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Die Vereinten Nationen: Arena der Weltpolitik | bpb.de

Informationen zur politischen Bildung Nr. 353/2022

Die Vereinten Nationen: Arena der Weltpolitik

Manuela Scheuermann

/ 10 Minuten zu lesen

Die Skulptur "Non Violence" des schwedischen Künstlers Carl Fredrik Reuterswärd vor dem Sitz der Vereinten Nationen in New York gilt als Symbol für Frieden und Gewaltlosigkeit. Diese zu schaffen ist die zentrale Aufgabe der VN. Foto: September 2003 (© picture-alliance, photothek | Thomas Koehler)

Mit 193 Mitgliedstaaten sind die Vereinten Nationen (VN) die einzige Internationale Organisation, die sich über das gesamte Staatensystem erstreckt. So global ihre Mitgliedschaften sind, so universell ist auch ihre Agenda. Überall in der VN-Charta, dem Gründungsvertrag der Organisation, findet sich die zen­trale Aufgabe der VN wieder: die Herstellung und Bewahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit – eine globale Zielsetzung für eine globale Sicherheitsorganisation.

Näher beleuchtet und kritisch betrachtet werden sollte die sicherheitsstiftende Wirkung der VN. Was versteht die Weltorganisation unter Sicherheit? Wie kann sie Sicherheit und Frieden, ja Ordnung im internationalen System stiften? Welche Organe tragen die Verantwortung dafür und welche Instrumente stehen den VN dabei zur Verfügung? Angesichts der weltpolitischen Zerwürfnisse, die im jüngsten Angriff Russlands auf das Nachbarland Ukraine einen neuen Höhepunkt fanden, müssen aber auch die Grenzen der VN diskutiert werden. Welche Einschränkungen erleben die VN angesichts dieser tiefgehenden Machtrivalitäten? 77 Jahre nach ihrer Gründung stehen die VN (wieder einmal) an einem Scheidepunkt.

Die Vorstellung über die sicherheitspolitische Rolle der Weltorganisation ist seit ihrer Gründung umstritten: Wollen die einen – beispielsweise die Staaten der Europäischen Union – die VN als Wächterin des Weltfriedens verstanden wissen, benutzen die anderen – aktuell vor allem Russland – sie als bloßes Instrument ihrer eigenen Machtpolitik. Allerdings konnte die Weltorganisation in ihrer sicherheitspolitischen Rolle selten reibungslos agieren. Schon kurz nach der Gründung der VN lähmte der Ost-West-Konflikt ihre Sicherheitspolitik.

Nach Ende der Bipolarität war die VN angesichts der vielen Kriege und bewaffneten Auseinandersetzungen, aber auch und vor allem aufgrund des fehlenden Engagements einflussreicher Staaten, oftmals überfordert. Nur die Jahre der "Morgenröte im Glaspalast" (Gorbatschow), also der Zeitraum zwischen 1986 und 1992, verliefen so wie eigentlich erhofft – wirksam, kooperativ und solidarisch. Der chronische Konflikt, der sich besonders im Sicherheitsrat manifestiert, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Weltorganisation.

Sicherheit: zwischen Staaten und für die Menschen

Die vordringlichste Aufgabe der VN ist es, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu bewahren oder wiederher­zustellen (Art. 1 VN-Charta). Dabei war bereits im Gründungsjahr 1945 klar, dass Sicherheit keineswegs nur für und zwi­schen Staaten bestehen, sondern in einem erweiterten Verständ­nis auch für deren Bevölkerungen gelten sollte: Klassische staatliche Sicherheit konzentriert sich auf die Bewahrung der staatlichen Souveränität. Hierzu hat die VN ein System kollekti­ver Sicherheit geschaffen, das die Bewahrung des Friedens als gemein­same Aufgabe der gesamten Staatengemeinschaft definiert. Die VN-Charta führte dazu mit dem Allgemeinen Gewaltverbot (Art.2, Ziff. 4) eine neue fundamentale Norm ins Völkerrecht ein. Sollte sich ein Staat nicht an diese Regel halten, kann der VN-Sicherheitsrat Verfahren der friedlichen Streitbeilegung empfehlen oder Zwangsmaßnahmen ergreifen, um Frieden und internationale Sicherheit wiederherzustellen.

