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Politischer Islam im 20. Jahrhundert | Islam und Politik | bpb.de

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Politischer Islam im 20. Jahrhundert

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Eine starke Wirkung entfaltete im 20. Jahrhundert ein Phänomen, das die Wissenschaft politischer Islam oder Islamismus nennt. Im populären Sprachgebrauch ist es auch unter dem Namen islamischer Fundamentalismus bekannt.

Palästinensiche Frauen laufen an einem Poster eines Hamas-Kriegers an der Islamischen Universität in Gaza City vorbei. Die Hochschule sieht sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, fundamentalistische Lehrinhalte zu verbreiten. (© ddp/AP)

Der Panislamismus Jamal ad-Din al-Afghanis schreckte die europäischen Kolonialmächte auf, er entwickelte in der muslimischen Welt allerdings nur eine begrenzte Anziehungskraft. Wesentlich stärkere Wirkung entfaltete dagegen im 20. Jahrhundert ein Phänomen, das die Wissenschaft politischer Islam oder Islamismus nennt und das im populären Sprachgebrauch auch unter dem Namen islamischer Fundamentalismus bekannt ist.

Was aber ist ein Islamist? Und wie unterscheidet er sich von einem "normalen" Muslim? Ein Muslim ist zunächst einmal jeder, der "Islam" praktiziert, was so viel bedeutet wie Hingabe an Gott. Jeder Muslim glaubt an die absolute Einheit Gottes und daran, dass Mohammed sein Prophet ist und dass Koran sowie Sunna heilig und unfehlbar sind. Dieser Glaube vereint weltweit alle Muslime.

Jeder Islamist ist auch ein Muslim. Er glaubt gleichfalls an die Einheit Gottes und die Prophetenschaft Mohammeds, genauso wie er den Koran für das unmittelbare Wort Gottes hält, das ewig und uneingeschränkt gültig ist. Diese Gemeinsamkeit in den grundlegenden Glaubensfragen ist es, die bei Außenstehenden für Verwirrung sorgt und vorschnell dazu verleiten kann, jeden Muslim für einen "islamischen Fundamentalisten" zu halten. Die Unterschiede zwischen beiden sind jedoch gewichtig; sie betreffen vor allem die Interpretation der Heiligen Schrift beziehungsweise der Sunna. Denn trotz der Betonung der Unfehlbarkeit der koranischen Vorgaben ist keine dieser Vorgaben so eindeutig, dass sie nicht menschlicher Interpretation bedürfte, wenn sie in die Praxis umgesetzt werden soll.

Deutlich wird das an folgendem Beispiel: Für Diebstahl sieht der Koran eine eindeutige Strafe vor: "Wenn ein Mann oder eine Frau Diebstahl begangen haben, dann haut ihnen die Hand ab!" Diese Bestimmung ist eindeutig, sie lässt scheinbar keine Fragen offen. Oder doch? Zu Mohammeds Zeiten, als die islamische Gemeinschaft noch klein und homogen war, mag das so gewesen sein, erklärt der syrische Philosoph Sadiq al-Azm in einem Interview. "Aber bald traten Probleme auf. Was machen sie, wenn jemand eine Mark klaut und ein anderer zwei Millionen? Schlagen sie beiden die Hand ab?" fragt al-Azm. "Was für eine Art von Gerechtigkeit ist das? Oder ein Muslim klaut das Schwein eines Christen. Schlagen sie ihm die Hand ab, obwohl es sich um einen Christen handelt und Schweine verboten sind? Es stellte sich schnell heraus, dass das Handabschlagen nur sehr begrenzt Gültigkeit haben konnte."

Heute wird diese Strafe in den meisten islamischen Ländern nicht mehr praktiziert. Selbst unter Islamisten gibt es Stimmen, die darauf verweisen, dass einem Dieb nur dann die Hand abgeschlagen werden darf, wenn in der Gesellschaft absolute Gerechtigkeit herrscht und es keine Armut mehr gibt.

