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Aktuelle Herausforderungen | Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland | bpb.de

Parteien und Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland Editorial Grundlagen Parteien als Organisationen Gesellschaftliche Verankerung Parteien und Medien Parteiensystem und Parteienwettbewerb Entwicklung des deutschen Parteiensystems nach 1945 Parteien in staatlichen Institutionen Aktuelle Herausforderungen Literaturhinweise Impressum und Anforderungen

Aktuelle Herausforderungen

Uwe Jun

/ 15 Minuten zu lesen

In den postindustriellen Gesellschaften hat sich in den vergangenen Jahren ein Wertewandel vollzogen, der auch die Bindung an die Parteien gelockert hat. Diese sehen sich komplexen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen gegenüber. Obwohl das Vertrauen den Parteien gegenüber gesunken ist, konnten sie ihre zentrale Stellung institutionell aufrechterhalten.

Vielfalt gesellschaftlicher Werte, Interessen und Problemlagen

Die traditionellen Konfliktlinien haben in den letzten 50 Jahren an Bedeutung verloren und sind nicht vollständig durch neue ersetzt worden. Die gesellschaftliche Anbindung von politischen Parteien hat sich infolgedessen erheblich gelockert und das Ausmaß, in dem politische Parteien die Gesellschaft durchdringen, ist ebenso wie ihre gesellschaftliche Relevanz in repräsentativen Demokratien gesunken.

Zur gesellschaftlichen Erosion der etablierten Parteien hat ein sogenannter Wertewandel in postindustriellen Gesellschaften ebenso beigetragen wie die kontinuierliche Höherqualifizierung der Gesellschaft. Parallel zum Prozess der Individualisierung ist der Anteil der Absolventen mit höherem formalem Bildungsabschluss erheblich gestiegen ("kognitive Mobilisierung"). Verbunden damit hat auch die Wählerschaft insgesamt ihre Ansprüche gegenüber den politischen Parteien gesteigert, ist weniger auf Kommunikationsleistungen und Deutungsangebote der Parteien angewiesen oder hat sich von diesen emanzipiert.

Die Sinus-Milieus® in Deutschland 2015 (© SINUS-INSTITUT 2015)

In den postindustriellen Gesellschaften Westeuropas hat sich eine bunte Vielfalt von Wertegemeinschaften herausgebildet, die unterschiedliche Mentalitäten, Einstellungen, Lebensformen und Orientierungen aufweisen. Die Herstellung eines allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Wertekonsenses ist damit schwieriger geworden. Postmaterialistische Werte wie Selbstentfaltung oder die Bevorzugung nachhaltiger ökologischer Lebensformen haben an Bedeutung gewonnen. Materialistische Werte, aber auch traditionell-autoritäre Werte wie hierarchische Ordnungsvorstellungen, Paternalismus, die Akzeptanz konservativ-religiöser Moralvorstellungen und die Bevorzugung konformistischer Lebensstile haben dagegen an Bedeutung verloren. An ihre Stelle tritt bei einzelnen sozialen Gruppen eine bewusste Hinwendung zu libertären Werten wie Emanzipation, höhere Lebensqualität durch Freizeitaktivitäten, Toleranz gegenüber Minderheiten oder Bevorzugung nonkonformistischer Lebensstile.

Rückgang der Parteibindung

Folge dieser Wandlungsprozesse ist eine deutlich spürbare Abnahme der Zahl parteigebundener Wählerinnen und Wähler. Nicht nur die einstmals vorhandene relative Geschlossenheit soziostruktureller und -kultureller Gruppen ist einer Diffusion gewichen. Auch die Loyalität der weiterhin vorhandenen Kernmilieus gegenüber ihnen nahestehenden politischen Parteien ist eingeschränkter vorhanden. Zwar neigen aktive Gewerkschafter nach wie vor zur Wahl von sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien, praktizierende Katholiken zur Wahl von konservativen beziehungsweise christdemokratischen Parteien. Diese traditionelle Unterstützung ist jedoch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ in erheblichem Maße rückläufig. Freizeitverhalten, Konsumgewohnheiten oder konkrete Wertvorstellungen prägen das Identitätsgefühl der Menschen ebenso wie soziale Gruppenzugehörigkeiten.

Schwingende Legitimation (© Bergmoser + Holler Verlag AG, Zahlenbild 88 608)

Gaben nach Zahlen der Forschungsgruppe Wahlen im Jahr 1972 noch 20 Prozent der Wählerschaft in Deutschland an, sich mit keiner Partei zu identifizieren, so stieg dieser Anteil auf 38 Prozent im Jahr 2009. Die Zahl der Wählerinnen und Wähler, die sich mit einer Partei stark identifizierten, sank im gleichen Zeitraum von 55 auf 32 Prozent. Das Verhältnis von Stamm- und Wechselwählern hat sich also zugunsten der Wechselwähler geändert. Einer Umfrage der Konrad Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2013 zufolge haben 30 Prozent der Wahlberechtigten eine Bindung zu den Unionsparteien und 20 Prozent zur SPD. Mit den Bündnisgrünen identifizieren sich 7, mit der Linken 4 und mit der FDP 2 Prozent. Jüngere Wähler haben der Umfrage zufolge seltener eine langfristige Bindung an eine Partei: In der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen sind es 40 Prozent, in der Altersgruppe der über 60-Jährigen 17 Prozent, die keinerlei Parteibindung angeben. Eine Parteiidentifikation wirkt übrigens tendenziell wie eine gefärbte Brille: Die Parteiidentifikation beeinflusst die Wahrnehmung der einzelnen Parteien maßgeblich zugunsten der präferierten und zuungunsten der anderen Parteien.

Da die Präferenzen der Wählerschaft vielfältiger geworden sind und weniger aus sozialen Verankerungen hervorgehen und gleichzeitig die Komplexität und Vielfältigkeit gesellschaftlicher und politischer Probleme spürbar angewachsen sind, fällt es Parteien, die aus sich heraus möglichst viele Wählerinnen und Wähler erreichen wollen, immer schwerer, zusammenhängende Programmangebote zu erstellen.

Erschwernis ideologischer Positionsbestimmung

Damit ist bei den politischen Parteien ein Verlust der klaren ideologischen Positionsbestimmung einhergegangen, zumindest bei den traditionellen Großparteien wie Sozialdemokratie oder Christdemokratie. Innerhalb der Europäischen Union lässt sich beispielsweise ein programmatischer Annäherungsprozess sowohl innerhalb der sozial- und christdemokratischen Parteienfamilien als auch zwischen diesen beiden finden, wenngleich programmatische Unterschiede fraglos weiter bestehen.