Erweiterte Sicherheit umfasst neben dem klassischen Verständnis auch staatliche Wohlfahrt, Menschenrechte, politische Stabilität und immer mehr auch die globale ökologische Situation. Die VN beschreiben diese Zusammenhänge oftmals als Sicherheit-Menschenrechte-Entwicklung-Nexus, zu dem neuerdings auch noch der Zusammenhang zwischen Klima und Sicherheit und – spätestens seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 – auch der von Nahrungsmittel-Sicherheit gehören. Adressaten dieser klassischen und erweiterten Sicherheit sind die Staaten.

Doch die VN wenden sich schon seit Ende der 1990er-Jahre nicht mehr nur dem Staat zu, wenn es um die internationale Sicherheit geht. Die Kriege der 1990er-Jahre, insbesondere die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica und das Versagen der VN im Angesicht dieser Gräueltaten, haben die Weltgemeinschaft gelehrt, dass Sicherheit nicht erst an den staatlichen Außengrenzen beginnt, sondern bereits im Staat selbst: Der Schutz des Individuums muss ebenso bedacht werden wie der Schutz der Staatsgrenzen. Dieses Konzept ist vor allem von VN-Generalsekretär Kofi Annan entwickelt worden.

Wo eingreifen?

Wo eingreifen?

Ein Animationsfilm der Wanderausstellung "Frieden machen"

Die Vereinten Nationen begreifen Sicherheit als "menschliche Sicherheit", da der Mensch der Empfänger der Sicherheitsbemühungen ist. Sie argumentieren, dass aus der staatlichen Souveränität die Verantwortung eines Staates erwachse, für ausreichenden Schutz seiner Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und anderen Gräueltaten zu sorgen. Ist ein Staat dazu nicht willens oder in der Lage, so geht die Verantwortung für die menschliche Sicherheit dieser Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in letzter Instanz auf die internationale Gemeinschaft über.

Das Sicherheitskonzept der menschlichen Sicherheit, das das Handeln der VN seitdem immer wieder bestimmt hat, ist die "Schutzverantwortung" (Responsibility to Protect, R2P). Die VN können mit Zustimmung des Sicherheitsrats sogar militärische Maßnahmen ergreifen, sollte die Zivilbevölkerung eines Staates der zügellosen Gewalt eines Herrschaftssystems ausgesetzt sein.

QuellentextSchutzverantwortung (Responsibility to Protect)

Schutzverantwortung (Responsibility to Protect; R2P/RtoP) meint die Verantwortung eines Staates, für den Schutz seiner Bevölkerung zu sorgen. Kann oder will ein Staat dies nicht, geht die Verantwortung an die internationale Gemeinschaft über. Das Prinzip der Schutzverantwortung ermächtigt demnach zum internationalen Eingreifen – notfalls unter Einsatz von Gewalt –, wo schwerste Menschenrechtsverletzungen die Bevölkerung gefährden. Im Abschlussdokument des Weltgipfels 2005 erkannte die UN-Generalversammlung dieses Prinzip an. Es kommt bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord und ethnischen Säuberungen zur Anwendung. Das Konzept der Schutzverantwortung entstand vor dem Hintergrund des Scheiterns und der Überforderungen von UN-Friedensmissionen (Ruanda, Bosnien) in den 1990er Jahren. Trotz der internationalen Anerkennung im Jahr 2005 blieben Auslegung und Umsetzung des Prinzips in die politische Praxis umstritten, nicht zuletzt da es den Grundsatz der staatlichen Souveränität berührt. Bei seiner Entscheidung zum Libyen-Einsatz durch Resolution 1973 im März 2011 stellte der Sicherheitsrat einen Bruch der Schutzverantwortung fest und beschloss ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft zum Schutz der libyschen Bevölkerung.

Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten (Protection of Civilians)

Während einer Vielzahl von gewaltsamen Konflikten in den 1990er Jahren und bei den verheerenden Völkermorden in Srebrenica und Ruanda versagten die Vereinten Nationen, den Schutz von Zivilisten zu gewährleisten. Daraufhin entwickelte das Panel on United Nations Peace Operations den "Brahimi Report", der Empfehlungen zur Verbesserung von UN-Friedenseinsätzen angibt und dabei konkret den Schutz von Zivilisten thematisiert. 1999 ergriff der UN-Sicherheitsrat die Initiative, den Schutz von Zivilisten sowohl in UN-Friedensmissionen als auch in spezifischen Resolutionen zu verankern (UNSCR/RES 1265 und UNSCR/RES/1296).