Das oben angeführte Beispiel lässt erkennen, dass sich der Islam im Laufe seiner Geschichte den unterschiedlichsten Situationen anzupassen wusste und in dieser Hinsicht Flexibilität entwickelte. Freilich war diese Flexibilität abhängig von der jeweiligen politischen Lage: Je stabiler sie war, desto toleranter und flexibler zeigten sich die Muslime, umgekehrt galt (und gilt) das Gleiche. Doch der Islam passte sich nicht nur in seinen Rechtsvorschriften den jeweiligen Verhältnissen an. Auch der alltäglich gelebte Islam entwickelte sich beispielsweise in Persien anders als in Andalusien. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in den Gebieten der islamischen Welt, die teilweise Tausende Kilometer auseinander liegen, verschiedene Traditionen entwickelt, so dass, bis auf die oben genannten grundlegenden Gemeinsamkeiten, kaum mehr von einem einheitlichen Islam die Rede sein konnte.

Es ist genau die Akzeptanz oder Ablehnung dieser verschiedenen Ausprägungsformen des Islam, die einen traditionellen Muslim von einem Islamisten unterscheidet. So wird ein traditioneller Muslim in Ägypten den Islam so annehmen, wie er sich in seinem Land über die Jahrhunderte hinweg entwickelt hat, ein ägyptischer Islamist hingegen nicht. Letzterer sucht nach dem wahren Kern des Islam und wertet die späteren Entwicklungen, die der traditionelle Muslim ungefragt akzeptiert, als Abweichungen vom Ideal. Der Islamist versucht, so weit wie möglich dem Islam zu entsprechen, wie ihn der Prophet Mohammed vorgelebt hat, und lässt nur den Koran sowie die Sunna als Quellen gelten. Den Rest, die Jahrhunderte der Entwicklung und Anpassung, lehnt er ab. Das kann zu einem terroristischen Extremismus führen, wie er beispielsweise von Osama bin Laden und seiner Organisation al-Qaida verkörpert wird.

Das beste Beispiel ist das Konzept des Dschihad. Der Dschihad, der Kampf für den Islam, hatte in der ersten Phase der islamischen Geschichte durchaus offensiven Charakter: Es ging darum, den Herrschaftsbereich der Umma auszudehnen. In den wenigsten Fällen wurden die Ungläubigen jedoch mit dem Schwert dazu gezwungen, den Islam anzunehmen. Vielmehr konnten sie ihre Religion weiter praktizieren. In Ägypten etwa stellten die Christen bis zu den Kreuzzügen die Mehrheit der Bevölkerung. Als die islamische Expansion zum Erliegen kam, änderte sich auch die Bedeutung des Dschihad. Er wurde jetzt als Mittel der Verteidigung gedeutet, im Falle eines Angriffs von außen auf die islamische Gemeinde.

QuellentextStichwort: Dschihad

[...] Der Dschihad bezeichnet – laut Koran – das "Bemühen auf dem Wege Gottes" oder "um Gottes Willen" (al-dschihad fi sabil allah). Mit diesem Bemühen ist im Koran vor allem der Kampf im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung gemeint. Mohammed und seine Kämpfer werden dort als diejenigen bezeichnet, die sich "auf dem Wege Gottes mühen", und zwar indem sie kämpfen. [...] Allerdings diente in der islamischen Geschichte der Dschihad nicht der gewaltsamen Bekehrung zum Islam, sondern in erster Linie der Ausweitung des islamischen Herrschaftsgebietes. [...]

Niemals allerdings wurde dieser Krieg zur Ausweitung des islamischen Herrschaftsgebietes als etwas Heiliges gedacht. Nur in der Übersetzung von Dschihad als "Heiliger Krieg" kommt das Adjektiv heilig vor, im Arabischen wird der Begriff nicht in Kombination mit diesem Adjektiv verwendet – und zwar aus einem entscheidenden Grund: Laut islamischer Theologie kann nur Gott heilige Handlungen begehen, der Mensch nicht. Obschon es sich also beim Dschihad um einen Kampf "um Gottes willen" handelt, ist es ein profaner Kampf, dem keinerlei Heiligkeit zukommt, gar nicht zukommen kann.

