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Volatile Bewegungen im Netz - Unvorhergesehene Mobilisierung | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de

Volatile Bewegungen im Netz - Unvorhergesehene Mobilisierung

Anne Wizorek

/ 3 Minuten zu lesen

Clicktivism und Slacktivism sind die Schlagwörter mit denen vor allem Pessimisten versuchen der Euphorie um das partizipative Potential des Web 2.0 einen Dämpfer zu verpassen. Dass der Netzaktivismus aber durchaus die Kraft besitzt eine gesellschaftliche Debatte in Gang zutreten, bewies unlängst die Twitter-Aktion #aufschrei. Über die Vor- und Nachteile eines Twitteraufrufs und die Möglichkeiten und Grenzen des 140-Zeichen Mediums.

#aufschrei-Demonstranten bringen den Hashtag auf die Straße (CC, RagaZZa Brucia) Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de

Soziale Netzwerke basieren auf persönlichen Beziehungen. Dabei spielt es keine Rolle ob diese bereits offline existierten oder erst online entstanden sind. Im Vordergrund steht die Vernetzung mit Gleichgesinnten. Dieser Grundsatz spiegelt sich auch im Beginn von #aufschrei wieder und verweist auf die Schlüsselelemente, die das Potenzial von Social Media ausmachen: Bindungen und das Teilen persönlicher Geschichten.

Im Fall von #aufschrei wurde der Hashtag/die Diskussion zum einen als Ventil benutzt, um über diskriminierende und gewaltvolle Erlebnisse zu sprechen, die gesellschaftlich und damit im medialen Mainstream unsichtbar gemacht werden. Zum anderen war das Teilen dieser intimen Erlebnisse vor allem möglich, weil unter den ersten Twitter_innen persönliche Beziehungen bestanden und diese Identifikation stifteten. Ein Nerv wurde getroffen. Er schuf ein emotionales Echo, das groß genug war, um über diesen Kreis von Online-Bekanntschaften hinaus weiter getragen zu werden und ein breiteres Publikum anzusprechen.

Die Diskussion um das Verhalten des FDP Politikers Rainer Brüderle war zwar nicht der Auslöser von #aufschrei, fungierte aber in den Mainstreammedien als Katalysator dessen, was auf Twitter angestoßen wurde: Die Öffnung zur Debatte über Alltagssexismus. Es bedarf also keiner offiziellen Institution, keinem angestammten Massenmedium, um solch ein Thema in der Breite zu diskutieren. Der dezidierte Austausch und die Bündelung unter einem Hashtag müssen aber auch nicht immer zwingend einer bestimmten Zielführung unterliegen, sondern können lediglich dem Austausch selbst dienen. Denn wie auch bei #aufschrei sehr schön zu sehen war, kann allein das Reden bereits viel bewirken.

Austausch, Solidarität und Netzwerkausbau

Was hat #aufschrei gebracht? Unzählige Menschen hatten zum ersten Mal die Gelegenheit, frei in der Öffentlichkeit über ein tabuisiertes Thema zu diskutieren. Viele Betroffene fühlten sich bereits durch das Wissen gestärkt, mit ihren Erlebnissen nicht alleine zu sein. Sie verstanden, dass es nicht ihre Schuld war, solche Dinge zu erleben. Manche von ihnen erkannten jetzt erst, wie viel sie eigentlich verdrängen. Andere erkannten, dass sie ihr Handeln reflektieren müssen.

Mut ist ansteckend. Es bildete sich nicht nur unter Betroffenen eine solidarische Gemeinschaft. In seiner Gesamtheit mag ein wegen der Ad-Hoc-Kampagne entstandenes Netzwerk nicht standhalten, aber bestehende Netzwerke wurden durch #aufschrei gefestigt und wuchsen weiter. Eine Ad-Hoc-Kampagne kann also Diskussionsräume für Probleme öffnen und eine Gegenöffentlichkeit schaffen. Aber: Auch ein Hashtag ist kein Allheilmittel.

Offenheit als Vor- und Nachteil

Wie bei jedem Medium gibt es auch bei Social Media Nachteile. Die Plattformen sind auf Echtzeitdiskussionen ausgelegt, die sich in unzählige Kommentarstränge zerfasern. Ihre Schnelligkeit erschwert die nachhaltige Abbildung und Kontextualisierung einer Debatte. Besonders Twitter ist mit seiner Begrenzung auf 140 Zeichen zwar eine fantastische Initialzündungsplattform, aber zum tatsächlichen Diskutieren komplexer Sachverhalte kaum geeignet.

Die Offenheit eines Hashtags – prinzipiell kann ihn jede_r in seinem_ihrem Twitterbeitrag verwenden – zieht außerdem nicht nur Menschen an, die ihn in seiner ursprünglichen Intention verwenden. Während #aufschrei im Ursprung für die Erlebnisse von durch Alltagssexismus Betroffene steht, verwenden Andere den Hashtag für Witze, sexistische Herabwürdigungen und misogyne Angriffe. Durch die Offenheit der Plattform ist ein Schutz der Betroffenen nicht möglich.

Der Hashtag als Impulsgeber

Ein Hashtag wie #aufschrei ist also offen für Partizipation und birgt das Potenzial eines mächtigen Impulses in sich, um eine breit angelegte Diskussion zu starten. Dass diese als Debatte auch sichtbar und weiter geführt wird, muss jedoch mit Hilfe zusätzlicher Medienplattformen, z.B. Blogs, geschehen. Breit geführte Debatten über gesellschaftliche Probleme sind schließlich notwendig, um weitreichende Aufklärungsarbeit zu leisten und gesellschaftlichen Wandel zu ermöglichen. Konzeptuell unterscheidet sich eine Ad-Hoc-Kampagne wie #aufschrei von dem, was sonst unter dem Kampagnenbegriff firmiert, da sie aus dem Moment heraus entsteht. Sie lässt sich nicht planen oder in ihrem Erfolg prophezeien, aber es gibt natürlich Faktoren, die förderlich sind, wie z.B. Reichweite der Akteur_innen oder eben ein mediales Begleitereignis.

Auch die Journalistin Kübra Gümüsay nutzte im September 2013, angelehnt an #aufschrei und eine Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung, den Hashtag #schauhin um eine Debatte zu Thema Alltagsrassismus zu initiieren. Seitdem werden darunter Geschichten gesammelt und Erlebnisse geteilt.

Fussnoten

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Anne Wizorek ist Digital Media Consultant, Bloggerin und Speakerin. Sie schrieb unter anderem schon für Spreeblick.com, organisierte die re:publica mit und engagiert sich für Geschlechtergerechtigkeit. Große mediale Aufmerksamkeit erhielt sie durch #aufschrei, eine Twitteraktion gegen Alltagssexismus, die auch mit dem Grimme Online Award 2013 ausgezeichnet wurde.