Der Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten muss als Teil des humanitären Völkerrechts betrachtet werden, da das humanitäre Völkerrecht diejenigen schützt, die nicht am bewaffneten Konflikt teilnehmen, wie z. B. Zivilisten. Dieses zielt darauf ab, Gewalt und menschliches Leid in Kriegssituationen zu begrenzen. In diesem Kontext tragen die Staaten immer die Hauptverantwortung für den Schutz ihrer Bevölkerung. Deswegen besteht die Hauptaufgabe der UN-Friedensmissionen darin, die Regierungen dabei zu unterstützen, ihre Schutzverantwortung durch Beratung, technische und logistische Unterstützung und Kapazitätsaufbau wahrzunehmen.

Das momentan robusteste Mandat einer UN-Friedensmission ist jenes von MONUSCO in der Demokratischen Republik Kongo. Das aktuellste Dokument der UN zum Schutz von Zivilisten ist die Sicherheitsratsresolution 2417 (2018), die auf verschiedenen Resolutionen und Berichten zu Protection of Civilians aufbaut.

Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V.: Glossar. Online: Externer Link: https://frieden-sichern.dgvn.de/glossar#ca22677

2011 war das beispielsweise in Libyen der Fall. Der VN-Sicherheitsrat autorisierte eine Flugverbotszone über dem libyschen Staatsgebiet, um die Zivilbevölkerung gegen die massiven und systematischen Menschenrechtsverletzungen des libyschen Regimes zu schützen (S/RES/1973). Diese Mission blieb nicht ohne Kritik, da sie schlecht geplant und ausgeführt war. Zudem wurde den westlichen Staaten, die die Flugverbotszone umsetzten, vorgeworfen, mit der Aktion einen "regime change", also die gewaltsame Absetzung des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi, verfolgt zu haben.

Dieser Vorwurf des politischen Umsturzes von außen haftet dem Konzept der Schutzverantwortung seit Beginn an und wird oft von Staaten des Globalen Südens ins Feld geführt. Staaten wie Russland und China sprechen sich gegen die Anwendung der Schutzverantwortung aus, weil sie eine Einmischung der VN aufgrund der eigenen Menschenrechtsverletzungen befürchten müssen. Umgekehrt nutzen Staaten das Argument der Schutzverantwortung als Vorwand, um gegen andere Länder vorzugehen.

Die VN handeln zudem längst nicht in jedem Konflikt gemäß dieser Norm. Die Passivität der VN angesichts der Kriegsverbrechen in Syrien – beispielsweise in Hinblick auf den Einsatz von Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung – ist ein Beleg dafür. Auch die Kriegsverbrechen in der Ukraine, unter anderem in Butscha, wären eigentlich ein Fall für die Schutzverantwortung.

In den operativen Maßnahmen, insbesondere in den VN-Friedensmissionen, setzen die VN die erweiterte Sicherheit als "Protection of Civilians" um. Es ist der Auftrag dieser "Protection of Civilians"-Maßnahme, den Schutz der Zivilbevölkerung in gewaltsamen Konflikten vor Ort und mit Hilfe der VN-Truppenpräsenz sicherzustellen.

So innovativ und vielversprechend die Konzepte der VN auch sind, so sind sie doch gerade im Bereich der Sicherheitspolitik immer auf die Umsetzung durch die Hauptorgane angewiesen, in denen die Staaten den Ton angeben. In Fragen von Sicherheit und Frieden, insbesondere im Falle von gewaltsamen Krisen, Konflikten und Kriegen, gilt immer noch: Die VN sind nur dann stark, wenn die Mitgliedstaaten es wollen. Die Weltorganisation ist politisch, finanziell und personell vom Willen der Staaten abhängig. Das zeigt sich besonders bei dem Organ, dem gemäß Art. 24 die Hauptverantwortung für den Frieden übertragen wurde, dem VN-Sicherheitsrat.