Im Besonderen sozialdemokratische Parteien sahen sich zunächst gezwungen, auf den ökonomischen Wettbewerb der nationalen Volkswirtschaften zu reagieren, der in Folge der Globalisierung die Finanz- und Kapitalmärkte, die Handelsströme und die Produktion von Gütern erfasste. Um in diesem überstaatlichen Wettbewerb inländische Arbeitsplätze zu erhalten, sahen sie sich veranlasst, an ihren originären Zielen (wie etwa Gleichheit) und Instrumenten (etwa Steuerung der Nachfrage durch staatliche Politik, Keynesianismus) Abstriche zu machen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß und mit verschiedener Intensität. Die Finanz- und daraus hervorgehende globale Wirtschaftskrisen ließen nach 2008 staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsabläufe wieder attraktiver erscheinen, was wiederum eine Annäherung christdemokratischer bzw. konservativer Parteien an frühere sozialdemokratische Positionen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bewirkte.

Deutlich wird ein ausgeprägter Pragmatismus, der gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung trägt und nun auch die kulturelle Wettbewerbsdimension betrifft: So haben sich christdemokratische und konservative Parteien von traditionellen Wertvorstellungen (etwa in der Familienpolitik) zu lösen begonnen. Diese schrittweise Abkehr von ideologischen Grundsätzen der Parteifamilien lässt sich mit der Notwendigkeit erklären, sich gegenüber den verschiedenen Gruppen der Gesellschaft mit ihren diversen Lebenslagen, materiellen Ansprüchen und mentalen Bedürfnissen zu öffnen. Geworben wird besonders um die Mittelschichten, in denen Parteien das wahlentscheidende Wählerreservoir vorfinden. In einer mobilen und individualisierten Gesellschaft müssen politische Parteien fähig sein, sich an veränderte Umstände anzupassen; andererseits müssen sie sich programmatisch von anderen Parteien unterscheiden und die Erwartungen ihrer Wählerschaft und ihrer Mitglieder erfüllen.

Dem Wunsch einzelner Teile der Bevölkerung nach scharfem Profil und stringenten Positionen der Parteien stehen in der Realität heterogene und widersprüchliche gesellschaftliche, kulturelle und ökonomische Werte und Problemlagen der Gesellschaften entgegen. Insbesondere Großparteien mit dem Anspruch nach Führung der Regierungsgeschäfte und einem möglichst hohen Anteil an Stimmen stecken in einem Dilemma: Denn nach wie vor orientieren sich die Wählerinnen und Wähler trotz aller genannten Wandlungstendenzen an althergebrachten Identitäten der Parteifamilien, deren Images und Ausrichtungen. Diese Identitäten sind trotz verschwimmender Konturen weiterhin erkennbar. Von einer gänzlichen Depolarisierung der (west-)europäischen Parteiensysteme kann keineswegs gesprochen werden.

Karikatur (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

Das Wählerverhalten ist nicht nur aus Sicht der Parteien undurchsichtiger und weniger vorhersagbar geworden. Auch auf Seiten der Wissenschaft gibt es einzelne Stimmen, die als Folge der soziokulturellen Wandlungsprozesse und ihrer Auswirkungen ein Ende der Massendemokratie und ein Aufweichen des Mehrheitsprinzips näher rücken sehen. Sie vermuten, dass gesellschaftlich akzeptierte Entscheidungen künftig nur noch über Konsens- und Kompromisslösungen der unterschiedlichen Kleinstgruppen herbeigeführt werden könnten – für politische Parteien fraglos eine Entwicklung, die ihre Position in politischen Systemen erheblich unterminieren würde.

Aufkommen populistischer Strömungen

Als Folge der Fragmentierung gesellschaftlicher Interessenlagen, Mentalitäten und Lebensstile sowie gewachsener subjektiver Unsicherheiten infolge der Globalisierung entstanden neue Parteien, die von der Unzufriedenheit gesellschaftlicher Gruppen mit den etablierten Parteien profitierten. Seit den 1990er-Jahren lässt sich das Aufkommen oder Erstarken von rechtspopulistischen oder rechtsextremen Parteien beobachten, die sich häufig als Verkörperung des Protests gegen das etablierte Parteiensystem verstehen. Sie widmen sich bevorzugt Themen wie innerer Sicherheit, dem Ausmaß europäischer Integration, der Ausländerpolitik oder der Ausgrenzung von Minderheiten und sprechen häufig Wählerinnen und Wähler an, die von den ökonomischen Folgen der Globalisierung benachteiligt werden oder sich subjektiv auf der Verliererseite wähnen.

QuellentextAngstpolitik

Auf die Freiheit gibt es kein Patent. Jede und jeder kann sich auf sie berufen, und sei es, um sie zu zerstören. Auch das gehört zur Freiheit. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen führt im Europaparlament eine Fraktion namens "Europa der Nationen und der Freiheit". Ko-Vorsitzender ist ein Niederländer aus der ebenso rechtspopulistischen "Partei für die Freiheit", Vize-Fraktionschef ein Gesinnungsgenosse aus der "Freiheitlichen Partei Österreichs".

Der Name ist bloße Tarnung, denn Europas Rechtspopulisten – von Le Pens Front National über die "freiheitlichen" Österreicher und die polnische PiS bis zur ungarischen Fidesz – stehen an vorderster Front einer Entwicklung, die die Freiheit bedroht: Sie geben ein Sicherheitsversprechen, das unter Wahrung der in Jahrhunderten erkämpften Freiheitsrechte nicht einzuhalten sein wird. Das Gleiche gilt für die deutsche AfD.

All diesen Gruppen ist ein ideologischer Kern gemein, der sich in drei Bestandteile aufgliedern lässt.

Erstens: Vor der unordentlichen Welt "da draußen" soll ein starker Staat seine Bürgerinnen und Bürger schützen. Das bedeutet gnadenlose Härte im Umgang mit Kriminellen, auch wenn mehr Strafen an den Verbrechenszahlen nichts ändern. Es bedeutet so viel Überwachung wie möglich unter dem Motto der Terrorbekämpfung. Es bedeutet die Ächtung, wenn nicht Verfolgung "abweichenden" Verhaltens, von Schwulenparaden bis zu aufmüpfigen Tönen in Kultur und Medien. Und es bedeutet die Stilisierung von Zuwanderern zu einer Bedrohung, die mit Stacheldraht gebannt werden muss. Verschont bleibt – zunächst – der "rechtschaffene Bürger", der der Illusion anhängt, ihn werde die harte Hand schon nicht treffen.

