Das Einwanderungsland Deutschland befindet sich in einem Prozess, in welchem Zugehörigkeiten, nationale (kollektive) Identitäten, Partizipation und Chancengerechtigkeit postmigrantisch, also nachdem die Migration erfolgt und nun von Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit als unumgänglich anerkannt worden ist, nachverhandelt und neu justiert werden
(a) der gesellschaftliche Wandel in eine heterogene Grundstruktur politisch anerkannt worden ist ("Deutschland ist ein Einwanderungsland") – ungeachtet der Tatsache, ob diese Transformation positiv oder negativ bewertet wird,
(b) Einwanderung und Auswanderung als Phänomene erkannt werden, die das Land massiv prägen und die diskutiert, reguliert und ausgehandelt, aber nicht rückgängig gemacht werden können,
(c) Strukturen, Institutionen und politische Kulturen nachholend (also postmigrantisch) an die erkannte Migrationsrealität angepasst werden, was mehr Durchlässigkeit und soziale Aufstiege, aber auch Abwehrreaktionen und Verteilungskämpfe zur Folge hat.
Migration ist zum Alltag einer deutschen Gesellschaft geworden, in der jeder dritte Bürger Migrationsgeschichten als familialen Bezugspunkt angibt
Abbildung 1: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter sechs Jahren in ausgewählten Städten 2011 (© bpb)
Abbildung 1: Anteil der Personen mit und ohne Migrationshintergrund unter sechs Jahren in ausgewählten Städten 2011 (© bpb)
Nennen wir sie doch einfach "Neue Deutsche", forderten drei Journalistinnen im Jahr 2012
Allerdings nehmen Eingewanderte und ihre Nachkommen zunehmend für sich in Anspruch, das kollektive Narrativ mitzuprägen. Dementsprechend lautete eine Forderung des ersten Bundekongresses Neuer Deutscher Organisationen Anfang Februar 2015 in Berlin
gerade einmal zehn Prozent der im öffentlichen Dienst Beschäftigten eine Migrationsgeschichte
, geschätzte zwei Prozent der Journalisten
, etwa vier Prozent der Räte deutscher Städte
und neun Prozent der Beschäftigten in Führungspositionen deutscher Stiftungen (in den 30 größten Stiftungen nur drei Prozent)
.
Obwohl ein Drittel der Kinder zwischen fünf und 15 Jahren aus Einwandererfamilien stammen, haben nur ca. sechs Prozent der Lehrer einen Migrationshintergrund
Diese Repräsentationslücken sollten in einer postmigrantischen Gesellschaft behoben werden. Nötig dazu ist auch ein ausgeweiteter Integrationsbegriff, welcher die Repräsentationslücken als Integrationsdefizit der Gesellschaft benennt, an deren Behebung nun gemeinsam gearbeitet werden sollte, wofür strukturelle Veränderungen und Öffnungen notwendig werden. Postmigrantische Gesellschaften sind Aushandlungsgesellschaften. Die etablierten kulturellen, ethnischen, religiösen und nationalen Eliten müssten lernen, dass Positionen, Zugänge, Ressourcen und Normen neu ausgehandelt werden. Alle Seiten sollten sich diesem Aushandlungsprozess öffnen – das heißt auch für die "Etablierten", dass sie sich an diese Aushandlungsgesellschaft gewöhnen und sich in diese postmigrantische Struktur integrieren müssten.
Der etablierte Integrationsbegriff
Seit den 1970er Jahren wurde Integration in der Migrationsforschung vornehmlich als etwas verstanden, das "Ausländer", "Migranten" oder "Menschen mit Migrationshintergrund" und deren Einbindung in die deutsche Gesellschaft betrifft. Auch damit verbundene Begriffe wie Integrationsverweigerung, Integrationsfortschritte oder Integrationswille sind vor allem an die Vorstellung gekoppelt, es gäbe eine etablierte Kerngesellschaft oder Aufnahmegesellschaft, die Menschen mit Migrationsbiographie einseitig motiviert, sich in sie zu integrieren
Dieser Text ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: "Die Einheit der Verschiedenen: Integration in der postmigrantischen Gesellschaft".