Ohne Willen keine Macht: der VN-Sicherheitsrat

Der Sicherheitsrat ist eines von sechs Hauptorganen der Vereinten Nationen (neben der Generalversammlung, dem Wirt­schafts- und Sozialrat, dem inaktiven Treuhandrat, dem Se­kretariat und dem Internationalen Gerichtshof). Er ist das potenziell mächtigste Organ der VN, weil er als einzige VN-Institution rechtlich bindende Entscheidungen für die Staaten treffen kann. Er hat die Deutungshoheit über die Frage, ob eine internationale Situation eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens bzw. eine Aggressionshandlung darstellt (Art. 39). Er kann nicht militärische und militärische Maßnahmen beschließen, um Konflikte zu verhindern, einzudämmen und zu beenden. Kapitel VI der VN-Charta gibt dem Sicherheitsrat Maßnahmen zur friedlichen Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten an die Hand. Er kann Empfehlungen zur Beendigung des Konflikts aussprechen, Untersuchungen vor Ort durchführen und den/die VN-Generalsekretär/-in mit der Vermittlung zwischen den Konfliktparteien beauftragen.

In Kapitel VII der VN-Charta ist geregelt, welche nicht militärischen und militärischen Maßnahmen der Sicherheitsrat im Falle eines Bruchs des Weltfriedens oder eines Scheiterns der Vermittlungsbemühungen anordnen kann. So kann er Sanktionen und Embargos verfügen oder militärische Maßnahmen autorisieren. Die Instrumente des Kapitels VII benötigen ein Mandat des Sicherheitsrats, das festlegt, welche Zwangsmaßnahmen die Organisation ergreift.

Die Zusammensetzung und die Entscheidungsregeln des Sicherheitsrats sind ein steter Grund für Kritik an den VN insgesamt. Wann immer die VN in den Medien dem Vorwurf der Irrelevanz ausgesetzt sind, so ist dies meistens auf eine Blockade im Sicherheitsrat zurückzuführen. Der Sicherheitsrat besteht aus insgesamt 15 Mitgliedstaaten der VN. Fünf Staaten sind permanent im Sicherheitsrat vertreten. Ihre Zusammensetzung ist historisch begründet, denn diese Staaten waren Mitglieder der Anti-Hitler-Koalition und zentrale Gründungsstaaten der VN, nämlich die USA, Großbritannien, Russland, China und Frankreich. Sie werden oft auch als "P5" (Permanent Five) bezeichnet. Weitere zehn Mitgliedstaaten werden für eine zweijährige Amtszeit sowie nach einem regionalen Verteilungsschlüssel in den Sicherheitsrat gewählt.

Der VN-Sicherheitsrat. (© picture-alliance/dpa, dpa-Grafik / dpa-Infografik; Quelle: VN; Stand: Februar 2022)

Manche Staaten kehren so häufiger in das Gremium zurück: Beispielsweise war Deutschland 2019/20 bereits zum sechsten Mal Mitglied des Sicherheitsrats und demonstrierte damit seine Bereitschaft, im Zuge einer möglichen Reform des Gremiums dort auch ständig vertreten zu sein. Im Zuge des russischen Angriffes auf die Ukraine betonte Bundeskanzler Olaf Scholz diese Bereitschaft im Sommer 2022 noch vehementer.

Mit der ständigen Mitgliedschaft geht ein Vorrecht einher, welches mit dem ehernen Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten in Konflikt steht: das Vetorecht. Die P5 haben das Recht, Entscheidungen des Rates mit ihrem "Nein" zu blockieren. So konnte Russland im VN-Sicherheitsrat die Einrichtung hu­manitärer Korridore im Jemen oder Sanktionen gegen Syrien ebenso verhindern wie die Verurteilung des russischen Angriffs auf ukrainisches Staatsgebiet 2014 und 2022.

Auch deshalb wird die Reform des Gremiums schon seit Beginn der 1990er-Jahre diskutiert, zumal die Zusammensetzung der P5 die Machtverhältnisse der gegenwärtigen Weltordnung nicht mehr widerspiegelt. Staaten des Globalen Südens sind chronisch unterrepräsentiert, während die Nordhalbkugel über­repräsentiert ist. Reformversuche, die eine Veränderung der Mitgliederstruktur zum Ziel haben, sind bisher allesamt gescheitert.