Zweitens: Vor dem "internationalen Finanzkapital" (die Stigmatisierung als "jüdisches Finanzkapital" schwingt mit) soll "das Volk" durch sozialstaatliche Sicherung und wirtschaftlichen Protektionismus geschützt werden. Die polnische PiS hat den Protest gegen die neoliberale Politik der bisherigen Regierung abgeschöpft, und in Frankreich lehnt Marine Le Pen Freihandelsabkommen wie TTIP ebenso heftig ab wie viele Linke – allerdings anders als diese mit knallhart nationalistischen Begründungen.

Drittens: Die Sicherheit und Geborgenheit, die die Rechtspopulisten versprechen, findet "das Volk" gemäß ihrer Ideologie nur im Schoß einer pathetisch überhöhten, nach außen abgeschotteten und ethnisch möglichst homogenen Nation unter straffer bis autoritärer Führung. Freiheit wird vom Weltbürgerrecht zum Privileg des eigenen Volkes, das "den anderen" im Zweifel vorenthalten werden darf und muss.

Nicht zufällig stehen viele dieser Parteien an der Seite von Wladimir Putin, der in Russland zeigt, wie man "Sicherheit und Ordnung" auf Kosten der Freiheit wahrt. Aber ideologische Spurenelemente finden sich zum Teil auch in linken Bewegungen und Parteien. Bei denjenigen zum Beispiel (zum Glück wenigen), die in ehrendem Andenken an die DDR lieber einen diktatorischen Sozialstaat hätten, als um die Koexistenz von sozialer Sicherheit und Freiheit zu kämpfen. […]

Die Spannung zwischen Sicherheit und Freiheit hat in konfliktreichen Zeiten noch zugenommen. Wo Gewissheiten schwinden – einst gewohnte Arbeits- und Familienverhältnisse, soziale Sicherungen, kulturelle Homogenität, internationale Ordnungen –, da wächst die Unsicherheit des auf sich selbst gestellten Individuums.

Sie wächst teils objektiv, etwa durch den Abbau der Sozialsysteme oder die zumindest latent stets vorhandene Terrorgefahr. Teils wächst sie auch "nur" subjektiv. Aber so oder so gibt sie den Nährboden, in dem die "Sicherheitsparteien" ihre falschen Versprechungen pflanzen. Und das macht es ihnen leicht, dazu beizutragen, dass Angst und Abwehr sich gegen Menschen aus fremden Kulturen richten. […]

Wer der Angstpolitik wirklich Paroli bieten will, muss seinerseits die ersehnte Sicherheit bieten. Aber er muss sie in der Sprache der Freiheit definieren. Wichtigster Bestandteil dieser Definition: Sicherheit – auch soziale – ist nicht Selbstzweck, sondern immer zuerst ein Mittel zur Ermöglichung von Freiheit. Vor allem für jene, die wegen Herkunft oder Lebenslage diese Freiheit nicht ohne Unterstützung leben könnten. […]

Stephan Hebel, "Freiheit? Aber sicher!", in: Frankfurter Rundschau vom 31. Oktober 2015
© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.

Karikatur (© Thomas Plaßmann / Baaske Cartoons)

Auf diese Wählergruppen setzen auch linkspopulistische Parteien. In Abgrenzung zu weiten Teilen der etablierten Sozialdemokratie verschließen sie sich den ökonomischen Folgen der Globalisierung oder stellen sich ihnen entgegen, indem sie vehement den Wert der sozialen Gerechtigkeit betonen.

Die etablierten Parteien reagieren darauf wiederum, indem sie Positionen und Themen populistischer Parteien teilweise übernehmen. Aus diesen Veränderungsprozessen hat die Parteienforschung eine neue zentrale Konfliktlinie entwickelt: Sie verläuft zwischen autoritärer und libertärer Staats- und Politikauffassung und ist neben die andere dominante Konfliktlinie Marktfreiheit gegen staatliche Steuerung/soziale Gerechtigkeit getreten. Das Aufkommen neuer Parteien hat zu einer Erhöhung der Fragmentierung der Parteiensysteme beigetragen.

Rückgang und Überalterung der Parteimitglieder

In nahezu allen westlichen Demokratien ist die Anzahl der Parteimitglieder rückläufig, einhergehend mit einer Schwächung der Organisationskraft und ohne Aussicht auf grundlegende Besserung. Deutschlands Parteiendemokratie reiht sich in diesen Trend ein. Seit ihrer Blütezeit in den 1970er-Jahren verloren einzelne deutsche Parteien mehr als 50 Prozent ihrer Mitglieder. So büßte allein die SPD in diesem Zeitraum fast 600.000 Mitglieder ein und zählt nun nur noch gut 460.000 Mitglieder. Dies wirkt sich auch auf die Dichte der flächendeckenden Organisation aus: Im Zeitraum von 2006 bis 2014 verlor die SPD fast 3000 Ortsvereine, deren Zahl von etwa 12.000 auf zurzeit etwa 9000 sank. Diese Situation stellt sich bei der CDU nicht grundlegend anders dar. Von den etablierten Parteien konnte lediglich Bündnis 90/Die Grünen in den letzten zehn Jahren leichte Zugewinne verbuchen. Neu gegründete Parteien wie die Piraten oder die AfD weisen ohnehin bislang relativ geringe Mitgliederzahlen aus.

Die Rekrutierungsmöglichkeiten der Parteien für öffentliche Ämter und Mandate sind damit geringer geworden. Für (oftmals ehrenamtliche) kommunale Ämter mangelt es nicht selten schon an geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern. Insbesondere junge Menschen zeigen eine nur geringe Bereitschaft, Parteien beizutreten; attraktiver erscheint vielen ein punktuelles, zeitlich begrenztes Engagement in Initiativen oder Nichtregierungsorganisationen, von dem sie sich mehr Erlebniswert und eine unmittelbarere Wirksamkeit versprechen als von der Mitgliedschaft in Großorganisationen.

