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Tagungsbericht | Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe | bpb.de

Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe Tagungsbericht Workshops Workshop 1 Workshop 2 Workshop 3 Workshop 4 Workshop 5 Reden Grußwort von Dr. Caroline Hornstein-Tomic Grußwort von Herrn Hartmut Koschyk Thesenpapiere, Präsentationen und Audiomitschnitte

Tagungsbericht

Katharina Heinrich

/ 7 Minuten zu lesen

Hier finden Sie den Tagungsbericht zur Fachtagung Aussiedlung – Beheimatung - Politische Teilhabe von Katharina Heinrich.

Der Titel der Fachtagung in Berlin vom 29.4.30.4. sei etwas sperrig, das gibt zu Beginn ihrer Rede Dr. Caroline Hornstein-Tomic selbst zu, Fachabteilungsleiterin der Bundeszentrale für politische Bildung. Schließlich sollen in der Überschrift die wichtigsten Themenbereiche und die vielfältigen Gruppen der Zuwanderer aus Russland Platz finden. Als da wären 2,4 Millionen Deutsche aus Russland, etwa 215.000 jüdische Kontingentflüchtlinge und 230.000 Menschen, die ausschließlich einen russischen Pass besitzen. Die Gruppen unterscheiden sich nicht nur voneinander, sie sind auch in ihrem Inneren nicht homogen. Allein die Migrationserfahrungen der ersten Generation der Eingewanderten und ihrer Kinder, zum Beispiel, können nicht unterschiedlicher sein. Allen Gruppen gemeinsam ist aber ihre Vergangenheit in der Sowjetunion und die daraus resultierende Prägung. Davon wird auf der Tagung immer wieder die Rede sein. Der Bundeszentrale für politische Bildung ist es wichtig, betont Dr. Caroline Hornstein-Tomic: zumindest zu versuchen "die vielfältigen Perspektiven auf die sogenannte 'postsowjetische Diaspora’ mit ihren gewichtigen Unterschieden, aber auch ihren offensichtlichen (auch familiären) Wechselwirkungen und Gemeinsamkeiten, einmal in einem Raum der Demokratie zusammenzubringen." Auf besondere Stärkung der "politischen Bildung, der Medienkompetenz und des Vertrauens in staatliche Institutionen" setzt Hartmut Koschyk Wert, der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, in seiner Eröffnungsrede. Er fordert eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der "deutschen" Identität. Es reiche nicht, so Koschyk, "wenn das Thema Identität nur im eigenen Kreise erörtert wird." Ein Thema, das auf der Tagung immer wieder kontrovers und nicht ohne Emotionen diskutiert wird.

Ist Heimat ein Zustand oder ein Gefühl?

Das Eröffnungspodium "Identität, Beheimatung und Politische Teilhabe. Erfahrungen, Kontroversen, Perspektiven" war in der Tat kontrovers. Jannis Panagiotidis von der Universität Osnabrück beschreibt den Begriff der Identität als vielschichtig, dennoch werde er oft nur auf die Nationalität reduziert. Die Berliner Migrationsforscherin Ljudmila Belkin dagegen findet, dass hierbei zu viel über Kultur und Wurzeln und zu wenig über politische Interessen der Gruppen gesprochen werde. Und wie sieht es mit dem Begriff der Beheimatung, also der Heimat, aus? Waldemar Eisenbraun, Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, betont, dass die immer wieder öffentlich aufkommenden Diskurse über angeblich auf gepackten Koffern sitzende Russlanddeutsche ihren Integrationsbemühungen nicht gerecht würden und man ihnen so ihr Recht auf Heimat in Deutschland absprechen würde. Ist Heimat ein Zustand oder ein Ort? Ist die Heimat dort, wo man herkommt oder dort, wo man sich angenommen und gut fühlt? "Heimat" ist ein schwammiger und dennoch notwendiger Begriff in der Diskussion, um das Verhältnis zwischen Identität und Beheimatung zu beschreiben, findet Jannis Panagiotidis. Beide Begriffe sind vielschichtig, beide verändern sich in den Generationen und machen deutlich, wie unterschiedlich ihre Wahrnehmung allein innerhalb einer Familie sein kann.