Sicherheitspolitisches Instrumentarium: VN-Friedensmissionen

Neben der Möglichkeit auf Staaten einzuwirken steht den VN ein weiteres sicherheitspolitisches Instrumentarium zur Verfügung: die VN-Friedensoperation, auch VN-Peacekeeping oder Blauhelm-Mission genannt. Dabei handelt es sich um vom VN-Sicherheitsrat mandatierte zivil-militärische Einsätze, die in einem Konfliktgebiet den entstehenden Frieden sichern und das Land beim Wiederaufbau unterstützen sollen. Die VN selbst verfügen über keine Armee, sondern müssen sich darauf verlassen, dass Staaten freiwillig Truppen, Polizei und andere zivile Kräfte für diese Missionen stellen. Wie in den Jahrzehnten zuvor stellten 2022 Staaten wie Bangladesch, Nepal oder Indien die meisten Kräfte für VN-Friedensoperationen, die größten Beitragszahler sind die USA, China, Japan und Deutschland.

Die bereits in den 1950er-Jahren erarbeiteten Regeln für Friedenseinsätze sollen dafür sorgen, dass die VN als unparteiliche Dritte wahrgenommen und nicht als Konfliktpartei behandelt wird. Der Sicherheitsrat autorisiert eine VN-Friedensmission, wenn diese vier Bedingungen erfüllt sind:

  • Es herrscht ein stabiler Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien.

  • Die Konfliktparteien stimmen der Entsendung einer VN-Friedensmission zu.

  • Die VN und ihre Friedensmission werden als unparteiisch wahrgenommen.

  • Blauhelme dürfen Waffengewalt nur zur Selbstverteidigung einsetzen.

Aufgrund der häufig unberechenbaren Situation in den Einsatzgebieten, der oftmals spontan auftretenden Gewalt und immer häufiger zu beobachtenden Gewaltanwendung gegen die unparteilichen VN-Soldatinnen und VN-Soldaten dürfen diese Waffengewalt auch zur Verteidigung des Mandats und dem Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen. Diese Form des Peacekeeping wird oft als "robust" bezeichnet. Große und teure VN-Friedensmissionen sind im Sudan und Südsudan, in der Demokratischen Republik Kongo und in Mali eingesetzt. Sie haben ein überaus ambitioniertes Aufgabenspektrum, das von klassischen Blauhelm-Aufgaben wie der Überwachung von Pufferzonen und der Entwaffnung von Rebellengruppen bis hin zur Mitgestaltung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Wiederaufbaus reicht. Schon aus diesem Grund stehen VN-Missionen oft am Rande der Überforderung.

QuellentextSüdasien und die VN-Friedensmissionen

[…] In zahlreichen Konfliktgebieten der Welt – von der Westsahara bis zum Nahen Osten – arbeiten Militärexperten, Soldaten und Polizisten der Vereinten Nationen daran, den Frieden und die öffentliche Ordnung aufrecht zu halten. Da die VN jedoch keine eigenen Streitkräfte haben, sind sie bei der Durchführung von friedenssichernden Maßnahmen auf Militär- und Polizeikräfte angewiesen, die von den Mitgliedsstaaten bereitgestellt werden. […]

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass Kontingente aus relativ armen, bevölkerungsreichen Län­dern – vor allem aus Afrika und Südasien – einen großen Anteil der weltweit eingesetzten Friedenstruppen ausmachen. Beispielsweise stellten Bangladesch, Pakistan und Nepal im Jahr 2014 zusammen über 30 Prozent der gesamten VN-Blauhelmsoldat:innen. Im Vergleich dazu steuerten westliche Staaten lediglich fünf Prozent bei. Nach VN-Angaben führte Bangladesch Ende November 2015 mit mehr als 8800 Soldaten, Polizisten und Militärberatern die Liste der Truppensteller, die sich an den laufenden 16 VN-Friedensmissionen beteiligten, an. An dritter Stelle lag Indien (7807), gefolgt von Pakistan (7636). Nepal rangierte an sechster Stel­le (5362). Zwei afrikanische Länder, Äthiopien (8307) und Ruanda (6075), belegten den zweiten bzw. vierten Platz.

Die Aufgaben der VN-Friedenstruppen sind vielfältig. Sie reichen vom Schutz der Zivilbevölkerung und der Siche­rung von Hilfsmaßnahmen bis hin zu Verhandlungen mit örtlichen Behörden oder lokalen Machthabern über die Um­stände der täglichen Arbeit. Außerdem sind sie durch stän­dige Angriffe bedroht.

[…] Die Länder in Südasien verfügten also über die zahlen­mäßige Stärke und die Fähigkeit, um Truppen für die VN-Friedenssicherung bereitzustellen. Außerdem hatten die Staaten anfangs wenig strategisches Interesse an den Gebie­ten, in denen die VN-Missionen durchgeführt wurden. In den Regionen, die zumeist in Afrika lagen, konnten sie folglich ein höheres Maß an Unparteilichkeit walten lassen, so [Wahe­­guru Pal Singh] Sidhu [Indien-Experte und nicht-ansässiger Senior Fellow an der Washingtoner Brookings Institution].

