Der Syrer Ibrahim Ghazal aus Damaskus schnitzt am 19.07.2017 in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) am Pavillon der Fachhochschule Salzburg eine Steele mit Gesichtern. Die Gesichtsausdrücke sind die flüchtender Menschen, die er auf seinem Weg nach Europa getroffen hatte. (© picture-alliance/dpa, Zentralbild)
Der Syrer Ibrahim Ghazal aus Damaskus schnitzt am 19.07.2017 in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) am Pavillon der Fachhochschule Salzburg eine Steele mit Gesichtern. Die Gesichtsausdrücke sind die flüchtender Menschen, die er auf seinem Weg nach Europa getroffen hatte. (© picture-alliance/dpa, Zentralbild)
Im aktuellen Diskurs fällt der Begriff "Diaspora" durch seine vielfache Verwendung für sehr verschiedenartige Minderheitengruppen und damit vor allem durch seine Unschärfe auf. Bis in die 1960er Jahre hin beschreibt das aus dem Griechischen stammende Wort (διασπορά, in etwa: Verstreutheit) ausschließlich die leidvollen Vertreibungen und die weltweite, unfreiwillige Neuansiedlung von Menschen jüdischen Glaubens.
In den vergangenen sechs Jahrzehnten wurde insbesondere im Rahmen angelsächsischer Migrationsforschung der Begriff "Diaspora" sowohl von Seiten der Forschung als auch betroffener Gruppen geöffnet. Zunächst wurde der Begriff auf die Interner Link: Armenier mit ihrer Erfahrung von Massenmord und Vertreibung ausgeweitet. Etwas später ging man dazu über, auch die Nachkommen der afrikanischen Interner Link: Sklaven auf den amerikanischen Kontinenten als Diaspora zu bezeichnen. Darauf folgte die Genese der "irischen Diaspora", die durch die sogenannte Große Hungersnot 1847 und die damit verbundene Auswanderung aus Irland entstanden ist. Als verbindendes Element dieser Gruppen gilt die Vertreibung aufgrund eines traumatischen Ereignisses aus den jeweiligen Heimatländern an unterschiedliche Orte.
Das Kriterium des empfundenen Heimatlandverlustes aufgrund einer traumatischen und leidvollen Erfahrung als ausschlaggebendes Element für die Einordnung von Migrantengruppen als "Diaspora" hat an Bedeutung verloren. Vielmehr wird heute der Begriff "Diaspora" sowohl in der öffentlichen Debatte als auch in wissenschaftlichen Abhandlungen als Synonym für nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten verwendet und eine Vielzahl verschiedener Gruppen unter dem Begriff subsummiert. So findet man neben der Bezeichnung der o.g. Gruppen als Diasporen auch beispielsweise die Interner Link: vietnamesische oder die Interner Link: kurdische Diaspora. Diasporagruppen werden nun durch eine Verbindung zu einem (teilweise imaginierten) Heimatland beschrieben.
In Deutschland gibt es eine Vielzahl verschiedener Gruppen, die das Label "Diaspora" tragen, sei es durch Fremd- oder durch Selbstzuschreibung. Der folgende Beitrag wird exemplarisch vier Gruppen vorstellen, die entlang der skizzierten Entwicklung des Diasporabegriffs beschrieben werden. Dabei wird auf Gruppenmerkmale, Sichtbarkeit und (politisches) Handeln der jeweiligen Gruppe, auch im Kontext deutscher Außen- und Innenpolitik, eingegangen.
Die jüdische Diaspora
Die jüdische Diaspora gilt als die klassische Diaspora. Die Vertreibung von Menschen jüdischen Glaubens wird mit der Zerstörung des salomonischen Tempels 586 v. Chr. historisch verbunden, was zu einer weltweit zerstreuten Neuansiedlung geführt habe.
Jüdisches Leben in Deutschland war vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs immer wieder durch Unterdrückung und Vertreibung gekennzeichnet. Trotzdem strebte in Deutschland in dieser Zeit trotz wachsendem Antisemitismus zunächst nur eine Minderheit die Auswanderung nach Palästina an, während die große Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden vom Selbstverständnis nach deutsch war und zumindest politisch nicht als Diaspora agierte. Mit der Interner Link: brutalen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Gemeinschaft nach der Machtübernahme Hitlers veränderte sich das Selbstverständnis der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden hin zu dem Wunsch, einen sogenannten "Judenstaat" zu gründen und trug erheblich zur Staatsgründung Israels 1948 bei.
