ist zugleich die Wahlrechtsreform zu verbuchen (siehe Beitrag „
Der Bruch der Ampel
Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung hatten SPD, Grüne und FDP in den ersten 20 Monaten ihrer Regierungszeit (bis Mitte August 2023) knapp zwei Drittel der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorhaben umgesetzt oder mit der Umsetzung begonnen. Zur Sollbruchstelle der Koalition geriet das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023. Ihren Finanzierungsplan für die Zukunftsinvestitionen durchkreuzend, entzog es der Regierung die politische Geschäftsgrundlage. Die ideologischen und politikinhaltlichen Gräben zwischen den Partnern, die unter dem Druck der sich verschlechternden Umfragen und Wahlergebnisse schon vorher aufgerissen waren, ließen sich von nun an nicht mehr überbrücken. Während die Grünen möglichst viel von „ihrem“ Energie- und Klimafonds retten und die SPD Kürzungen im Sozialetat vermeiden wollte, beharrte die FDP auf der Einhaltung der Schuldenbremse. Einen Alternativplan gab es nicht. Die durch die fehlenden 60 Milliarden Euro verursachten Sparzwänge stießen auf zum Teil massiven Widerstand der betroffenen Gruppen (besonders bei den Landwirtinnen und Landwirten), was die Fliehkräfte in der Koalition verstärkte. Das Bedürfnis nach eigener parteipolitischer Profilierung gewann jetzt gegenüber dem Teamgeist des ersten Regierungsjahres endgültig die Oberhand. Die Koalitionäre blockierten sich bei den noch anstehenden Vorhaben gegenseitig und stellten sogar bereits getroffene Beschlüsse nachträglich wieder infrage. Dass der Streit auf offener Bühne stattfand und kein Ende nahm, bestärkte den Eindruck einer faktisch gescheiterten Regierung.
Das Ende der Ampel nach knapp drei Jahren Regierungszeit kam dann fast erwartbar am 6. November 2024. Eine Rekonstruktion der Ereignisse durch die „Zeit“ und die „Süddeutsche Zeitung“ hat belegt, dass die FDP seit September 2024 auf ihren Ausstieg aus der Koalition gezielt hinarbeitete. Um den Bruch herbeizuführen, brachte Christian Lindner am 1. November ein Papier in die Öffentlichkeit, das SPD und Grüne als Provokation empfinden mussten. Die radikale Wirtschaftswende, die der Finanzminister und FDP-Vorsitzende darin forderte, erinnerte in Inhalt und Diktion bewusst an das „Lambsdorff-Papier“ von 1982 – den „Scheidungsbrief“ der damaligen sozialliberalen Koalition. Zum ultimativen Trennungsgrund wurde die noch bestehende Finanzierungslücke im Haushalt 2025 in Höhe von etwa 10 Milliarden Euro. In der Sitzung des Koalitionsausschusses am 6. November bestand Olaf Scholz gegenüber Lindner darauf, diese Lücke durch die Erklärung einer Notlage zu schließen, was eine Aussetzung der Schuldenbremse ermöglicht hätte. Als Lindner dem nicht zustimmen wollte, wurde er vom Kanzler entlassen. Daraufhin reichten auch Justizminister Marco Buschmann und Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ihren Rücktritt ein. Verkehrsminister Volker Wissing, der sich dem Ausstieg aus der Koalition parteiintern widersetzt hatte, nahm das Angebot des Kanzlers an, im Amt zu bleiben. Zugleich erklärte er seinen Austritt aus der FDP.
Politische Stimmung
In den ersten drei Monaten nach Amtsantritt profitierten alle Partner der Ampel von guten Umfragewerten. Darin kam einerseits der übliche „Nachwahleffekt“ zum Ausdruck. Zum anderen wurde die Regierung für ihr entschlossenes Krisenmanagement nach dem russischen Angriff auf die Ukraine belohnt. Ab März 2022 begannen sich die Sympathiewerte zu verzweigen. Während SPD und FDP an Zustimmung verloren, ging sie für die Grünen nach oben. Der Hauptgrund dafür lag in der Glaubwürdigkeit ihrer Position zu Russland und Putin, wo sie die Zeichen der Zeit früher erkannt hatten als die anderen Parteien. Dies drückte sich zugleich in den Wahlergebnissen aus. Mit dem Sieg bei der Bundestagswahl im Rücken, errang die SPD bei der saarländischen Landtagswahl im Februar 2022 die absolute Mehrheit, weil hier Grüne, FDP und Die Linke allesamt an der Fünfprozenthürde scheiterten. Vor den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen im Mai hatte sich der Bundestrend für sie aber bereits so verschlechtert, dass sie abgeschlagen hinter der CDU landete. Diese verteidigte ihre Regierungsmacht in beiden Ländern souverän und bildete daraufhin Koalitionen mit den Grünen, die bei den Wahlen stark zugelegt hatten. In Schleswig-Holstein wäre auch eine Koalition mit der FDP möglich gewesen, doch schlug die CDU unter Ministerpräsident Daniel Günther diese Option aus. Auch aus den Landtagswahlen in Niedersachsen im Oktober 2022 gingen die Grünen gestärkt hervor, was die Bildung einer Regierung zusammen mit der SPD ermöglichte. Dieser gelang es trotz Verlusten, unter ihrem populären Ministerpräsidenten Stephan Weil den schlechten Werten auf Bundesebene zu trotzen.