Ohnehin sollte sich die Definition von Dschihad im Laufe der Jahrhunderte wandeln. Das spätere islamische Recht verstand unter Dschihad nicht mehr die Pflicht zum Krieg, sondern das individuelle Bemühen darum, ein gottgefälliges Leben zu führen, beispielsweise nicht zu betrügen, nicht zu lügen oder einem Laster anzuhängen. Was genau das "Mühen auf dem Wege Gottes" ausmachte, war von Person zu Person verschieden, aber eben friedlich. [...]

Zur Unterscheidung zwischen dem friedlichen und dem kriegerischen Dschihad wird heute vom großen und dem kleinen Dschihad gesprochen. Nach gängiger Definition ist der große Dschihad ein individuelles oder auch kollektives Mühen, das mit Krieg nichts zu tun hat. Kriegerisch ist nur der kleine. Allerdings bezeichnet er nur einen Krieg zur Verteidigung, denn nach Auffassung der meisten Gelehrten der Neuzeit darf der Dschihad als Angriffskrieg nur zu Lebzeiten des Propheten geführt werden. Außerdem darf er sich auf keinen Fall gegen unschuldige Frauen und Kinder richten. [...]

Katajun Amirpur, "Kleiner, großer Dschihad", in: Das Parlament Nr. 3–4 vom 18./25. Januar 2002.

Militante Islamisten vom Schlage Osama bin Ladens verwerfen die historisch gewachsene Interpretation des Dschihad und nehmen ihn als Rechtfertigung für ihren Krieg gegen die Ungläubigen. Sie beziehen sich dabei besonders auf einen Koranvers, in dem es heißt: "Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf" (Sure 9, Vers 5). Sie reißen diese Stelle aus dem Zusammenhang und wenden sie eins-zu-eins auf die heutige Situation an. Das, so der Erlanger Islamwissenschaftler Hartmut Bobzin, entspreche aber nicht der üblichen Koranauslegung: "Es gab immer die Überzeugung, dass Stellen wie ,tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet' auf eine ganz eng begrenzte Situation der Rückeroberung Mekkas zu beziehen sind. Mohammed war in Medina und ging daran, Mekka wieder für die Gläubigen zu erobern. Das war sozusagen der Offenbarungsanlass. Darüber hinaus hat das nach dieser Interpretation keine weitere Geltung mehr."

Wenngleich sich die Islamisten stets auf den Koran beziehen, wollen sie nicht zurück ins Arabien des siebten Jahrhunderts. Vielmehr nehmen sie den Koran und das Beispiel des Propheten als Idealzustand und versuchen, ihn in der heutigen Zeit umzusetzen.

Um es kurz zusammenzufassen: Der Unterschied zwischen einem traditionellen Muslim und einem Islamisten besteht in ihrer Akzeptanz oder Ablehnung der historisch gewachsenen Traditionen. Ein traditioneller Muslim akzeptiert den Islam, so wie er sich in Jahrhunderten entwickelt hat, während ein Islamist allein Koran und Sunna als Maßstäbe gelten lässt.

Der entscheidende Unterschied zwischen einem traditionellen Muslim und einem Islamisten betrifft jedoch ihre Einstellung zur Politik. Die Islamisten verstehen den Islam als eine Ideologie, die klare Handlungsanweisungen gibt für den Kampf gegen das, was sie als Unrecht und Unterdrückung empfinden. Als Gegner betrachten die Islamisten den Westen und seine Verbündeten im Nahen Osten. Dazu zählen sie nicht nur Israel, sondern auch die mit den USA verbündeten, in den Augen der Islamisten korrupten, vom Pfad der Religion abgewichenen, arabischen Regime.

Islamistische Zielvorstellungen

Für die Islamisten ist der Kolonialismus noch nicht beendet. Unabhängigkeit, soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Einheit, eine Gesellschaft ohne Laster und Korruption – das sind, stichwortartig zusammengefasst, die Ziele, die die Islamisten verfolgen. Unabhängigkeit heißt hier zuvorderst Unabhängigkeit von westlicher Dominanz, um die "Befreiung Palästinas" und damit das endgültige Ende des europäischen Kolonialismus herbeiführen zu können.