Doch auch dieses Engagement kann die insgesamt geringe Neigung zu politischer Mitarbeit nicht ausgleichen. Denn nicht nur Parteien, sondern auch Verbände, Gewerkschaften oder die Kirchen leiden unter einer Bindungsunwilligkeit gegenüber Großorganisationen, geringer Motivation und fehlenden Loyalitäten ihnen gegenüber. Diese Zurückhaltung bei den unter 35-Jährigen führt zu einer deutlichen Unterrepräsentation Jüngerer in den Parteien. Die Gruppe der über 60-Jährigen ist dadurch in vielen Parteien (CDU, SPD, Linke) mittlerweile in der Mehrheit. Die Verbindung zwischen bürgerschaftlichem Engagement und parteipolitischer Partizipation ist dünner und brüchiger geworden; es ist einfacher, punktuellen Einsatz für konkrete Anliegen, wie zum Beispiel gegen den Neubau eines Bahnhofs oder gegen Fluglärm, zu mobilisieren als für die langfristige Mitarbeit in einer Partei. Hinzu kommt eine stärkere Hinwendung zur Familie und zu vielfältigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung außerhalb des Politischen, kurz, zu einer individualisierten und privatisierenden Lebensgestaltung. Doch nicht nur Jüngere sind in den Parteien unterrepräsentiert; auch andere soziale Gruppen wie Zugewanderte, Frauen und insbesondere bildungsferne Schichten sind als Mitglieder entweder geringer repräsentiert als im Bevölkerungsdurchschnitt oder sogar kaum noch präsent. Auch unter den Wählerinnen und Wählern lässt sich eine ähnliche Tendenz ausmachen: Bildungsferne und einkommensschwache Haushalte sowie Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund geben seltener ihre Stimme ab. Hinzu tritt ein bestehendes, demografisch bedingtes Ungleichgewicht: Die Bürgerinnen und Bürger ab 60 Jahren stellen schon heute mehr als ein Drittel aller 61,9 Millionen Wahlberechtigten. Im Gegensatz dazu sind die unter 30-Jährigen mit 9,8 Millionen Wahlberechtigten eine weniger als halb so große Gruppe.

Krise oder Wandel

Die Rede von der Krise des bundesdeutschen Parteiensystems ist fast so alt wie das Parteiensystem selbst; spätestens ab Mitte der 1970er-Jahre wuchs die Zahl der kritischen und skeptischen Stimmen. Dies erstaunt heutige Beobachter insofern, als die Parteien gerade in den 1970er-Jahren einen in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellosen Zulauf an neuen Mitgliedern verzeichnen konnten und auch die Wahlbeteiligung sowie die Zustimmung zu den etablierten Parteien hohe, zum Teil bislang höchste Werte aufwiesen.

Krisensymptome

Die Situation hat sich seitdem zuungunsten der Parteien gewandelt, und mögliche Krisensymptome sind deutlicher sichtbar: spürbarer Niedergang der Mitgliederzahlen einhergehend mit einer Überalterung und sehr geringen Anteilen junger Mitglieder, sehr niedrige Vertrauenswerte den Parteien insgesamt gegenüber, Rückgang der Parteibindungen, gesunkene Wahlbeteiligung (insbesondere auf Landes- und Kommunalebene) einhergehend mit einer Abwendung einzelner sozialer Gruppen von den etablierten Parteien (in erster Linie Bürgerinnen und Bürger mit geringer formaler Bildung und geringem Einkommen). Neue Protestparteien gewinnen an Zulauf; sie profitieren vom Unbehagen einzelner Wählergruppen gegenüber den traditionelleren Parteien, wie temporäre Erfolge der Piratenpartei 2011/2012 oder jüngst der AfD belegen.

QuellentextDie Lücke bei der Wahlbeteiligung

[…] Unter den 18 Millionen Bürgern, die bei der Bundestagswahl 2013 von ihrem Wahlrecht nicht Gebrauch machten, fanden sich zwar Angehörige aller Schichten. Aber die Wahrscheinlichkeit, nicht zu wählen, unterschied sich systematisch zwischen ihnen. […] Noch in den frühen achtziger Jahren lagen alle sozialen Gruppen nahe beieinander. […] So gaben bei Umfragen nach der Bundestagswahl 1983 in allen Einkommensgruppen 90 Prozent oder mehr der Befragten an, gewählt zu haben. Bei jeder nachfolgenden Bundestagswahl vergrößerte sich der Abstand zwischen dem untersten und dem obersten Einkommensdrittel. Im Jahr 2013 betrug der Unterschied mehr als 20 Prozentpunkte. Ein mit diesem Befund übereinstimmendes Bild ergibt sich, wenn statt des Einkommens der Bildungsgrad, die Schichtzugehörigkeit oder die Berufsgruppe als Vergleichsmaßstab gewählt werden. […]

[…] Bei den über Sechzigjährigen unterscheidet sich die Bereitschaft, zu wählen, kaum. Unabhängig vom Schulabschluss oder dem Einkommen gibt eine überwältigende Mehrheit in Umfragen an, gewählt zu haben. Dasselbe gilt auch für jene unter Dreißigjährigen, die die Schule mit Abitur abgeschlossen oder studiert haben. Ganz anders sieht es jedoch bei Jüngeren aus, die höchstens einen Hauptschulabschluss vorzuweisen haben. In dieser Gruppe wählt die Mehrheit nicht mehr. Unter den Erstwählern bei der zurückliegenden Bundestagswahl gaben 80 Prozent mit Hochschulreife an, gewählt zu haben, aber weniger als 40 Prozent mit höchstens Hauptschulabschluss. Wenn jüngere Kohorten in der Zukunft ältere ersetzen, steht zu befürchten, dass die Wahlbeteiligung weiter sinkt und die Beteiligungsunterschiede noch größer werden.

Wie stark sich das Wahlverhalten auseinanderentwickelt hat, zeigt auch der Blick auf räumliche Muster der Nichtwahl. In Städten wie Köln oder Hamburg lagen 2013 mehr als 40 Prozentpunkte zwischen dem Stadtteil mit der höchsten und dem mit der niedrigsten Wahlbeteiligung. Dabei folgt das Ausmaß der Nichtwahl einem klaren Muster: Je ärmer ein Stadtteil ist, desto mehr Menschen verzichten auf die Stimmabgabe. Selbst bei Bundestagswahlen gibt dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und das Durchschnittseinkommen niedrig ist, nur eine Minderheit der Wahlberechtigten die Stimme ab. In besonders wohlhabenden Stadtteilen wählen weiterhin fast neun von zehn Berechtigten. Dieses Muster zeigt sich nicht nur in allen Großstädten, sondern auch bei 640 repräsentativ ausgewählten Stimmbezirken aus ganz Deutschland. Es sind also nicht allein großstädtische Problemquartiere, in denen wenige wählen, sondern alle Wohngegenden, in denen die Lebensumstände unter dem Durchschnitt liegen.

Wie kommt es zu diesen Unterschieden? Eine berühmte Formel der politikwissenschaftlichen Forschung lautet: Menschen partizipieren nicht, weil sie nicht können, weil sie nicht wollen oder weil sie niemand dazu auffordert. Auf den ersten Blick mag es verblüffen, wenn davon gesprochen wird, dass jemand sich an Wahlen nicht beteiligen kann. Denn im Vergleich zu anderen Arten des politischen Engagements ist der Aufwand gering. In Deutschland wird sonntags gewählt, die Wahllokale sind meist fußläufig erreichbar, verhältnismäßig lange offen, und eine Vorabregistrierung ist nicht notwendig. Die Wahlunterlagen werden den Wahlberechtigten automatisch zugestellt, und Briefwahl ist unkompliziert möglich.

