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Zur Zukunft der Sterbehilfe: Regulierung oder Kultivierung des Sterbens?

Prof. Dr. Klaus Feldmann

/ 3 Minuten zu lesen

Es sollte beim Thema Sterbehilfe nicht zu viel Energie in die Diskussion über Strafgesetze investiert werden, sondern in die Öffnung von Institutionen wie Schulen und Hochschule für neue Formen der Gemeinschaftsbildung, meint Prof. Dr. Klaus Feldmann. Angesichts der derzeitigen Debatte wirft der Soziologe einen Blick in die Zukunft der Sterbehilfe.

Sterben ist nicht nur ein physisches, sondern vor allem auch ein psychisches und soziales Phänomen. Das kommt in der Debatte zu kurz, findet Prof. Klaus Feldmann. (© picture-alliance)

Viele Menschen weltweit sterben frühzeitig, weil ihre Ernährung und gesundheitliche Versorgung höchst mangelhaft sind und weil sie physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt sind. Betrachtet man das globale Durchschnittsalter, die Kindersterblichkeit oder den Anteil der Hungernden an der Weltbevölkerung, so hat sich die Lage in den vergangenen 30 Jahren zwar verbessert. Trotzdem üben Autoren wie Jean Ziegler angesichts der heutigen technischen und sozialen Möglichkeiten zur Verbesserung der globalen Lebensqualität an den global agierenden Konzernen und anderen herrschenden Akteuren harsche Interner Link: Kritik.

Nicht nur im Bereich des physischen Sterbens, sondern auch beim sozialen Sterben, das meist mit der Verkürzung des physischen Lebens verbunden ist, kann man von globalem Notstand sprechen. Wichtige Indikatoren des sozialen Sterbens sind Versklavung, Armut, Arbeitslosigkeit, lebensmindernde Arbeitsbedingungen und Zwangsmigration, etwa durch Vertreibung, Flucht usw..

Soziale Ungleichheit auch beim Sterben

Diese Rahmenüberlegungen werden in den meisten westlichen Sterbedebatten ausgeblendet. Fast ausschließlich ist ihr Augenmerk auf die letzte Phase des medizinisch überwachten physischen Sterbens gerichtet – und betrifft vor allem den wohlhabenden Teil der Gesellschaft. Der medizinische Fortschritt wird in Zukunft weitere Chancen der Lebensverlängerung und Steigerung der Lebensqualität bringen, jedoch gleichzeitig zu einer Verstärkung der sozialen Ungleichheit beitragen, d.h. zu einer Polarisierung zwischen den Personen, die lange und gesund leben und den Personen, die kürzer und krank leben. Entscheidend für eine Steigerung der Anzahl der gesunden Lebensjahre und der Lebenszufriedenheit ist nicht nur der medizinische, sondern vor allem der gesellschaftliche Fortschritt, angeregt durch eine Verbesserung der Sozial-, Arbeits-, Gesundheits-, Innen-, Außen- und Bildungspolitik.

Auf Deutschland und viele andere Staaten trifft die Diagnose der alternden Gesellschaft zu. Diese beschreibt einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel: steigender Anteil alter und sehr alter Menschen, sinkender Anteil junger Menschen (geringe Geburtenrate), Zunahme der Lebenserwartung, Ein- und Auswanderung, Arbeitslosigkeit als Dauerphänomen, Rentenprobleme, steigende Gesundheitskosten, geringes oder kein ökonomisches Wachstum, Umweltprobleme, Zunahme der sozialen Ungleichheit. Die Verteilungskonflikte, die Rationierung der Gesundheitsversorgung, die Generationen- und Gruppenkonflikte, durch Medien erzeugte unrealistische und umweltschädigende Konsum- und Karriereerwartungen, die Zunahme der von Demenz Betroffenen und ökonomische sowie politische Verwerfungen werden eine bedeutsamere Rolle für die Lebens- und Sterbequalität spielen als der Ausbau von Hospiz- und Palliativdiensten.

Eine reine Expertendebatte um einen individuellen Prozess

In den Medien gibt es fast ausschließlich Expertendebatten über Altern und Sterben – z.B. der Sterbehilfe- oder Bioethikkommissionen oder des Deutschen Ethikrats. Nur gelegentlich dürfen Betroffene ihre persönlichen Erfahrungen in die Diskussion einbringen. Alltagsgespräche über Sterben und Tod werden ebenso wie das Erleben des Sterbens kaum erforscht. Die wenigen brauchbaren Forschungsergebnisse werden in den Debatten kaum berücksichtigt.

Sterben, nicht medizinisch sondern erfahrungsorientiert bestimmt, ist ein Prozess, den man als schrittweisen Verlust an Lebenschancen, Teilhabe, Kompetenzen, körperlichen Funktionen, kulturellen und sozialen Handlungsoptionen usw. beschreiben kann. Dieser Prozess verläuft individuell sehr unterschiedlich – sowohl hinsichtlich der tatsächlichen Verluste als auch der psychischen und sozialen Reaktionen auf diese Verluste. Wenn Menschen über diesen Prozess sprechen, kommen nicht unbedingt die Worte "sterben" oder "Tod" vor, sondern es sind Verlust- und Trauerberichte oder deren Verarbeitungen. Eine innovative Verlustpolitik, -pädagogik, -beratung und -wissenschaft fristet in einer Profit- und Leistungsgesellschaft ein Schattendasein.

Vieldimensionale Modelle statt restriktiver Gesetzeslage

Derzeit kann man von der Forschungslage her keine verbindlichen Aussagen über den Zusammenhang zwischen Gesetzeslage, medizinischen Praktiken und Einstellungen der Betroffenen und Ärzten machen. Nicht repräsentative qualitative Forschungsergebnisse deuten allerdings auf folgende Erkenntnis hin: In Staaten mit einer liberalen Sterbehilfegesetzgebung, z.B. in den Niederlanden, sind Diskussionen über Tod und Sterben zwischen den Patienten und dem medizinischen Personal offener, ehrlicher und empathischer als in Staaten, in denen aktive Sterbehilfe und teilweise auch Beihilfe zum Suizid strafrechtlich verfolgt werden. Bei restriktiver Gesetzeslage verstärken sich nicht nur die politischen Kämpfe, sondern auch die Arzt-Patienten-Gespräche und die Diskussionen zwischen Bezugspersonen werden mehr von Misstrauen und Ängsten geprägt.

Um Lebens- und Sterbezufriedenheit zu verbessern, sollten vieldimensionale Modelle der Gemeinschaftsentwicklung und der Verbesserung der Teilhabechancen gefördert und erprobt werden, z.B. die curriculare und organisatorische Verknüpfung zwischen einem Kindergarten, einem Gymnasium und einem Hospizdienst. Doch Politik, Bildung und Recht haben sich diesen Aufgaben einer diversitätsorientierten Kultivierung bisher nur mangelhaft gewidmet.

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