Bei der Einschätzung der politischen Teilhabe der russischsprachigen Zuwanderer betonte Susanne Worbs vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass die deutsche Staatsangehörigkeit der Russlanddeutschen dafür günstige Voraussetzungen schuf. Dennoch ist der Anteil der Deutschen aus Russland bei politischen Ämtern in Landesparlamenten und im Bundestag zu niedrig geblieben. Eine Erklärung für das geringe politische Engagement können die Erfahrungen der Deutschen aus Russland in der Sowjetunion sein: dass Politische Aktivsein, kann Gefahr für Leib und Leben bedeuten. Es ist aber auch möglich, dass ihnen schlicht das Wissen über das politische System in Deutschland und politische Teilhabe fehlt, meint Waldemar Eisenbraun. "In der ehemaligen Sowjetunion gab es nur einen Kandidaten, bei dem man ein Kreuzchen machen musste. Hier ist die Auswahl größer, und man darf wählen", betont er.

Die gesellschaftliche Teilhabe russischsprachiger Einwanderer dagegen wird erst für die zweite Generation selbstverständlich. Darüber erzählen während des abendlichen Kulturprogramms die Filmregisseurin Anna Hoffmann (mit Ausschnitten aus ihrem Film 'Poka') , die russlanddeutsche Sängerin Helena Goldt (mit ihren Liedern) und der junge Schriftsteller und Journalist Dimitrij Kapitelman, der aus seinem Buch ' Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters' vorlas. Alle drei sind mit ihren Eltern in den neunziger Jahren als Deutsche aus Russland oder jüdische Kontingentflüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen. Die zweite Generation ist auch diejenige, die viele Fragen stellt, die sich bewusst mit ihrer eigenen und der "deutschen" Identität beschäftigt. So auch die Journalistin Merle Hilbk, die erst im Erwachsenenalter ihre russlanddeutschen Wurzeln entdeckt und darüber in einem Workshop spricht. Was die "deutsche" Identität eigentlich sei - diese Frage sorgte für viel Zündstoff in den Diskussionen. .

"Der Elefant im Raum"

Der "Fall Lisa"- die angebliche Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens durch Flüchtlinge, der 2016 Zehntausende russischsprachige Migranten auf flüchtlingsfeindliche Demonstrationen trieb - war der "Elefant im Raum", eine Geschichte, von der man auf der Tagung nicht reden wollte und dennoch immer wieder gesprochen hat. Zumindest wurde dieser Fall ein Türöffner für den politischen Diskurs über die Identität und die politische Teilhabe der Deutschen aus Russland in Deutschland.

Von Veränderungen der deutschen Gesellschaft, einem verstärkten Verlangen nach Zugehörigkeit der Einheimischen und der Eingewanderten spricht Sergey Lagodinsky von der Heinrich-Böll -Stiftung. Dabei werde eine Neudefinition der Begriffe "Nation" und "Heimat" nötig sein, "ein Buh-Wort für einen Grünen" fügt er hinzu. Genauso wichtig sind jedoch auch Pflichten, die die Eingewanderten haben, wie zum Beispiel "Loyalität", gewissermaßen als Bringschuld der Einwanderer. Die aktuelle Situation bei den türkischsprachigen Migranten zieht er dabei als Vergleich hinzu. In einer Diskussionsrunde mit Vertretern der im Bundestag vertretenen Parteien, moderiert vom Präsidenten der Bundeszentrale, Thomas Krüger, betonen Heinrich Zertik und Hartmut Koschyk von der CDU, Petra Pau (Vizepräsidentin des Bundestages und Mitglied der Partei "Die LINKE") und Dmitri Stratievski von der SPD, wie wichtig es ist, die Russlanddeutschen und russischsprachigen Einwanderer in diesem Sinne zu stärken und ihnen den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verdeutlichen.

Bildung als soziales Kapital, Tolerierung des kulturellen Anderen und eigene Bikulturalität, die nach einer Identitätskrise erworben werde, sprechen für eine gute Integration der jugendlichen Spätaussiedler, stellen Tara al Okadi und Anett Schmitz von der Universität Trier in ihren Forschungsarbeiten zu Integration fest. Anett Schmitz spricht dabei von "sitzen nicht zwischen, sondern auf zwei Stühlen".

