Die Heterogenität der vietnamesischen Diaspora in Deutschland und ihre transnationalen Bezüge
Ann-Julia Schaland Antonie Schmiz
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Die vietnamesische Diaspora in Deutschland ist durch eine Vielzahl von Einwanderungsmotiven und -wegen geprägt. Es besteht eine hohe transnationale Mobilität und Kontaktdichte zwischen Deutschland und Vietnam. Auffällig ist dabei das rege Engagement in formellen wie informellen Vereinen mit transnationalem Bezug.
Strukturierend für die vietnamesische Diaspora ist bis heute die ehemalige innerdeutsche sowie innervietnamesische Teilung in verschiedene wirtschaftliche und politische Systeme. So kamen im Rahmen der Interner Link: Aktion "Solidarität hilft siegen" vietnamesische Studierende, Schüler_innen, Auszubildende und Praktikant_innen seit den 1950er Jahren in die Interner Link: Deutsche Demokratische Republik (DDR). Während die Mehrheit dieser Gruppe nach der Ausbildungszeit nach Vietnam zurückkehrte, verließen viele der Studierenden, die nach Westdeutschland gekommen waren, Europa nicht wieder. Sie waren seit den 1960er Jahren gekommen, stammten primär aus privilegierten sozialen Schichten und kehrten infolge der schwierigen Umstände nach Ende des Vietnamkrieges (1975) nicht zurück.
Die überwiegende Anzahl der Vietnamesinnen und Vietnamesen in der Interner Link: Bundesrepublik Deutschland (BRD) wanderte als Schutzsuchende nach 1975 ein. Politische Repressionen, Umgestaltungen des Bildungs- und Wirtschaftssystems sowie massive wirtschaftliche Not – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Kriegsfolgen – führten dazu, dass Menschen aus Vietnam auf Booten versuchten, das Land zu verlassen. Insgesamt wurden ca. 40.000 sogenannte Interner Link: Boatpeople in der BRD als Kontingentflüchtlinge aufgenommen, worauf ab 1979 die Familienzusammenführung folgte. Die Boatpeople erhielten Sprachförderung, berufliche Aus- und Weiterbildungen bzw. Umschulungen und BAföG sowie soziale Betreuung und Beratung in der BRD. Die berufliche und soziale Integration in die westdeutsche Gesellschaft verlief positiv. Dabei ist zu beachten, dass die Boatpeople als politische Flüchtlinge nicht mit einer Rückkehr nach Vietnam rechnen konnten.
Bei der größten Gruppe von Vietnamesinnen und Vietnamesen in der DDR handelt es sich um die Werkvertragsarbeiter_innen, kurz als Interner Link: Vertragsarbeiter_innen bezeichnet, die seit 1980 seitens der DDR rekrutiert wurden. Die zentrale Motivation für die Arbeitsmigration war die Sicherung des Lebensunterhaltes der Großfamilie in Vietnam durch das regelmäßige Versenden von Waren und Geld. Obwohl es sich vorgeblich um ein Qualifikationsprogramm im Rotationsprinzip handelte und Vietnam sich davon einen zeitnahen Interner Link: "Brain Gain" erhoffte, kehrte nur ein geringer Teil der Vertragsarbeiter_innen mit zusätzlichen Qualifikationen nach Vietnam zurück. Insgesamt remigrierte circa die Hälfte (34.000) der insgesamt 70.000 angeworben Vertragsarbeiter_innen. Die in Deutschland Gebliebenen verloren nach der Wiedervereinigung ihre Beschäftigung, hatten einen ungeklärten Aufenthaltsstatus und ihre Wohnheime wurden geschlossen. Außerdem standen sie in Konkurrenz zur einheimischen Bevölkerung auf dem angespannten Arbeitsmarkt und die Ausländerfeindlichkeit nahm zu, wie die Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 zeigten. Diese denkbar ungünstigen Rahmenbedingungen förderten die Vereinsbildung als Interner Link: Migrantenselbstorganisation (MO).
Zuwanderung seit 1990 bis heute
Mit der Zusammenführung der bundesdeutschen Statistik im Zuge der Wiedervereinigung verdoppelte sich die Zahl der vietnamesischen Staatsangehörigen von 46.000 auf 97.000. Seit 1990 wanderten Menschen aus Vietnam primär im Zuge der Familienzusammenführung sowie im Rahmen von Interner Link: Asylverfahren ein. Von 1998 bis 2009 stand Vietnam auf der Liste der zehn Staaten mit den höchsten Zahlen von Asylanträgen. Die Externer Link: Bewilligungsquoten waren jedoch sehr gering. Am Externer Link: 31.12.2015 lebten in Deutschland 87.214 Personen mit vietnamesischer Staatsangehörigkeit. Zusätzlich leben etwa genauso viele deutsche Staatsangehörige mit vietnamesischen Wurzeln in Deutschland, sodass insgesamt Externer Link: 176.000 Personen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland zu verzeichnen sind. Davon gehört die Mehrheit (104.000 Personen) der ersten Generation an und verfügt somit über eigene Migrationserfahrung.