Die Grünen im Abwärtssog
2023 und 2024 sollte sich das Blatt dann auch für die Grünen wenden. Nach der Wiederholungswahl des Abgeordnetenhauses im Februar 2023 fielen sie in Berlin trotz leichtem Stimmenzuwachs aus dem Senat – der Regierung der Stadt – heraus. Bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober mussten sie starke Einbußen hinnehmen, was in Hessen ebenfalls zum Regierungsverlust führte: Ministerpräsident Boris Rhein beendete die Koalition der CDU mit den Grünen nach zehn Jahren und zog es vor, stattdessen mit den Sozialdemokraten zu regieren. Zu einem Desaster für die Grünen gerieten die Europawahlen im Juni 2024, als sie mit Verlusten von 8,6 Prozentpunkten gegenüber 2019 regelrecht einbrachen und vor allem in der jüngsten Alterskohorte dramatische Einbußen erlitten. In Sachsen, Thüringen und Brandenburg, wo sie an den Regierungen beteiligt waren, gelang den Grünen bei den Wahlen im September 2024 nur in Sachsen knapp der Wiedereinzug in den Landtag. Auch dort kamen sie für die CDU als Regierungspartner nicht mehr in Betracht.
Der Niedergang der Grünen spiegelt sich in den Mehrheitsverhältnissen des Bundesrates, der als Vertretungsorgan der Länderregierungen an der Gesetzgebung des Bundes mitwirkt und dort bei etwa einem Drittel der (zustimmungspflichtigen) Gesetze ein absolutes und bei den übrigen zwei Dritteln der Einspruchsgesetze ein aufschiebendes Vetorecht hat. War die Partei Ende 2022 in elf der 16 Bundesländer in den Regierungen vertreten, reduzierte sich deren Zahl bis zum Ende der Wahlperiode auf sieben – allesamt in Westdeutschland gelegen. Im Osten (einschließlich Berlins), wo sie bis zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt in fünf der sechs Länder mitregierten, verfügten die Grünen am Ende der Wahlperiode über keine einzige Regierungsbeteiligung mehr.
Niederlagen bei FDP und SPD
Von den Wahlergebnissen ähnlich gebeutelt wurde die FDP. Sie verzeichnete bei allen Landtagswahlen und der Europawahl massive Verluste, verpasste in sieben Fällen (!) den Sprung oder Wiedereinzug ins Parlament (im Saarland, in Niedersachsen, in Bayern und in allen ostdeutschen Ländern einschließlich Berlins) und büßte zwei ihrer drei Regierungsbeteiligungen ein (in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein). Gemischter fällt das Bild bei der SPD aus. Sie musste bei fast allen Wahlen ebenfalls kräftige Einbußen hinnehmen, konnte ihre Position im Bundesrat aber behaupten. Durch den Regierungseintritt in Hessen gewann sie unter dem Strich sogar noch eine Regierungsbeteiligung dazu. Die Pluralisierung der Parteien- und Koalitionslandschaft führt dazu, dass eine Bundesregierung – egal welcher Zusammensetzung – sich nicht mehr auf eine eigene Mehrheit in der Länderkammer stützen kann. So standen bei der Ampelkoalition seit Ende 2022 16 Stimmen der von ihren Partnern „kontrollierten“ Landesregierungen (Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Hamburg, Saarland) sechs gegnerische Stimmen aus Bayern sowie 47 Stimmen aus den übrigen, „gemischt“ regierten Ländern gegenüber. Die einzige denkbare Koalition, die – Stand Januar 2025 – in der Länderkammer über eine eigene Mehrheit verfügen würde, wäre (mit 41 von 69 Stimmen) ein „Kenia“-Bündnis aus Union, SPD und Grünen.