Dennoch kann das Wählen voraussetzungsvoller sein, als es auf den ersten Blick scheint, und diese Voraussetzungen sind ungleich verteilt. Insbesondere vor einer Wahl müssen programmatische Unterschiede zwischen den Parteien erkannt werden und mit den eigenen Präferenzen abgeglichen werden. Je stärker die Parteien auf Polarisierung verzichten und je größer die Überlappung in den Parteiprogrammen, desto schwieriger ist es, sich über Unterschiede klarzuwerden. Der Aufwand, sich zu informieren, ist für diejenigen besonders groß, die ein geringes Vorwissen haben und die ohnehin Parteien und Politik fernstehen. […] Es ist daher kein Zufall, dass sich ein höherer Bildungsgrad, wie zahlreiche Studien zeigen, positiv auf das politische Wissen und damit auf die Wahlbereitschaft auswirkt.

Neben dem Können entscheidet auch das Wollen darüber, ob jemand wählt. Wer sich für Politik interessiert und sich mit einer Partei identifiziert, der hält es für wichtig, wählen zu gehen. Auch die Überzeugung, wählen gehöre zu den staatsbürgerlichen Pflichten, erhöht die Wahlbereitschaft, selbst wenn das Interesse an einer konkreten Wahl gering ist. Im Gegensatz dazu gehen Nichtwähler häufig davon aus, die eigene Stimme bewirke nichts, außerdem interessierten sich die Parteien nicht für die eigenen Anliegen. Wer nicht wählt, ist mit der Regierung, den Parteien insgesamt sowie mit der Funktionsweise der Demokratie eher unzufrieden und erhofft von einem Regierungswechsel wenig. […]

Für die Demokratie besteht die Gefahr ungleicher Partizipation darin, dass die Politik sich an den Aktiven und Vernehmbaren orientiert, während die Passiven und Stillen übergangen werden. Dass unterschiedliche Gruppen unterschiedlich wehrhaft sind, merken Politiker an vielen Stellen. Entscheidungen, die den gut Organisierten zuwiderlaufen, stoßen auf Widerstand – von den Politikfernen werden sie hingenommen. So erzählte ein Mitglied des Kölner Stadtrats, dass schon ein Kinderspielplatz an der falschen Stelle im wohlhabenden Stadtteil Lindenthal massive Proteste hervorrufen würde, während auf dem zentralen Platz im armen Chorweiler ein Atomkraftwerk gebaut werden könne, ohne dass mit Widerstand zu rechnen sei. Man muss schon ein heroisches Bild von Entscheidungsträgern haben, um anzunehmen, dass derartige Unterschiede in der politischen Beteiligung deren Entscheidungen nicht beeinflussen. […]

Wahlen und Abstimmungen sind ein Fest der Demokratie, doch die Gäste der Party kommen ganz überwiegend aus der Mittel- und Oberschicht, während die anderen noch nicht einmal mehr sehnsüchtig von draußen zuschauen.

Der Verfasser lehrt Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.

Armin Schäfer, "Demokratie? Mehr oder weniger", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 2015 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv

Doch sind diese Anzeichen eindeutig als Zeichen einer Krise zu bewerten, oder ist eher von einem Wandel der Parteien und des Parteiensystems auszugehen?

Dazu ist zunächst ein Blick auf die Krisensymptome selbst zu werfen: Ist etwa der Rückgang der Mitgliederzahlen eindeutig Anzeichen eines Niedergangs oder nicht vielmehr Zeichen einer Normalisierung nach dem Anstieg in den 1970er-Jahren? Waren nicht jene 1970er-Jahre eher der historische Ausnahmefall, als die Nachkriegsgenerationen sich, angefeuert durch die sozialliberale Aufbruchsstimmung, politisierten und daraufhin eine konservative Gegenmobilisierung erfolgte? Musste diese Politisierung der Nachkriegsgesellschaft nicht zwangsläufig die Parteien erfassen? Schließlich folgten viele Anhänger des damaligen Studentenführers Rudi Dutschke seiner Aufforderung von 1967 zum "Marsch durch die Institutionen", um das bestehende politische System in ihrem Sinne zu verändern.

Gegenstrategien

Einsatz direktdemokratischer Verfahren: Im Zuge der neueren Tendenzen zur Milieuauflösung und der Individualisierung innerhalb der Gesellschaft sind die Möglichkeiten der Parteien, Interesse an politischer Beteiligung zu wecken und dem Mitgliederschwund entgegenzuwirken, eher gesunken. Sie können allerdings Impulse setzen, indem sie bei personellen Fragen den Mitgliedern mehr Rechte geben und mehr direktdemokratische Elemente einführen wie Urwahlen von Kandidierenden für Parlamente oder innerparteiliche Spitzenpositionen (Parteivorsitz oder Spitzenkandidatur im Landes- oder Bundestagswahlkampf). Oder sie können Mitgliederentscheide bei inhaltlichen Fragen durchführen, also insgesamt die Mitgliederbasis direkt in Entscheidungsprozesse einbinden.

Diese Ideen wurden bei den Grünen seit ihrer Gründung konsequenter eingesetzt als bei den bis dato etablierten Parteien. Ähnliches versuchte die Piratenpartei nach ihrer Gründung, die ebenfalls das Prinzip der Basisdemokratie in den Vordergrund rückte. Auch sie wollte sich damit nicht nur von den etablierten Parteien CDU, CSU, SPD und FDP (und auch den Grünen und Linken) abgrenzen, sondern gleichzeitig ein neues Demokratiebewusstsein und eine neue demokratische Kultur erzeugen. Die Piraten setzten dabei hauptsächlich auf internetbasierte Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse, mussten aber die Erfahrung machen, dass sie der Komplexität und der Langwierigkeit der Prozesse kaum Herr wurden.Ihre einst hohen basisdemokratischen Ansprüche sind bei Bündnis 90/Die Grünen nur noch zum Teil vorhanden. Dennoch hat die Partei die Potenziale der aktiven Beteiligung der Mitglieder nie ganz aus den Augen verloren. So befragte sie beispielsweise im Bundestagswahlkampf 2013 ihre Mitglieder, wer bei der Bundestagswahl ihre Spitzenkandidaten werden sollten.