[…] VN-Friedensmissionen sind gut bezahlt und werden von einigen Staaten dazu genutzt, die Militärausgaben zu verringern. Obwohl der wirtschaftliche Gewinn durch die Entsendung von wenigen tausend Soldaten eher gering ist, lohnt er sich für Entwicklungsländer weit mehr als für Industrieländer.

Diese Ansicht vertritt auch Omar Hamid, Risikoanalyst für den Bereich Asien-Pazifik. "Die südasiatischen Länder haben in der Regel große Armeen. Für sie ist es vorteilhaft, Truppen bereitzustellen, da die Vergütung im Vergleich zum Sold in den Heimatländern deutlich höher ist.", so Hamid gegenüber DW [Deutsche Welle].

Hamid erklärt, dass beispielsweise ein pakistanischer Soldat ein ungefähres Gehalt von etwa 20.000 Rupien pro Monat hat, umgerechnet 200 Dollar. Bei einer UN-Mission steht ihm ein Tagessatz zwischen 100 und 300 Dollar zu, der steuerfrei ist. […]

Oberst Anil Raman von der indischen Armee, ein Vete­ran der VN-Friedensmission in Sierra Leone (UNAMSIL), bestätigt das. "Fast kein Offizier oder Soldat lehnt einen VN-Einsatz ab, da er große finanzielle Vorteile bietet – indische Offiziere und Soldaten verdienen das drei- bis vierfache ihres normalen Gehalts; letzteres bekommen sie außerdem ausgezahlt." […]

Analyst Hamid erklärt, dass die Soldat:innen aus der Sicht der Entsendeländer auf diese Weise eine gut bezahlte Anstellung behielten. Analyst Sidhu merkt außerdem an, dass die VN-Friedensmissionen den südasiatischen Streitkräften die Möglichkeit bieten, miteinander zu kooperieren. So wur­den indische und pakistanische Truppen bei VN-Friedenseinsätzen häufig gemeinsam eingesetzt.

Expert:innen betonen außerdem, dass die Staaten – neben finanziellen Anreizen – auch diplomatische Vorteile erhalten, wenn sie sich an Friedensmissionen beteiligen. "Es macht deutlich, dass sie sich den VN verpflichtet fühlen", sagt der Südasienexperte Anit Mukherjee.

Weiter betont er: "Wenn diese Nationen aktives zur Friedenserhaltung beitragen, verbessern sie ihr Image. Sie können argumentieren, dass sie ihren Teil zur Förderung der internationalen Stabilität beitragen." Im Falle Indiens, so ar­gumentieren einige Analysten, könnte ein Teil der Motivation auch mit den eigenen Weltmachtambitionen erklärt werden. "Neu-Delhi hat seine Argumente für einen ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat oft mit seinen Beiträgen zur VN-Friedenssicherung begründet", so Mukherjee gegenüber DW.

Wenn es um VN-Friedensmissionen geht, muss zwischen Ländern, die finanzielle Unterstützung leisten, und denen, die Soldat:innen entsenden, unterscheiden werden. Sidhu weist darauf hin, dass die VN-Mitgliedstaaten, die am meis­ten für die Missionen zahlen, in der Regel keine oder nur sehr wenige Truppen zur Verfügung stellen. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu den Ländern aus Südasien. Die Länder, die die meisten Truppen stellen, zahlen hingegen nur selten für die VN-Friedenssicherung. […]

Wie Analyst Sidhu betont hat dieser Umstand zu einer tiefen Kluft zwischen den Ländern geführt, die Mandate für friedenserhaltende Maßnahmen erteilen und diese finan­zieren (die fünf ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats und große Geber wie Japan und Deutschland) und solchen, deren Truppen die Missionen vor Ort ausführen (Indien, Pa­kistan und Bangladesch).