(© picture-alliance, dpa-infografik GmbH)
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Der Ansehensverlust der Ampel
Dass Regierungsparteien bei den während einer Legislaturperiode stattfindenden „Zwischenwahlen“ abgestraft werden, ist nichts Ungewöhnliches. Normalerweise kommt es aber ab der zweiten Hälfte der Periode zu einer gewissen Erholung, je näher der Wahltermin rückt. Gemessen daran ist der Ansehensverlust der Ampelregierung beispiellos. Er sollte sich ab Mitte des Jahres 2023 rapide verschärfen und bis zum Bruch der Koalition im November 2024 zur niedrigsten Zufriedenheit absinken, die in der Bundesrepublik jemals für eine Bundesregierung gemessen wurde. Unter den drei Partnern stand dabei die SPD noch am besten da, doch kam auch sie in der „Sonntagsfrage“ bis zur Neuwahlentscheidung über Werte von 15 Prozent nicht hinaus. Hatten die drei Ampelparteien bei der Bundestagswahl 2021 zusammen 51,8 Prozent der Stimmen erreicht, lagen ihre Zustimmungswerte kurz vor dem Bruch der Koalition nur noch bei knapp über 30 Prozent.
Bei der Suche nach den Gründen darf nicht außer Acht bleiben, dass wahrscheinlich noch nie eine Regierung in der Bundesrepublik schon zu Beginn ihrer Amtszeit vor vergleichbaren Herausforderungen stand wie die Ampel. Das gleichzeitige Wegbrechen von drei Säulen der Wohlstandsentwicklung seit den 1990er-Jahren – Friedensdividende, billige Gasimporte und Vorhandensein eines großen chinesischen Exportmarktes – musste fast zwangsläufig in eine Rezession und Wirtschaftskrise führen. Jenseits dieser objektiven Erschwernisse waren die Akteure für ihre Misere jedoch größtenteils selbst verantwortlich. Denn nach einem durchaus verheißungsvollen Beginn fehlte es ihnen an der Fähigkeit wie auch am Willen, im regierungsinternen Entscheidungsprozess und Auftreten nach außen ein ausreichendes Maß an Gemeinsamkeit zu entwickeln. Wie sollten die Menschen einer Regierung vertrauen, deren Partner untereinander selbst tiefes Misstrauen hegen?
Demokratie unter Druck
Nutznießer der Regierungsunzufriedenheit und schlechten politischen Stimmung waren neben der Union als führender Oppositionspartei die rechtspopulistische und -extremistische AfD sowie seit der Parteigründung im Januar 2024 das Bündnis Sahra Wagenknecht, das als neue „Links-Rechts-Partei“ zwar nicht extremistisch auftritt, der AfD in seiner populistischen Qualität aber in Nichts nachsteht. Der Abwärtstrend, den die AfD bei der Bundestagswahl vor allem in den westlichen Bundesländern verspürt hatte, setzte sich bei den Landtagswahlen im Februar sowie im Mai 2022 zunächst fort; in Schleswig-Holstein flog sie sogar aus dem Landtag. Ab der zweiten Hälfte kam es dann zu einer Stimmungswende, die die Zustimmungswerte der Rechtspopulisten auf zuvor nicht gekannte Höhen trieb. Im Westen wurde die AfD nun überall zweistellig und verbuchte in Hessen im Oktober 2023 mit 18,4 Prozent ihr bisher bestes Ergebnis. Bei den Wahlen in Thüringen ein Jahr später avancierte sie erstmals bei einer Landtagswahl zur stärksten Partei, in Sachsen und Brandenburg landete sie mit etwa 30 Prozent nur knapp hinter der CDU bzw. der SPD auf Platz zwei.
Das Überraschende und Besorgniserregende an den hohen Zugewinnen war, dass die AfD sie trotz ihrer weiter fortschreitenden Radikalisierung erzielte. Im März 2022 war die Partei mit einer Klage vor dem Kölner Verwaltungsgericht gegen ihre Einstufung als „rechtsextremer“ Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz gescheitert, was die Wählerinnen und Wähler aber offenbar wenig abschreckte. Enthüllungen des Recherchenetzwerks Correctiv, wonach die AfD auf einem Geheimtreffen in Potsdam im November 2023 Pläne für die millionenfache Abschiebung („Remigration“) von Zugewanderten besprochen haben soll, führten im Januar und Februar 2024 zu einer gewaltigen gesellschaftlichen Gegenmobilisierung. In der größten Demonstrationswelle seit Entstehung der Bundesrepublik gingen auf etwa 1200 Kundgebungen bis Juni über drei Millionen Menschen auf die Straße, um gegen Rechtsextremismus und für Toleranz und Demokratie zu demonstrieren.