Mit einer stärkeren Einbeziehung der Basis folgen nicht nur die Bündnisgrünen und die Piraten, sondern inzwischen alle im Bundestag vertretenen Parteien dem Wunsch der Mitglieder nach vermehrter Partizipation und gewachsenen Ansprüchen auf Mitentscheidung. Darüber hinaus bieten sie Möglichkeiten des Mitmachens und Mitdiskutierens an: Bürgerdialoge und Mitmach-Tools, Diskussionsforen, Bürgerkonvente und Regionalkonferenzen – alles sowohl online als auch außerhalb des Internets. Nahezu jede Partei reklamiert für sich, den Bürgerinnen und Bürgern bei der Wahlprogrammgestaltung nicht nur ihr Ohr geschenkt, sondern deren Vorstellungen direkt ins Wahlprogramm aufgenommen zu haben. Es stellt sich jedoch die entscheidende Frage nach der politischen Verbindlichkeit und Transparenz der einzelnen Instrumente und der Ergebnisse. Die bei Programmentscheidungen nicht gerade überwältigende Beteiligung weist gleichzeitig auf Grenzen der Basispartizipation hin. Gibt es (noch) Skepsis gegenüber genau dieser Wirksamkeit, oder herrscht das Gefühl einer möglichen Instrumentalisierung im Wahlkampf vor?

Fraglos jedenfalls bemühen sich die jeweiligen Parteispitzen um vermehrte Rückbindung an die Parteibasis und damit um Legitimationsgewinne. Mit einer Mitgliederbefragung zu ihren Spitzenkandidaten erreichten die Bündnisgrünen eine vergleichsweise hohe Verbindlichkeitsstufe und Offenheit. Die bislang öffentlichkeitswirksamste und spektakulärste Mitgliederbefragung führte die SPD nach der Bundestagswahl 2013 durch. Sie ließ ihre Mitglieder über den Koalitionsvertrag mit den Unionsparteien abstimmen und erreichte damit einen sehr hohen Mobilisierungsgrad: Fast 78 Prozent der Mitglieder beteiligten sich, knapp 76 Prozent stimmten der Koalitionsvereinbarung zu und folgten damit der entsprechenden Empfehlung der Parteiführung. Damit erhöhte sich die Legitimation für die Bildung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Weitere direktdemokratische Verfahren waren etwa im Jahr 2014 die Entscheidung des Berliner Landesverbandes über die Nachfolge von Klaus Wowereit als Regierender Bürgermeister oder die Abstimmungen über eine Koalitionsbildung in Thüringen, die von allen drei Parteien, Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, durchgeführt wurden. Die CDU plant eine Befragung in Baden-Württemberg über die Spitzenkandidatur zur Landtagswahl 2016.

Öffnung gegenüber Nichtmitgliedern: Um dauerhaft politisch interessierte Mitglieder zu überzeugen und Begeisterung zu wecken, reichen temporäre Maßnahmen allerdings nicht aus. Für Parteien mit dem Anspruch der "Mitmachpartei" gilt es, Partizipationsangebote zu verstetigen: Erste Schritte hin zu mehr Urwahlen und mehr Mitgliederentscheiden sind getan. Dazu kommen auch zaghafte Schritte der Öffnung gegenüber Nichtmitgliedern, um eine breitere gesellschaftliche Verankerung zu erreichen. Hier jedoch sind es häufig die Mitglieder selbst, die den von den Parteiführungen vorgeschlagenen Öffnungsversuchen Widerstand entgegensetzen. Beispielsweise traf der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel, die Bundestagskandidaten der SPD durch offene Vorwahlen nach US-amerikanischem Vorbild zu bestimmen, auf Ablehnung der aktiven Mitglieder seiner Partei und wurde daraufhin wieder fallen gelassen. Die Parteimitglieder wollten exklusive Rechte behalten und zentrale Kompetenzen bei der Rekrutierung des politischen Personals nicht abgeben. Sobald es um die Abgabe von Entscheidungsrechten an Nichtmitglieder geht, ist das klassische Modell der Mitgliederpartei "von oben" offenkundig nur begrenzt reformfähig.

Professionalisierung: Problematischer als der quantitative Rückgang der Mitgliederzahlen ist für die Parteiendemokratie die geringe Neigung junger Menschen, in Parteien einzutreten, da sich damit das Reservoir an Kandidierenden für öffentliche Ämter und Mandate deutlich verringert. Insbesondere auf kommunaler Ebene können die zumeist ehrenamtlich oder mit geringer Aufwandsentschädigung zu besetzenden Ämter und Mandate in einzelnen ländlichen Regionen zuweilen kaum mehr vollständig besetzt werden. Die Parteien reagieren darauf mit einer zunehmenden Professionalisierung, indem Mitarbeiter bzw. überregional tätige Abgeordnete vermehrt auf kommunale Ressourcen zurückgreifen und Ämter übernehmen. Für eine Parteiendemokratie ist aber auch eine Erneuerung ihres Personals von unten, an der kommunalen Basis, von Vorteil. Kollektiver Protest oder temporäre Bürgerinitiativen, wie sie etwa beim Bürgerprotest gegen den Neubau des Hauptbahnhofs in Stuttgart ("Stuttgart 21") auftraten, können Entscheidungen gewählter Parlamente mangels breiterer gesellschaftlicher Repräsentation oder geringer Verantwortlichkeit ihres Handelns nicht ersetzen. Die Parteiendemokratie braucht zu ihrer Funktionserfüllung dauerhaftes ehrenamtliches Engagement in Form der Hinwendung zu einzelnen Parteien.

QuellentextNeulinge in der Kommunalpolitik

[…] Tim Achtermeyer sieht müde aus. Es ist ein Dienstag Anfang November. Am Wochenende hat er viel zu verlieren. Und das gleich an zwei Fronten. "Ich habe das Gefühl, ich verbringe mehr Zeit hier als zu Hause", sagte er. Hier, das sind die Fraktionsräume der Grünen im schmucklosen Nebengebäude des Alten Rathauses. […]. 21 Jahre ist der junge Mann im Kapuzenpulli alt. Seit dem 23. Juni [2014] sitzt der Student im Bonner Stadtrat. Achtermeyer ist das jüngste Ratsmitglied, überhaupt sind nur vier der 86 Stadtverordneten unter 30.

