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"Es geht um differenzierte Bilder." – Ein Gespräch über Paradise Left Behind | "Paradise Left Behind" – Begleitmaterial zum Film | bpb.de

"Paradise Left Behind" – Begleitmaterial zum Film "Es geht um differenzierte Bilder." – Ein Gespräch über Paradise Left Behind Die ägäischen Inseln: von Räumen des Transits zu Räumen der Immobilisierung 'Schengen', 'Dublin' und die Ambivalenzen der EU-Migrationspolitik. Eine kurze Geschichte Paradise Left Behind

"Es geht um differenzierte Bilder." – Ein Gespräch über Paradise Left Behind

/ 13 Minuten zu lesen

Wie ist die Idee zum Dokumentarfilm Paradise Left Behind entstanden? Welche Herausforderungen gab es im Produktionsprozess? Was will der Film erreichen? Ein Gespräch mit Produzent Gerrit Gronau und Regisseurin Eva Neidlinger.

Regisseurin Eva Neidlinger und Tonmeister Daniel Scheer beim Dreh im "Dschungel", einem provisorischen Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos. (© Robert Schulzmann, 2020)

Wie ist die Idee zum Dokumentarfilm Interner Link: Paradise Left Behind entstanden?

Neidlinger: Die Interner Link: Situation auf Samos beschäftigt mich schon seit 2016. Mit einer befreundeten Journalistin, Ann Esswein, war ich damals bereits auf der Insel, um die ersten Auswirkungen des Interner Link: EU-Türkei-Deals zu dokumentieren. Wir fragten uns, wie sich die Lage nun wohl während der Corona-Pandemie für die Menschen dort entwickelt. Berichte dazu gab es zu der Zeit kaum, nur über Hilfsorganisationen wussten wir, dass sich die Situation täglich verschlimmert. Wir beschlossen also, wieder nach Samos zu fahren. So ist auch die Idee entstanden, einen Dokumentarfilm zu drehen. Ich habe davon Produzent Gerrit Gronau, Kameramann Robert Schulzmann und Tonmeister Daniel Scheer erzählt und alle drei waren sofort bereit, mitzuwirken.

Gronau: Meine Aufgabe als Produzent war es dann zu überlegen, wie wir den Film realisieren können, also vor allem, woher wir die Gelder für die Reisen und Recherchen bekommen. Ursprünglich wollten wir den Film im Rahmen unseres Studiums an der Filmuniversität Babelsberg als Dokumentarfilm-Projekt machen. Aber mitten in der Corona-Krise gab es sehr strenge Corona-Regeln, die es uns nicht erlaubt haben, außerhalb von Deutschland zu drehen. Daher mussten wir uns nach alternativen Möglichkeiten umschauen, um den Film realisieren zu können. Mit dem Konzept von Eva und Robert haben wir an die Türen von Fernsehsendern, Redakteuren und Filmverleihen geklopft. In den Gesprächen wurde uns gesagt, dass das Thema nicht aktuell sei. Der Fokus auf Corona zwar schon, aber nicht die Flüchtlings- und Migrationskrise. Wir haben uns daher entschieden, über Crowdfunding Geld zu sammeln.

Neidlinger: Unser Budget war zwar nicht sehr groß, aber das Crowdfunding hat es uns dennoch ermöglicht, den Film zu realisieren. Das Team und Freunde haben uns mit technischem Equipment unterstützt. Ich war dann zunächst eine Woche ohne das Filmteam zur Vorbereitung auf Samos. Ann hat mich als Rechercheurin begleitet und über die Entwicklungen auf Samos Externer Link: einen Artikel für den Fluter geschrieben. Wir kannten durch unseren Aufenthalt auf Samos 2016 noch ein paar Leute vor Ort, aber mir war auch wichtig, mich nochmal ganz neu auf die Atmosphäre und die Situation dort einlassen zu können. Ich habe mich auf den zentralen Platz gesetzt und einfach nur beobachtet. Wir sind in der Form des Films auch sehr beobachtend geworden und sind nicht von einem Interview zum nächsten gehetzt. Auf mich hat der krasse Kontrast Eindruck gemacht, einerseits auf einer paradiesischen Insel zu sein, auf der die Leute Urlaub machen, andererseits aber die leeren Hotels zu sehen, weil die Touristinnen und Touristen nicht mehr kommen: wegen Corona, aber auch, weil die Insel durch die Medienberichterstattung eng mit der Flüchtlingsthematik verbunden ist. Das Ganze wollte ich auf mich wirken lassen, bevor wir anfangen, eine Geschichte zu erzählen. Ich habe mir dann ein Konzept und eine Struktur überlegt, die ich mit unserem Bildgestalter Robert und unserem Tonmeister Daniel geteilt habe, als sie nach Samos gekommen sind. Auch sie haben die Insel erst einmal einen Tag auf sich wirken lassen. Über die Eindrücke haben wir dann diskutiert und überlegt, was wir zeigen wollen. Am nächsten Tag haben wir mit dem Drehen begonnen. Tagsüber haben wir uns die Leute und die Orte, die wir porträtieren wollten, gesucht und gedreht; abends haben wir gemeinsam das Material angeschaut und den Tag reflektiert. Wir haben dabei auch darüber geredet, was uns emotional bewegt hat. Die Eindrücke, die einen auf Samos erreichen, sind zum Teil schwer zu verarbeiten.