QuellentextFreiheit und Gleichheit im Islam

[...] Rechtsstaatlichkeit [...] ist im Rahmen einer islamischen Ordnung, die auf der Scharia ruht, grundsätzlich gewahrt; sie beinhaltet jedoch nicht zwingend bürgerliche Gleichheit und Freiheit. Die Idee der Menschenrechte wird zwar von vielen Musliminnen und Muslimen aus dem Koran abgeleitet, wo von der Würde des Menschen die Rede ist, der von Gott mit bestimmten Rechten und Pflichten ausgestattet ist.

Die Freiheit und Autonomie des Individuums findet im göttlichen Gesetz jedoch ihre Grenzen, die im Bereich von Sexualität, Kunst und Wissenschaft besonders eng gezogen sind. Gravierend eingeschränkt ist auch die Religionsfreiheit (der Muslime!), denn der Abfall vom Islam (Apostasie) wird nach islamischem Recht mit zivilrechtlichen Sanktionen wie dem Verlust der Erb- und Testamentierfähigkeit, wenn nicht gar dem Tod bedroht.

Stärkere Betonung als die Freiheit des Individuums findet im allgemeinen seine Verantwortung: Gerade Islamisten appellieren eindringlich an die religiöse und gesellschaftliche Verantwortung der Individuen, die laut Koran als Stellvertreter (khalifa, dt. Kalif) oder Treuhänder Gottes auf Erden eingesetzt sind. Dieser Verantwortung bewusst, soll sich der Einzelne harmonisch in die Gemeinschaft einfügen; Individualismus ist aus dieser Sicht weder gefordert noch erstrebenswert: Gemeinnutz geht vor Eigennutz, und Individualismus, so meinen nicht nur Islamisten, gleitet allzu leicht in spalterisch-zersetzenden Egoismus ab.

Einen Pluralismus der Meinungen, Interessen und gesellschaftlichen Gruppen schließt das nicht aus. [...] – aber die Freiheit ist, wie angedeutet, nicht grenzenlos. Nach Meinung zeitgenössischer Autoren gilt die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit "in den Grenzen des Islam".

Deren Definition ist natürlich Ausdruck sozialer und politischer Machtverhältnisse. "Islamfeindliche" Kräfte schließt sie im allgemeinen aus. [...] Das Ideal der Einheit der muslimischen Gemeinschaft bleibt [...] übermächtig.

Erhebliche Schwierigkeiten bereitet der Gleichheitsgrundsatz: Nach islamischer Lehre gilt die Gleichheit aller Menschen (zumindest aber der Gläubigen unter ihnen) zwar vor Gott, nicht aber vor dem Gesetz, wo Frauen und Nichtmuslime insbesondere im Ehe- und Erbrecht männlichen Muslimen nicht gleichgestellt sind. Nach vorherrschender Auffassung nehmen Mann und Frau komplementäre gesellschaftliche Rollen ein, wobei die Frau zunächst einmal Hausfrau und Mutter ist und weitere Aufgaben nur nach Erfüllung dieser Pflicht und mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vormunds (üblicherweise des Ehemannes) übernehmen kann. Nichtmuslimen werden – und dies bricht mit klassischen Vorstellungen über den Status von "Schutzbefohlenen" (Dhimmis) in einer islamischen Gesellschaft – vielfach "gleiche Rechte und Pflichten" zugestanden, doch sollen sie von bestimmten Ämtern ausgeschlossen bleiben. [...]

Gudrun Krämer, "Der Mensch als Treuhänder Gottes auf Erden", in: Das Parlament Nr. 3–4 vom 18./25. Januar 2002.