Monatelang haben Achtermeyer und seine 16 Fraktionskollegen mit CDU und FDP verhandelt. Jetzt steht der Koalitionsvertrag. An jenem Samstag stimmt die Basis über das 50-seitige Werk ab. Achtermeyer wird nicht dabei sein. Er will sich bei der Landesmitgliederversammlung in Gelsenkirchen in den Vorstand der Grünen Jugend NRW wählen lassen. In der Fraktion gab es ein Patt bei der Abstimmung über die Jamaika-Koalition. Achtermeyer hat für den Vertrag gestimmt, das nehmen ihm gerade bei den jungen Grünen viele übel. "Ich bekomme Anrufe, Mails, SMS: ‚Was ist da los?‘. Ich sitze zwischen den Stühlen." Die Mittlerposition zwischen Fraktion und Jugendorganisation, das sei Teil seiner Aufgabe, sagt er. "Es nervt nur, wenn es mitten in der Nacht passiert."

15 Stunden, so schätzt Achtermeyer, bringt er in der Woche für seine Arbeit in der Fraktion auf. Daneben das Politikstudium. "Mein Privatleben muss ich mir in den Terminkalender schreiben", sagt er und lacht. An beiden Fronten zumindest siegt er: Die Mehrheit der Basis gibt der Jamaika-Koalition am 8. November ihren Segen. Und Achtermeyer wird in den Vorstand der Grünen Jugend NRW gewählt.

86 Stadtverordnete sitzen im Bonner Rat […]. 36 von ihnen sind im Juni [2014] neu in das kommunalpolitische Gremium eingezogen. "Sie werden, so hoffe ich, eine realistische Vorstellung von den kommenden sechs Jahren haben und von der harten Arbeit, die Sie hier erwartet", hat sich [der damalige] Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch bei der konstituierenden Ratssitzung an die Neulinge gewandt. "Sie, liebe Stadtratsmitglieder, werden weder einen eigenen Arbeitsplatz haben noch eine Sekretärin, noch einen Dienstwagen oder andere Statussymbole, die der Politik nachgesagt werden. Sie werden mehr Sitzungswochen haben als irgendein Parlament auf Landes- oder Bundesebene und sich daran gewöhnen müssen, dass unübersehbar viele Vereine und Initiativen Sie auch am Abend befragen und am Wochenende sehen wollen."

[…] Erster-Schultag-Stimmung. "Die Piraten nebenan machen einen sympathischen Eindruck, die Grünen unterhalten sich lautstark untereinander, die männerlastige CDU ist ein beeindruckender grauer Anzugblock", so beschreibt Fenja Wittneven-Welter ihre ersten Beobachtungen als Stadtverordnete im Ratssaal. 45 Jahre alt ist die […] Angestellte bei der Akademie für internationale Bildung, die Auslandsstudienprogramme für amerikanische Studenten organisiert. Sie […] ist über die SPD-Liste in den Rat eingezogen. "In diesem Moment schaust du dich um und fragst dich: Mit wem werde ich etwas zu tun haben?" Die Cliquen auf diesem Schulhof stehen fest, das Parteibuch entscheidet, wer wohin gehört. Doch einige Neue sind auch mit der Mission angetreten, über die Parteigrenzen hinweg sachlich und gut miteinander auszukommen. […]

Der Oberbürgermeister trägt die schwere, goldene Amtskette, alle Ratsmitglieder haben sich formell schick gemacht. Die Verpflichtung wird im Chor gesprochen, "nach bestem Wissen und Gewissen und zum Wohl der Stadt". Jürgen Wehlus sitzt in der vorletzten Reihe am äußeren Rand des CDU-Blocks. Der 62-jährige Angestellte beim Verband Deutscher Kühlhäuser ist als Direktkandidat […] gewählt worden. Im Februar 2015 wird er nach 45 Jahren aktivem Dienst aus der Freiwilligen Feuerwehr verabschiedet. Zeitgleich wird Wehlus in den Ruhestand gehen. "Ich hatte Angst, in ein Loch zu fallen, deswegen habe ich mich entschieden, für die CDU zu kandidieren", sagt er. "Und, weil ich gerne mein Wissen und meine Fähigkeiten einbringen will."

[…] Nach der konstituierenden Sitzung folgt erst mal die sommerliche Sitzungspause. Es ist Anfang September. Am Freitag ist Jürgen Wehlus […] aus dem 14-tägigen Urlaub […] zurückgekommen. Auch dort war sein neues Amt präsent. "Abends liegt da das Ratstablet, das private Tablet und das Handy. Dann werden Mails geschickt, aus dem Fraktionsbüro werden Bürgerbriefe […] weitergeleitet, Anträge und Stellungnahmen der Verwaltung trudeln ein." […] Neben dem Rat, der mindestens alle zwei Monate zusammenkommt, meist aber häufiger, gibt es 42 weitere Gremien: Ausschüsse Bezirksvertretungen, Beiräte. 538 Stunden lang haben sie 2013 insgesamt getagt, dem letzten vollen Jahr ohne Sitzungspause durch die Kommunalwahl, 5479 Tagesordnungspunkte wurden behandelt. Die Ausschüsse und Unterausschüsse werden zu einem großen Teil mit Stadtverordneten besetzt.

[…] Fenja Wittneven-Welter […] wird die Rolle der SPD-Sprecherin im Bürgerausschuss übernehmen. Auch im Sportausschuss wird sie sitzen, und in verschiedenen anderen Gremien als Stellvertreterin. "Respekt" habe sie vor der Rolle als Sprecherin, die im Normalfall für die Fraktion im jeweiligen Ausschuss das Wort ergreift, sagte sie im September vor der ersten Bürgerausschusssitzung. "Ich habe kein Problem, öffentlich zu sprechen. Aber in dieser Manege mit gegnerischen Parteien und vielen alten Hasen muss man sich ein dickes Fell zulegen." […]

Neben dem Einarbeiten in die Bürokratie, den wöchentlichen Fraktionssitzungen, Koalitions- und Positionstreffen, dem Taktieren um die Posten stellt das Amt die Neulinge auch vor ganz andere Probleme. "Bei Sommerfesten, Vereinsjubiläen und Ähnlichem […] steht man auf der anderen Seite, ist unter Beobachtung, muss immer ein paar Worte parat haben", sagt Wehlus. […]

Zwei Dinge haben Fenja Wittneven-Welter bewogen, für den Rat zu kandidieren. Sie erhoffe sich, besser über vieles, was in dieser Stadt läuft, informiert zu sein, hat sie vor der ersten Sitzung im Juni 2014 gesagt. Es sei tatsächlich ein gutes Gefühl, zu wissen, wen man anrufen muss, wenn etwas nicht rund läuft, sagt sie ein Jahr später, nicht nur bei den Fachpolitikern, sondern auch in der Verwaltung. Und sie werde dort auch gehört. "Das bringt die Position einfach mit sich." […]