"Da die Mandate schwieriger geworden sind, ohne dass die Mittel oder die Ausrüstung entsprechend aufgestockt wur­­den, fordern die truppenstellenden Länder größere Mitsprache bei der Erteilung der Mandate und eine bessere finanzielle Ausstattung. Der sogenannte Gold-gegen-Blut-Streit hat die VN-Friedenssicherung behindert", berichtet Sidhu der DW. Wie Militäreinheiten in Konfliktgebieten auf der ganzen Welt haben auch die VN-Friedenstruppen Todesopfer zu beklagen. Im Vergleich mit den Ländern, die von den Kon­flikten heimgesucht werden, sind die Verluste für die vier südasiatischen Länder im Rahmen von VN-Missionen aller­dings relativ gering. […]

Unabhängig davon, wer sie ausführt, sind VN-Friedensmissionen nicht unumstritten. So sind die VN beispielsweise in die Kritik geraten, weil sie sexuellen Missbrauch durch Friedenssoldaten, der nach Ansicht von Kritiker:innen viel zu häufig ungestraft bliebe, nicht angemessen nachgegangen sei. […]

Gabriel Domínguez, "South Asia and peacekeeping", in: Deutsche Welle vom 1. November 2016. Online: Externer Link: https://www.dw.com/en/what-drives-south-asians-to-peacekeeping/a-18970732. Übersetzt von Jan Brunner.

Die aktuellen VN-Friedensmissionen. (© Vereinte Nationen, Darstellung basierend auf Externer Link: https://monde-diplomatique.de/artikel/!5364206; Stand: November 2022)

Sicherheit angesichts neuer Unsicherheiten

Allerdings zeigt der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine vor allem die Grenzen des weltpolitischen Krisenmanagements der VN auf. Sitzt ein Aggressor als ständiges Mitglied im höchsten sicherheitspolitischen Entscheidungsgremium, so kann er mittels Veto alle gegen seinen Willen gerichteten Entscheidungen blockieren. Dieses Szenario war in der historischen Gründungsakte der VN durch das Veto-Recht zwar durchaus angelegt, jedoch – zumindest vom Westen – nicht erwartet worden. Es galt sogar der Grundsatz, vom Konflikt betroffene P5-Staaten sollten sich aus Entscheidungen des Sicherheitsrats heraushalten. Die P5 verstanden sich doch als Weltpolizisten, die eine solche Aggression verhindern sollten. Fakt ist: Der Sicherheitsrat kann keine verbindlichen Resolutionen zum russischen Krieg in der Ukraine verabschieden, sondern nur unverbindliche Empfehlungen aussprechen, die nicht dem Veto-Recht unterliegen, aber auch nicht rechtlich bindend sind. Doch bereits zur Zeit des Kalten Krieges wurde ein Ausweg aus dieser Blockadesituation geschaffen, die sogenannte Uniting for Peace-Formel. Dieser Notfallmechanismus erlaubt es der Generalversammlung, im Falle der Handlungsunfähigkeit des Sicherheitsrats über Fragen von Sicherheit zu befinden. Zwar hat die Generalversammlung keine bindende Entscheidungsgewalt, sie verfügt aber über eine überaus große moralische Macht, ist Mahnerin und Anklägerin. Bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn verurteilte die Generalversammlung am 2. März 2022 den russischen Angriffskrieg und die humanitäre Lage mit einer Mehrheit von 141 Staaten. Gleichzeitig befasst sich der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag – das VN-Hauptorgan – mit dem russischen Angriffskrieg. Der von den VN unabhängige Internationale Strafgerichtshof (IStGH), ebenfalls mit Sitz in Den Haag, untersucht zudem außerhalb des Handlungsspielraumes der VN die russischen Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden. Allerdings täuschen die vielen humanitären und sicherheitspolitischen Maßnahmen der VN nicht darüber hinweg, dass sich im obigen Votum 35 Staaten der Stimme enthielten und vier Staaten mit Russland stimmten. Es waren Staaten, die mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen und zudem ausschließlich im Globalen Süden angesiedelt sind. Die VN ist derzeit auch eine Metapher für die Spaltung der Welt – zugleich steht sie aber weiter in der Verantwortung, die internationale Sicherheit auch in Zeiten tiefer Machtrivalitäten zu gestalten.

Prof. Dr. Manuela Scheuermann ist Lehrstuhlvertretung für Interna­tionale Beziehungen und Europaforschung an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zudem ist sie Mitglied des geschäftsführenden Vorstands und des Forschungsrats der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Zu den Forschungsschwerpunkten zählen VN-Frie­densmissionen, VN-Reform, Agenda 1325 und Feministische Außenpoli­tik.