Die aktuelle Wanderungsstatistik zwischen Deutschland und Vietnam weist für das Jahr 2015 einen positiven Saldo von 1.591 Personen auf. Mehrheitlich wandern Personen im Rahmen der Familienzusammenführung und zum Zweck einer Ausbildung ein. Im Jahr Externer Link: 2012 waren allein 2.598 Bildungsausländer, die ihren Hochschulabschluss in Vietnam erworben haben, an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Damit gehört Vietnam zu den 20 wichtigsten Herkunftsländern von Bildungsausländer_innen in Deutschland – wenn auch auf dem vorletzten Rang. Auffällig ist auch die Zunahme von vietnamesischen Doktorand_innen, die aus vietnamesischen Ministerien und Behörden mit einem Regierungsstipendium für eine Dissertation temporär nach Deutschland kommen.
Insgesamt wandern Externer Link: mehr Frauen (+2.273) als Männer (+1.451) ein (Stand 2014), was auf Familienzusammenführungen (v.a. Eheschließungen) und die Migrationsstrategie zurückgeführt werden kann, über Vaterschaftsanerkennungen einen legalen Aufenthaltsstatus zu erhalten. Ein geringfügig negativer Wanderungssaldo liegt für die Altersgruppen der über 50-Jährigen vor. Im Ruhestand kehren viele Vietnamesinnen und Vietnamesen in ihr Herkunftsland zurück (Ruhestandsmigration). Die Heterogenität der vietnamesischen Diaspora zeigt sich anhand der unterschiedlichen Aufenthaltstitel: Der größte Anteil (51 Prozent) verfügt über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis (44.370 Personen). Des Weiteren befinden sich 25.026 Personen mit regulären, jedoch zeitlich befristeten Aufenthaltstiteln in Deutschland (29 Prozent). Die Externer Link: restlichen 20 Prozent haben u. a. einen Antrag auf einen Aufenthaltstitel gestellt (2.924), werden Interner Link: geduldet (1.312) oder besitzen eine Interner Link: EU-Freizügigkeitsbescheinigung (347). Die vietnamesischen Staatsangehörigen verteilen sich ungleich über das Bundesgebiet. Konzentrationen gibt es in Berlin und Bayern (vgl. Abb.).
Migrantenselbstorganisationen und ihr transnationales Engagement
Vietnamesinnen und Vietnamesen engagieren sich rege in formellen und informellen Netzwerken. Deutschlandweit existieren circa 130 eingetragene Vereine mit Vietnambezug. Allein in Berlin und Brandenburg gibt es mehr als 20 Vereine. Auffallend ist ein deutliches Ost-West-Gefälle: So sind 90 Prozent der eingetragenen Vereine in den alten Bundesländern (ohne Berlin) verortet, die von der ersten Studierendengeneration oder der "Boatpeople-Community" gegründet wurden. Die gemeinsamen Erfahrungen der Flucht und das Zurücklassen der "Heimat" haben die Vernetzungen untereinander stark gefördert. Gerade diese Vereine, deren Mitglieder häufig beruflich und sozial sehr gut integriert sind, zeigen, dass Integration und transnationales Engagement nicht im Wiederspruch zueinander stehen. Die Ziele und Themenfelder der Vereine sind divers und verändern sich mit den Bedarfen der Diaspora. Das Engagement entwickelte sich bei vielen Vereinen von transnationalen humanitären Leistungen hin zu Kulturaustausch, Bildung und Erziehung. Beim Kulturaustausch stehen die vietnamesische Sprache, traditioneller Tanz, Kampfsport und Musik im Zentrum.
In Westdeutschland ist auch die Mehrheit der religiösen (v.a. buddhistischen und christlichen) Vereine anzutreffen. Zusätzlich erfüllen sie die Funktion von Sozial- und Kulturzentren, wo einerseits vietnamesische Traditionen erhalten und andererseits Hilfen zur Integration geleistet werden und Jugendarbeit stattfindet. Die Mehrheit der Kultur- und Sozialvereine engagiert sich transnational und sammelt Spenden für Projekte in Vietnam, die teils über die Migrantenselbstorganisationen, teils aber auch über die vietnamesische Botschaft transferiert werden.