Dass die Zustimmungswerte der AfD daraufhin nachgaben, lag allerdings nicht nur daran. Es hing auch damit zusammen, dass mit dem im Januar 2024 gegründeten BSW ein weiteres Angebot für systemkritische Protestwählerinnen und -wähler bereitstand, das vor allem in den ostdeutschen Ländern auf fruchtbaren Boden fiel. Dort hatte sich seit 2023 eine Debatte um die eigene Identität im vereinten Deutschland entspannt, die jetzt zugleich in der beschwichtigenden Haltung zum russischen Krieg in der Ukraine Niederschlag fand. Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg kamen AfD und BSW zusammen auf über 40 Prozent, in Thüringen sogar auf fast 50 Prozent der Stimmen. Um die AfD von der Macht weiter fernhalten zu können, kamen CDU und SPD deshalb nicht umhin, das BSW als Partner in einer gemeinsamen Regierung zu akzeptieren, was auch beim BSW Konflikte auslöste und am Ende nur in Brandenburg und Thüringen gelang. In Sachsen bildeten CDU und SPD nach dem Scheitern der Verhandlungen eine Minderheitsregierung.
Die Enthüllungen über die AfD löste nicht nur gesellschaftliche Gegenreaktionen aus, sondern beförderte auch in der Politik Überlegungen, wie man dem Rechtspopulismus und -extremismus effektiver entgegentreten könne. Ins Blickfeld rückten dabei zum einen die Instrumente der „wehrhaften Demokratie“ und zum anderen der Schutz der demokratischen Institutionen.
QuellentextVon der Linken zum Bündnis Sahra Wagenknecht
Die Gründung des BSW markiert das Ende eines über Jahre währenden Entfremdungsprozesses zwischen Sahra Wagenknecht und der Partei Die Linke und vormaligen PDS, der sie seit 1989 angehörte. Wagenknecht und ihr Ehemann Oskar Lafontaine, der seit 2005 maßgeblich an der Entstehung der gesamtdeutschen Linken beteiligt war, störten sich insbesondere an der Öffnung der Linken für identitätspolitische Probleme und ihrem Eintreten für eine liberale, humanistische Flüchtlingspolitik. 2018 unternahm Wagenknecht den Versuch, die verschiedenen Strömungen der Linken in einer überparteilichen Sammlungsbewegung („Aufstehen“) zu vereinigen, der aber erfolglos blieb. Nachdem sich mit der Coronakrise und dem russischen Krieg gegen die Ukraine weitere nutzbare Themen auftaten, gelang es Wagenknecht, einen Teil der Linken-Fraktion im Bundestag auf ihre Seite zu ziehen und vom Projekt einer neuen Partei zu überzeugen. Um einen kontrollierten Aufbau der Organisation zu gewährleisten, der ihre eigene Führungsmacht nicht gefährdet, stellte sie sicher, dass Mitglieder nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Vorstandes aufgenommen werden dürfen. Die Ausrichtung der Organisation nach dem „Kaderprinzip“ und Wagenknechts Einmischung in die Autonomie der Landesverbände wurde von Parteienrechtlern als Verstoß gegen das Parteiengesetz kritisiert und stieß auch an der Parteibasis auf Widerspruch. Die vorgezogene Bundestagswahl erwischte das BSW zudem auf dem falschen Fuß. Der vermeintliche Vorteil des bewusst langsamen Wachstums entpuppte sich als Nachteil, weil die für die Kandidatenaufstellung zuständigen Landesverbände zum Teil noch nicht gegründet worden waren und es mithin an einer flächendeckenden Organisation fehlte. Ob das BSW unter diesen Bedingungen eine professionelle Wahlkampagne auf die Beine stellen kann, bleibt fraglich.