Manche islamistische Bewegungen konzentrieren sich deswegen in der ersten Phase ihrer Arbeit mehr auf die Missionierung als auf die Politik. Für sie ist es wichtiger, Einfluss auf die Bildungspolitik zu haben als auf sicherheitspolitische oder militärische Entscheidungen. Erst als nächster Schritt folgt der Griff nach der Macht. Abd al-Aziz al-Rantisi aus Khan Yunis im Gazastreifen, einer der Gründer der palästinensischen Hamas-Bewegung, deren Ziel die "Befreiung Palästinas" ist, erklärt dieses Prinzip: "Hamas ist zuerst eine Missionsbewegung, eine religiöse Bewegung, die die Gesellschaft dazu bringen will, den Säkularismus abzulegen und zur Religion zurückzukehren. Sie war anfangs hauptsächlich in den Moscheen tätig. Sie hat die palästinensische Gesellschaft von einer säkularen zu einer religiösen gemacht." Ist aus einem säkularen Muslim erst ein religiöser geworden, so die Überzeugung der Islamisten, wird er auch eher bereit sein, für sein Land zu sterben. "Der religiöse Mensch ist der erste Nationalist", so Rantisi weiter. "Jeder Mensch, der eine Religion hat, verteidigt sein Land. Und wer im Kampf für sein Land und sein Volk stirbt, gilt im Islam als Märtyrer, er geht direkt in den Himmel."

Der Kampf gegen westliche Dominanz und für die "Befreiung Palästinas" bildet also ein Hauptziel des Islamismus. Doch darüber hinaus sind die Islamisten auch der Überzeugung, sie seien eher in der Lage, die Gesellschaft von Korruption zu befreien und Gerechtigkeit zu schaffen. Khalid Amayreh, ein palästinensischer Journalist aus Hebron, formuliert es so: "Die wichtigste Grundlage einer islamischen Gesellschaft ist die Gleichheit. Alle müssen die gleichen Chancen haben, der Sohn des Kalifen genauso wie der Sohn eines Arbeiters."

Die Islamisten träumen von einer organischen, homogenen Gesellschaft, in der jedes Mitglied seine zugeordnete Rolle spielt. Streit und Zwietracht unter den Mitgliedern der Gesellschaft werden als gefährlich für die Einheit der islamischen Gemeinschaft betrachtet und sollen daher auf zweitrangige Fragen beschränkt bleiben. Denn Streit birgt Schwäche in sich, so die Islamisten, die von den Feinden des Islam ausgenutzt werden kann. Die Normen für diese homogene Gesellschaft finden die Islamisten in der Scharia. Die Nuancen, die das islamische Gesetz zulässt, weisen sie dabei von der Hand. Sie behaupten, ihre Interpretation der Scharia entspreche dem Willen Gottes und sei deswegen nicht anfechtbar.

Neue Aspekte des Islamismus

Immer wieder sind in der islamischen Geschichte Bewegungen aufgetreten, die eine Rückkehr zu den Wurzeln verlangten und den Islam von in ihren Augen verderblichen Praktiken reinigen wollten. In dieser Hinsicht sind die Islamisten also nichts Neues. So stürmten im 18. Jahrhundert die Wahhabiten über die Arabische Halbinsel hinweg und verboten alles, was sie als nicht-islamisch bezeichneten, beispielsweise Rauchen und Heiligenverehrung. Etwa zweihundert Jahre später gründeten sie ihren eigenen Staat, das Königreich Saudi-Arabien. Außer dem Puritanismus verbindet die heutigen Islamisten jedoch wenig mit den Wahhabiten. Am deutlichsten lässt sich der neuartige Charakter des Islamismus an seinen Führungsköpfen festmachen: Sie sind meist gebildet, leben in der Stadt und üben moderne Berufe wie Ingenieur, Journalist oder Rechtsanwalt aus. Typisch für die Islamisten ist ferner, dass sie sich Gedanken über den Zustand ihrer Gesellschaft machen und sensibel sind, für das, was sie aus ihrer Sicht als Unrecht empfinden.

Da sie glauben, dass die Scharia, das islamische Recht, ein vollkommen gerechtes System schafft, das die islamische Welt aus der Krise führen kann, streben sie einen Staat an, in dem alle Bereiche des Lebens von der Scharia geregelt sind. Das klingt altmodisch und rückwärts gewandt. Dahinter verbirgt sich aber ein neuartiges Verständnis vom Verhältnis zwischen Staat und Religion. Während im Mittelalter die Rechtsgelehrten sich in ihrer Interpretation der religiösen Texte nur vor Gott rechtfertigten mussten, ist es jetzt der Staat, der die volle Kontrolle über die Rechtsprechung ausüben soll. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Interessen des Staates Vorrang haben vor der Religion. So erklärte Ayatollah Khomeini im Januar 1988, dass die "Regierung einseitig befugt ist, jede Situation zu verhindern, die eine Gefahr für ihre Interessen hervorrufen könnte". Das heißt, so Khomeini weiter, dass "im Islam die Erfordernisse der Regierung Vorrang haben vor allen anderen Grundsätzen, einschließlich des Betens, des Fastens und der Pilgerfahrt nach Mekka".