Jan Plamper von der Goldsmith University of London erklärt sein Verständnis von gelungener Integration anhand eines Salatschüsselmodells, das von nun an die Runde macht: Die Schüssel als Synonym für einen Staat, die Bürger und Bürgerinnen inklusive der Migrantenals einzelne Salatblätter. Durch Förderung der Sprachen und neue Formen von Einbürgerungszeremonien könne bei allen eine neue Kollektividentität entstehen, ähnlich wie bei einem ein Salat.

Die Workshops

Über politische Diskurse in der russischsprachigen Diaspora, Identitäten in der Demokratie, Erinnerungskulturen und Demokratieerfahrungen und zum religiösen Aspekt der Integration wurde in fünf Workshops diskutiert. Hier ging es vor allem um die Gruppe der Deutschen aus Russland und jüdische Kontingentflüchtlinge. In einem Gespräch zwischen Ernst Strohmaier (stellvertretender Vorsitzender der LMdR) und Dmitri Belkin, dem aus der Ukraine stammenden Autor des Buches 'Germanija: Wie ich in Deutschland jüdisch und erwachsen wurde' versuchten beide vorsichtig die Beziehungen zwischen diesen Gruppen auszuloten.

Zwar haben beide Gruppen viele Gemeinsamkeiten, durch Vergleich ihrer Aufnahmebedingungen in Deutschland jedoch haben sie auch viele Vorurteile den anderen gegenüber aufgebaut. Beide Gruppen beschäftigen sich mit ihrer Identität und dem Fehlen der Erinnerungskultur, der Anerkennung des eigenen Leids in der ehemaligen Sowjetunion und mit ihren religiösen Wurzeln. Edgar Born von der Evangelischen Kirche betont, wie wichtig es ist, dass die Religion nicht nur ein stabilisierender Identitätsfaktor ist, sondern auch als eine Antriebsfeder für politisches Handeln gesehen werden soll. Die Menschen sollen, so Born, wenn sie in die neue Gesellschaft kommen, deren historische Narrative verstehen lernen und ein Gefühl dafür bekommen, wie vielfältig, aber auch gebrochen die deutsche Geschichte ist.

Eine Teilnehmerin merkte am Rande eines Workshops an, " so ein offener Austausch in dieser Form hat vermutlich nicht mehr stattgefunden, seit Russlanddeutsche und jüdische Einwanderer Anfang der 1990er Jahre gemeinsam in den deutschen Flüchtlingsheimen untergebracht waren."

"Salatschüsselgesellschaft"

In ihren Abschlussbemerkungen stellten Jannis Panagiotidis und Christoph Müller-Hofstede von der Bundeszentrale für politische Bildung fest, dass es auf der Tagung relativ viel Konsens - aber auch Kontroversen - gegeben habe. So etwa, als Waldemar Eisenbraun, Vorsitzender der Landsmannschaft der Russlanddeutschen, auf Sergey Lagodinskys Vorschlag ablehnend reagierte, die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion sollten sich zusammentun, um sich so mehr Gehör zu verschaffen. Aus Sicht des Forschers, so Panagiotidis, habe man als zugewanderte Gruppe in einem Land prinzipiell zwei Möglichkeiten, sich zu engagieren: als Migranten oder- und das kann nur der zweiten Einwanderergeneration gelingen - eben nicht als Migranten. . Eisenbraun hat sich ganz klar zu letzterem bekannt, weil er (wie viele andere Russlanddeutsche) das Label "Migrant" ablehnt. Panagiotidis verwies dagegen auf den Vergleichsfall Israel. Dort wurden russische Juden auch als Angehörige der staatstragenden Nation aufgenommen. Trotzdem engagieren sie sich zugleich "als Migranten" in "russischen" Parteien. Eine eigene migrantische Plattform und Zugehörigkeit zur Nation schließen sich nicht aus, so Panagiotidis. Viktor Kriegers Aussage auf einem Podium, dass die Russlanddeutschen nicht so sehr "als Deutsche unter Deutschen" leben wollten, sondern als "Gleiche unter Gleichen", bezeichnete er als sehr anschlussfähig für die vorher so intensiv diskutierte "Salatschüsselgesellschaft", denn: wenn alle "anders" sind, dann sind eben auch alle gleich. So entsteht dann ein "neues Wir". Das ist besonders für die zweite Generation relevant, deren Erfahrungen schon ganz andere sind, als die ihrer Eltern und Großeltern.

Fussnoten