Des Weiteren bestehen politische Vereinigungen, die sich explizit für einen politischen Wandel in Vietnam aussprechen und länderübergreifend untereinander als "Politik-Think-Tank" vernetzt sind. Sie informieren mit Hilfe von Büchern, Zeitschriften und Online-Magazinen über die aktuelle Situation in Vietnam, wie z. B. die Menschenrechtslage.
In Ostdeutschland wurde das Vereinsgründungsgeschehen primär von Vertragsarbeiter_innen angestoßen. Ausgelöst durch die ungeklärte aufenthaltsrechtliche Situation und zunehmende Ausländerfeindlichkeit sind mehrere deutsch-vietnamesische Initiativen entstanden, die sich für die Belange der ehemaligen Vertragsarbeiter_innen einsetzen. Bis heute konzentrieren sich diese Vereine auf diverse Integrationshilfen (z.B. Gesundheits-, Familien- und Bildungsberatung). Außerdem bieten sie Sprach- und Integrationshilfen für Neuzuwanderer an und werden häufig vom Bund oder von Kommunen gefördert. Auch "Heimatvereine", die nicht als offizielle Vereine eingetragen sind und häufig über enge, transnationale Kontakte zu den jeweiligen Lokalregierungen in Vietnam verfügen, spielen v.a. in der "Vertragsarbeiter_innen-Community" eine große Rolle. Zugewanderte aus der jeweiligen Stadt oder Provinz treffen sich ein- bis zweimal im Jahr zu besonderen Anlässen, wie z.B. dem Neujahrsfest. Auffällig ist, dass sie zu bestimmten Anlässen (z.B. Spendenaufrufe bei Flutkatastrophen in Vietnam) viele Mitglieder mit hoher Spendenbereitschaft mobilisieren können.
Auf Initiative der vietnamesischen Botschaft wurde ein "Bundesverband der Vietnamesen in Deutschland e.V. (BVD)" gegründet. Aufgrund der Heterogenität der vietnamesischen Diaspora fungiert er nicht als ihr Sprachrohr, sondern wird von vielen Vereinen kritisch gesehen.
Migration und Entwicklung – ein Fazit
Eine besondere Rolle für die Mobilisierung ökonomischer, sozialer und politischer Entwicklungen im Globalen Süden nehmen transnationale Netzwerke der Diaspora im Zielland und im Herkunftsland ein. Besonderes Augenmerk gilt den formellen und informellen Migrantenselbstorganisationen, die sich im Zielland formieren. Diese sind nicht nur für die Gestaltung der Integrationspolitik im Aufnahmeland relevant, sondern engagieren sich für entwicklungspolitisch relevante Projekte im Herkunftsland.
Diese Trends spiegeln sich auch in der vietnamesischen Diaspora wider. Bis zur außenpolitischen Öffnung Vietnams durften viele Auslandsvietnamesinnen und -vietnamesen nicht nach Vietnam einreisen. Dies betraf vor allem die ehemaligen Boatpeople. Unabhängig der Abwanderungsmotive hat die Interner Link: Sozialistische Republik Vietnam heute die Bedeutung der Auslandsvietnamesinnen und -vietnamesen für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erkannt. Hier stehen nicht nur die Zahlungen von Interner Link: Remittances (2011: acht Externer Link: Mrd. US-Dollar bzw. sechs Prozent des BIP) im Fokus, sondern auch die Wissens- und Technologietransfers sowie Direktinvestitionen, die von zurückkehrenden Vietnamesinnen und Vietnamesen getätigt werden. Diese kehren zum Teil temporär nach Vietnam zurück, wie Einzelinitiativen von Mediziner_innen zeigen, die während ihrer Freizeit in Vietnam Kinder operieren oder als Gastdozent_innen ehrenamtlich lehren. Dies führt dazu, dass die vietnamesische Diaspora nicht nur wichtiges soziales und kulturelles Bindeglied ist, sondern zunehmend in die deutsche staatliche Entwicklungszusammenarbeit eingebunden wird.
Der Beitrag basiert auf der 2015 erschienenen Fachexpertise Externer Link: "Die vietnamesische Diaspora in Deutschland" von Dr. Ann-Julia Schaland und Dr. Antonie Schmiz, die im Auftrag der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit verfasst wurde.
Dr. Ann-Julia Schaland forscht seit zehn Jahren u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) und der Universität Hamburg zu Themen der geographischen Migrationsforschung (v.a. Migrant Entrepreneurship sowie Migration und Entwicklung).
Dr. Antonie Schmiz ist als Juniorprofessorin für Geographische Migrationsforschung am Institut für Geographie der Universität Osnabrück tätig. Sie ist Mitglied des dortigen Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) und arbeitet zum Nexus von Stadt- und Migrationsforschung.