Zwar glauben die Islamisten, dass sie mit der Errichtung eines islamischen Staates Gottes Wille erfüllen, letztlich ist der Adressat ihrer Politik aber nicht Gott, sondern das Volk. Bassam Ammoush, ein jordanischer Muslimbruder, der der so genannten pragmatischen Fraktion angehört, drückt das wie folgt aus: "Der Islam steht im Dienste der Menschen. Er sagt nicht: ,Wartet auf den Himmel und vergesst das Leben hier.' Der Himmel ist für Gott, dieser Staat ist für uns, und wenn wir ihn nicht mögen, dann müssen wir ihn ändern." Das Volk als Adressat der Politik ist jedoch ein modernes Phänomen, das erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden ist. Die Islamisten möchten ihre Gesellschaft modernisieren, gleichzeitig aber die negativen Randerscheinungen vermeiden, die dieser Prozess ihrer Meinung nach im Westen hervorgerufen hat.

QuellentextMuslim-Brüder

[...] Für das 20. Jahrhundert lassen sich auf regionaler, nationaler und gesamtislamischer Ebene eine Vielzahl von Organisationen finden, die durch ihr Erscheinen und ihre Aktivitäten zumindest zeitweise als radikal angesehen wurden. Die insgesamt erfolgreichste und einflussreichste Gruppierung dieser Art waren die Ikhwân al-Muslimîn ("Muslimbrüder"). Sie wurde von dem ägyptischen Lehrer Hasan al-Banna (1906–1949) im Jahr 1928 gegründet. [...]

Gut zehn Jahre nach ihrer Gründung formulierten die "Muslimbrüder" in zusammenfassender Weise ihre Ideologie. Sie stellten fest, dass der Islam dem Menschen ein vollkommenes System für alle Lebenssituationen biete. Dieser Islam beruht auf den geoffenbarten Aussagen des Korans und den Weisheiten der Prophetentraditionen und ist für alle Zeiten und an allen Orten gültig. Die "Ikhwân al-Muslimîn" sprachen in diesem Zusammenhang von einer "islamischen Ordnung". [...] Für die "Muslimbrüder" ist Europa [...] das abschreckende Beispiel für "gewinnsüchtigen Materialismus, militanten Fanatismus, verrottete Moral und Imperialismus". Gerade der letzte Begriff macht deutlich, dass der Islam der "Muslimbrüder" einen konkreten Feind hatte, den westlichen Imperialismus. [...]

Die Anwendung des islamischen Rechts gilt für die "Muslimbrüder" als entscheidendes Kriterium für den islamischen Charakter eines Staates. Für sie war die Trennung von Religion und Staat, wie sie in der Mehrzahl der Staaten der islamischen Welt durchgeführt ist, nicht akzeptabel. Die "Muslimbrüder" fordern allerdings keine theokratische Staatsform. Sie kennen durchaus die Vorstellung einer Volkssouveränität, wobei die Regierung jedoch nicht nur an den Willen des Volkes, sondern auch an die von Gott gegebenen Regeln des Islams gebunden ist. Wie das Volk jedoch repräsentiert werden sollte, ist unter den verschiedenen Theoretikern der "Muslimbrüder" umstritten. Gemeinsam war ihnen die Vorstellung, dass die Repräsentation durch das Prinzip der schura (Beratung) gewährleistet werden sollte. [...] Zunächst aber stehen die "Muslimbrüder" in der Tradition muslimischer Reformer, indem sie bestimmten Formen islamischer Religions- und Lebensauffassung den Krieg erklären. So lehnen sie jede Form von Inaktivität, Weltflucht, Schicksalsergebenheit und Fatalismus ab. Das Leben eines Muslims ist danach Kampf gegen das Laster und gegen die, die den Islam verfälschen. [...]