Frank Decker
(© Frank Decker)
Die wehrhafte Demokratie
Was Ersteres betrifft, mehrten sich in der öffentlichen Debatte die Stimmen, die nach einem Verbotsverfahren gegen die AfD verlangten. Unterhalb dieser „ultima ratio“ wurden auch niedrigschwelligere Instrumente wie das Verbot von Teilorganisationen und Landesverbänden, die Verwirkung von Grundrechten gemäß Artikel 19 des Grundgesetzes, der Entzug der staatlichen Parteienfinanzierung oder beamtenrechtliche Sanktionen gegen AfD-Mitglieder und -funktionäre ins Spiel gebracht. An der Bewertung der repressiven Instrumente schieden sich die Geister. Die Meinungen unterschieden sich dabei auch innerhalb der Parteien sehr. Während die einen darauf hinwiesen, dass der Staat sogar eine Pflicht habe, die repressiven Maßnahmen einzusetzen, um die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen, warnten andere vor schädlichen Folgen, wenn man bei der Bekämpfung des Extremismus auf Mittel zurückgreife, die selbst als undemokratisch oder illiberal empfunden werden könnten. Dies spiele dem von den populistischen Herausforderern gepflegten Narrativ in die Karten, die etablierten Kräfte würden sie unfair behandeln und aus dem Wettbewerb ausgrenzen. Auch die ungewissen Erfolgsaussichten eines sich möglicherweise lange hinziehenden Verfahrens führten dazu, dass unter den Abgeordneten die Skepsis überwog und sich ein Konsens in dieser Frage nicht ergab.
Die Absicherung demokratischer Institutionen
Größere Übereinstimmung bestand im zweiten Punkt, der Absicherung der demokratischen Institutionen. Nachdem sie ab 2014 in alle Landesparlamente und den Bundestag eingezogen war, ließ die AfD keinen Zweifel, dass sie ihre parlamentarische Präsenz auch für obstruktive [= behindernde, erschwerende] Zwecke zu nutzen gedachte. Die etablierten Parteien reagierten darauf unter anderem durch eine Neufassung oder Neuauslegung tradierter Proporzregeln bei der Postenvergabe und -verteilung. So änderte man zum Beispiel die Bestimmung zum Alterspräsidenten im Bundestag bereits 2017 dahingehend, dass nicht mehr das an Jahren, sondern das dienstälteste Mitglied des Parlaments diese Funktion übernehmen sollte. Klagen der AfD gegen die Abwahl ihres Abgeordneten Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses oder gegen die wiederholte Weigerung der Bundestagsmehrheit, die von ihr nominierten Kandidaten für das Präsidium zu bestätigen, wies das Bundesverfassungsgericht unter Verweis auf das freie Mandat zurück. Als sich mit ihren stark ansteigenden Umfragewerten ab Mitte der Legislaturperiode die Möglichkeit andeutete, dass die AfD bei den im Spätsommer 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg anstehenden Landtagswahlen stärkste Kraft werden und/oder eine Sperrminorität in den Landtagen erringen könnte (was in Thüringen tatsächlich gelang), begannen die Parteien dagegen Vorkehrungen zu treffen, indem sie das traditionell der stärksten Fraktion zustehende Vorschlagsrecht für das Amt des Parlamentspräsidenten abschwächten und nach Möglichkeiten suchten, Blockaden bei der Wahl von Verfassungsrichterinnen und -richtern zu umgehen.
Auf der Bundesebene galt die wichtigste Priorität seit 2023 einer besseren Absicherung des Verfassungsgerichts. Dass dessen Aus- oder Gleichschaltung im Drehbuch der autoritären Umgestaltung eines demokratischen Systems die Schlüsselrolle zukommt, belegen die Erfahrungen aus Polen, Ungarn und den USA eindrucksvoll. Um einem vergleichbaren Szenario in der Bundesrepublik vorzubeugen, vereinbarten die demokratischen Parteien (ohne Linke, BSW und AfD) 2024 deshalb, die bisher einfachgesetzlich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festgelegten Bestimmungen, welche die Unabhängigkeit des Gerichts institutionell garantieren – Aufteilung in zwei Senate mit je acht Richterinnen bzw. Richtern, organisatorische Selbständigkeit, zwölfjährige Amtszeit ohne Wiederwahl, Bindungswirkung der Urteile – in das Grundgesetz zu übernehmen, wo sie nur mit qualifizierter Mehrheit geändert werden können. Der Vorschlag, die für die Richterwahl notwendige Zweidrittelmehrheit ebenfalls in der Verfassung festzuschreiben, wurde wegen Bedenken auf Seiten der Union nicht aufgenommen. Der Bundestag beschloss das Gesetz nach dem Bruch der Ampelkoalition noch im Dezember 2024.