Kurz vor Beginn der staatlichen Verfolgung von Jüdinnen und Juden während des Interner Link: ›Dritten Reichs‹ wird der Umfang der jüdischen Bevölkerung in Deutschland auf circa 500.000 Personen geschätzt, was etwa 0,8 Prozent der deutschen Bevölkerung
Die kurdische Diaspora, eine Diaspora-Gruppe ohne Staat
Wie viele andere Diaspora-Gruppen zeichnen sich KurdInnen durch eine große Heterogenität in Bezug auf ihre gelebte Religion, Identität, politische Aktivität und Autonomie aus. Allerdings verfügen KurdInnen über kein eigenes Staatsgebiet, sondern leben oder stammen aus dem Interner Link: Grenzgebiet der Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien, wo vornehmlich Variationen des Kurdischen
Viele KurdInnen aus der Türkei wanderten im Rahmen der Anwerbung von Arbeitskräften in den 1960er Jahren nach Deutschland ein.
Die heutige Interner Link: kurdische Diaspora in Deutschland ist insbesondere vor dem Hintergrund der Konflikte in der Türkei zu verstehen: Als Folge des ausgeprägten türkischen Nationalismus unter Kemal Atatürk wurde die kurdische Kultur in der Türkei unterdrückt, etwa indem die Nutzung der kurdischen Sprache oder das Singen kurdischer Lieder in der Öffentlichkeit verboten wurde.
KurdInnen gelten weltweit als das größte "Volk" ohne eigenes Staatsgebiet.
Die ghanaische Diaspora als Beispiel für afrikanische Diaspora-Gruppen
Mit der Nutzung des Begriffs Diaspora für politisch gut organisierte nationale Minderheitengruppen, die transnational agieren, erfolgt eine weitere Öffnung des Begriffs im öffentlichen Diskurs. Darunter fallen in Deutschland etwa verschiedene afrikanische Gruppen. Es wird exemplarisch die ghanaische Diaspora betrachtet, die bereits seit mehreren Jahren in Deutschland aktiv ist und zu den etablierten Diasporagruppen gezählt wird.
Unter allen in Deutschland lebenden AusländerInnen stellten EinwanderInnen aus Afrika 2016 mit fünf Prozent (etwa 500.000 Personen) eine Minderheit dar. Auf Basis des Mikrozensus, der zusätzlich Eingebürgerte und deren Nachkommen in die Schätzung mit einbezieht, leben etwa 750.000 Personen mit einem afrikanischen Migrationshintergrund in Deutschland, davon stammen vermutlich 6,4 Prozent aus Ghana.
Trotz ihrer zahlenmäßig geringen Größe wird die ghanaische Diaspora in Deutschland als besonders bedeutsam angesehen.
Neue Diasporagruppen in Deutschland, das Beispiel syrischer EinwanderInnen
Inzwischen etablieren sich in Deutschland neue Gruppen als Diaspora, allen voran Menschen, die seit 2015 nach Deutschland geflüchtet sind und hier Asyl suchen. Die größte Gruppe bilden dabei SyrerInnen. Seit 2007 haben in Deutschland 488.685 Personen aus Syrien politisches Asyl in Deutschland beantragt, 86 Prozent davon alleine in den Jahren Interner Link: 2015 und Interner Link: 2016
Wann gilt eine Gruppe als Diaspora?
Anhand der gewählten Beispiele wird deutlich, dass sich das Verständnis, welche Minderheitengruppen als Diaspora verstanden wird, seit den 1960er Jahren geweitet hat. Diasporagruppen werden demnach nicht mehr zwingendermaßen durch den leidvollen Verlust der Heimat beschrieben. Das wichtigste verbindende Element, das auf alle hier vorgestellten Gruppen zutrifft, ist hingegen der Bezug auf eine gemeinsame Nation. Durch den Bezug auf eine andere Heimat agieren Diasporagruppen im Spannungsfeld zwischen Aufnahme- und Herkunftsland bzw. -region.
Im Vergleich der kurdischen gegenüber der ghanaischen Diaspora wird deutlich, welche Rolle die außenpolitische Ausrichtung Deutschlands spielt. Im Falle der kurdischen Diaspora ist eine konkrete Entsprechung in einem Staat bislang nicht gegeben, obwohl im Irak wie auch in Syrien autonome kurdische Gebiete bestehen. Da die Türkei als Bündnispartner Deutschlands gilt, wird von Seiten des deutschen Staates die kurdische Bewegung nicht unterstützt. Dies zeigt sich etwa in zwei Kleinen Anfragen der linken Abgeordneten Ulla Jelpke, die eine stärkere Unterstützung von in Deutschland lebenden KurdInnen befürwortet. Aus der Antwort der Bundesregierung geht hervor, dass eine stärkere Förderung der kurdischen Community in Deutschland weder stattfindet, noch geplant ist.
Diaspora wird damit im öffentlichen Diskurs als Begriff mit einer politischen Botschaft verwendet. Die Selbstbezeichnung einer Minderheitengruppe als Diaspora weist auf ein eigenes nationales Gruppenverständnis hin. Gleichzeitig werden Gruppen von außen als Diaspora bezeichnet, wenn der Gruppe diese politischen Ausrichtung auch zugestanden wird. Beide Aspekte wirken sich auf den politischen Handlungsspielraum der Diasporagruppe aus.