Peter Heine, Terror in Allahs Namen. Extremistische Kräfte im Islam, Freiburg i. Br. 2001, S. 98 ff.

Was die moralischen Vorstellungen angeht, weisen christlicher und islamischer Fundamentalismus Gemeinsamkeiten auf. Beide sind eine Reaktion auf Krisenerscheinungen, beide wehren sich gegen den vermeintlichen Verfall der Moral, beide sehen den Erhalt der Familie als einzigen Schutz dagegen an, beide glauben, dass Gott den Geschlechtern eine bestimmte Rolle zugeordnet hat, die sie erfüllen müssen. Diese Gemeinsamkeiten können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufstand der Muslime sehr viel tiefer geht und letztlich andere Wurzeln hat als der christliche Fundamentalismus; es ist nicht nur ein Aufstand gegen den Verfall der Moral innerhalb der eigenen Gesellschaft, sondern auch ein Aufstand gegen ungleiche Machtverteilung, es ist ein Aufstand gegen die Vormacht des Nordens gegenüber dem Süden, ein Aufstand gegen den Postkolonialismus. Der Islamismus richtet sich gegen eine Weltordnung, von der die christlichen Fundamentalisten ein Teil sind und die sie verteidigen. Beide Bewegungen verbindet ein konservatives Gesellschaftsbild, ansonsten sind sie Gegner.

QuellentextFrauenrechte in Marokko

[...] Auch im Zeitalter von CD und Minidisc ist die gute alte Tonkassette in den Entwicklungsländern noch immer der am weitesten verbreitete Tonträger. In vielen arabischen Ländern dienen die Kassetten [...] auch zur Verbreitung religiöser und politischer Ideen – vor allem dort, wo ein Großteil der Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann. In Marokko sind mehr als die Hälfte aller Einwohner Analphabeten. Vor allem die islamische Bewegung betreibt deshalb Propaganda per Tonkassette. Hauptangriffsziel der islamischen Prediger sind emanzipierte Frauen.

Die demokratische Liga für Frauenrechte (LDDF), die in Marokko für radikale Frauenrechtsreformen streitet, wollte das nicht länger hinnehmen und produzierte im vergangenen Sommer eine Kassette mit feministischer Botschaft. 20000 Exemplare wurden kostenlos verteilt. Eine freundliche Frauenstimme erklärt – wahlweise in marokkanisch-arabischem Dialekt oder in der Berbersprache Tamazight – dass die Mudawwana, das im Islam begründete marokkanische Familienrecht, Frauen benachteilige und deshalb reformiert werden müsse. Denn gemäß internationalen Konventionen sei es verboten, Frauen und Mädchen per Gesetz zu diskriminieren; Mädchen seien genauso gescheit wie Jungen; und last not least – der Islam schreibe es so vor. [...]

Die Reaktion der Islamisten auf solch frauenfreundliche Koranauslegungen ließ nicht lange auf sich warten: Im Dezember, während des Fastenmonats Ramadan, in dem die Frömmigkeit stärker ist als sonst, brachte die "Vereinigung für die Verbreitung des Korans und der Sunna" eine Kassette heraus, die explizit auf die Kassette der Frauenbewegung Bezug nimmt. Ausschnitte aus der LDDF-Kassette werden präsentiert und dann aus islamistischer Perspektive seziert. [...]

Patriarchale gesellschaftliche Traditionen und das religiös fundierte Personenstandsrecht, die Mudawwana, benachteiligen Frauen in Marokko massiv. Sie können nur mit Einwilligung des Vaters oder Bruders heiraten; in der Ehe sind sie gegenüber dem Mann weitgehend rechtlos. Pläne, die Mudawwana zu Gunsten der Frauen zu reformieren, scheiterten bisher am Widerstand der orthodoxen Rechtsgelehrten (Ulema), der islamischen Bewegung und an der Visionslosigkeit der politischen Entscheidungsträger. [...]

Martina Sabra, "Kassetten als Waffe", in: Frankfurter Rundschau vom 5. Februar 2002.