347,50 Euro bekommen die Bonner Stadtverordneten pro Monat als Aufwandsentschädigung, 17,80 Euro gibt es pro Sitzung an Sitzungsgeld. Viele spenden einen Teil ihrer Partei. […] "Viele Bürger sehen einfach nicht, dass das ein Ehrenamt ist, was wir machen", sagt Wittneven-Welter. "Ein Ehrenamt wie jedes andere, aber leider mit deutlich schlechterer Reputation." […]

Johanna Heinz, "Die ersten Schritte auf dem politischen Parkett sind getan", in: General-Anzeiger Bonn vom 19. Juni 2015

Die spürbar gesunkenen Vertrauenswerte gegenüber Parteien lassen Legitimationsverluste offenkundig werden. Laut Bevölkerungsumfragen vertrauten 2010 nur noch 29 Prozent der Bürgerinnen und Bürger den Parteien, während der Wert zu Beginn der 1980er-Jahre noch bei mehr als 50 Prozent lag. Damit belegen Parteien 2010 hinter allen anderen Institutionen den letzten Platz. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit im Mittelfeld.

Diesem generellen Trend steht aber entgegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht alle im Bundestag vertretenen Parteien grundsätzlich negativ beurteilt, sondern dass etwa die Hälfte aller Wählerinnen und Wähler sich noch mehr oder weniger stark (wenn auch mit abnehmender Tendenz) einer Partei verbunden fühlt. Besteht eine Bindung zu einer politischen Partei, so ist tendenziell auch das Vertrauen größer. Das Verhältnis zu den Parteien ist für viele Wählerinnen und Wähler flüchtiger, brüchiger und auch instrumenteller geworden. Es kann zwar nicht von völliger Bindungslosigkeit im Verhältnis von Wählerschaft und Parteien gesprochen werden, aber die Bereitschaft zum Parteiwechsel bei Wahlen steigt unverkennbar.

Die Parteien haben längst erkannt, dass Glaubwürdigkeit und Vertrauen in sie bedeutsame Faktoren sind, um die Legitimität des Parteiensystems zu erhöhen. Jedoch kann verloren gegangene Glaubwürdigkeit nur mittel- bis langfristig wieder zurückgewonnen werden. Dies gelingt nur mit Stetigkeit, einem Handeln, das als authentisch wahrgenommen wird, und mit Entscheidungen, die von den Bürgerinnen und Bürgern als erfolgreiche Politik wahrgenommen werden. Nicht nur der mehr politische Teilhabe ermöglichende "input" in die Partei, sondern auch ein "output", der Lebenslage und -situation der Wählerinnen und Wähler verbessert, ist von Belang.

Der mediale Anteil parteipolitischen Handelns gewinnt angesichts der gewachsenen Relevanz von Medien in der politischen Kommunikation an Bedeutung. Eine weitgehende Anpassungsfähigkeit an die Medienlogik sehen die meisten Parteien als eine unabdingbare Voraussetzung, um im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Medien und damit der Wählerschaft bestehen und Medien als potenzielle Ressource für Wahlerfolge nutzen zu können. Die Parteien haben mit einer Professionalisierung ihrer Kommunikationsapparate und -leistungen reagiert, indem sie sich bei ihrer Außendarstellung vermehrt von dafür ausgebildeten Kommunikationsexperten, Meinungsforschern und Werbefachleuten beraten lassen.
Parteien sind der Schwächung ihrer gesellschaftlichen Basis nicht nur mit einem teilweisen Ausweichen auf mediale Politikvermittlung begegnet, sondern haben sich teilweise auch stärker zur staatlichen Ebene hin verlagert. Während ihre Verbindung zur Gesellschaft loser geworden ist, ragen sie dafür stärker in den Staat hinein und nehmen staatliche Ressourcen (öffentliche Finanzierung, Ämter, Mandate und Positionen) in Anspruch.

Ein Schlusswort gegen Niedergangsszenarien

Auf den Rückgang der rein nationalstaatlichen Steuerungsmöglichkeiten zugunsten kooperativer Formen überstaatlichen Regierens (vom government zu governance), verbunden mit einer zunehmend engeren Einbindung der Nationalstaaten in internationale Organisationen (wie z. B. EU und NATO) haben die Parteien bislang nur sehr begrenzte Reaktionsstrategien entwickelt. So lassen sich noch kaum Anpassungsprozesse der nationalstaatlich orientierten Parteien in Hinblick auf eine stärkere Integration in die Europäische Union (EU) verzeichnen. Die Werte, Normen, Regeln, Verfahren, Paradigmen und Handlungen, die von der Ebene der Europäischen Union in nationalstaatliche Diskurse einfließen und unter dem Begriff der Europäisierung zusammengefasst werden, haben laut empirischen Studien die politischen Parteien in Deutschland nur sehr eingeschränkt erfasst.

Dennoch verdeutlichen die Ausführungen zu den Reaktionen der Parteien, dass moderne Ansätze der Parteienforschung sich gegen bloße Niedergangszenarien wenden. Stattdessen betonen sie die Wandlungsfähigkeit von Parteien und bekräftigen auch deren Fortbestehen als Mitgliederparteien, wobei das Zeitalter der Massenmitgliedschaft nach aktuellem Eindruck wohl der Vergangenheit zuzurechnen ist.

Die im politischen System etablierten Parteien der Zukunft werden – sollten sich die derzeitigen Trends fortsetzen – bei geringerer gesellschaftlicher Verwurzelung noch immer wertegebundene Akteure der Interessenbündelung und der politischen Zielfindung sein. Weit mehr werden sie aber auch professionelle Organisationen im Parlaments- und Regierungsbereich eines politischen Systems sein, die mit ausgefeiltem Kommunikationsmanagement politische Entscheidungen nach innen und außen darstellen und im intensiven Wettbewerb untereinander mit wählerzentrierten Instrumenten und Mitteln Kandidaten für öffentliche Ämter rekrutieren, ohne ihren Anspruch als Mitgliederpartei mit gesellschaftlicher Verankerung aufzugeben. Letzteres werden sie durch vermehrte Mitmachangebote für Mitglieder unter Beweis stellen können.

Uwe Jun ist Professor für "Regierungslehre – Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland" an der Universität Trier, Sprecher des Arbeitskreises "Parteienforschung" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) sowie Mitglied der DVPW, der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen (DVParl) und des European Consortium for Political Research. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Parteienforschung, Vergleichende Parlamentarismusforschung, Föderalismus, Politische Kommunikation und Koalitionsforschung.

Bei der Konzeption und der Materialrecherche wurde er unterstützt von Isabel Bähr, Sebastian Exner und Simon Jakobs