Produzent/-in und Regisseur/-in

Was macht ein Produzent, Herr Gronau? Und was macht eine Regisseurin, Frau Neidlinger?

Gronau: Ein Produzent bzw. eine Produzentin ist die Person, die sich um die Organisation kümmert, also um die Finanzen, den rechtlichen Rahmen und die Frage, wie der Film realisiert werden kann. Produzent/-innen sind also eine Art Management für das Filmteam. Sie sind auch für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich und für die Logistik beim Dreh, also zum Beispiel die Organisation des Transports des Filmteams von A nach B. Sie kümmern sich zudem darum, den Film auf einer Plattform unterzubringen, die passend erscheint. Manche Filme gehören ins Kino, einige sind in den sozialen Medien gut aufgehoben. Hier geht es also auch darum, Verständnis dafür zu haben, welches Publikum erreicht werden soll und wie dieses erreicht werden kann. Produzent/-innen unterstützen im Hintergrund.

Neidlinger: Als Regisseur/-in ist man die künstlerische Leitung, die das Konzept in enger Rücksprache mit dem Team entwickelt und entscheidet, was wie erzählt wird. Die Regie begleitet und gestaltet den Film von Anfang bis Ende.

Wie sind Sie an die Gesprächspartner/-innen gekommen?

Neidlinger: Die NGOs vor Ort waren eine große Hilfe. Ich hatte einige von ihnen bereits 2016 kennengelernt. Die Insel ist sehr klein. Die Hilfsorganisationen kennen sich untereinander. Erst einmal ging es aber darum, Vertrauen zu schaffen. Denn es sind viele Medienschaffende auf der Insel, die krasse Bilder wollen, sofort im Flüchtlingscamp drehen und nicht darauf achten, dass die Leute geschützt werden, die sie zeigen. Es schwappt einem zu Recht erst einmal große Skepsis entgegen. Daher war es gut, zunächst ohne Kamera dort zu sein, die Leute kennenzulernen, ihnen das Projekt vorzustellen und auch Lösungen zu finden für Menschen, die negative Konsequenzen fürchten müssen, wenn sie bildlich gezeigt werden. Wir haben hier einen guten Weg gefunden, indem wir entsprechende Interviews im Off auf die Bilder gelegt haben.

Im Film kommen viele Sprachen vor. Haben Sie mit Dolmetscher/-innen gearbeitet?

Neidlinger: Ja, es war mir sehr wichtig, die Gespräche synchron zu dolmetschen, um immer genau zu wissen, was gerade erzählt wird, und gleichzeitig die Möglichkeit zu haben, mich auf die nonverbale Kommunikation der Gesprächspartner/-innen konzentrieren zu können.

Wie lange hat der Dreh gedauert?

Neidlinger: Wir haben insgesamt zehn Tage gedreht.

Gronau: Zehn Tage Dreh sind relativ wenig. Mit mehr Budget wäre Eva bestimmt einen Monat lang zur Recherche auf Samos gewesen und der Dreh hätte auch mindestens doppelt so lange gedauert. Am Ende des Drehs hatten wir dennoch 30 Stunden Bild- und Tonmaterial. Die große Aufgabe für Eva und unsere beiden Editoren Armano Forster und Louis Huwald war es dann, das Material zu sichten und zu schauen, welche Bilder und Tonaufnahmen wir verwenden können und wie.

Wie sind Sie in der Postproduktion vorgegangen?

Neidlinger: Wir haben uns im Schnittraum wiederum neu auf das Material eingelassen und geschaut, ob die Ansätze und Ideen, die wir hatten, in der Montage auch funktionieren, zum Beispiel mit Blick auf die langen Einstellungen und Totalen, die die Szenerie zeigen. Beim Schnitt fallen häufig auch Facetten in den Interviews auf, die einem beim Dreh nicht auffallen, weil so viel drum herum passiert. Es fallen einem sehr subtile Emotionen auf, die man beim Führen des Interviews nicht mitbekommen hat. Die damals noch unbefangenen Augen und Ohren von Armano und Louis waren hier eine große Bereicherung. Das Schöne am Dokumentarfilm ist, dass man sich gemeinsam mit dem Team sehr intensiv mit dem Material auseinandersetzen kann. Es ist keine schnelle Produktion.

Gronau: Unsere Editoren haben pro Kopf etwa 200 Stunden an der Montage gearbeitet und Eva sicherlich 400 Stunden, weil sie meistens im Schnitt dabei war und sich darüber hinaus noch intensiver mit den einzelnen Interviews beschäftigt hat.

Wie lange hat es insgesamt gedauert, den Film fertigzustellen – von der Idee, über das Crowdfunding, den Dreh, die Montage bis zur Premiere?

Gronau: Es hat alles in allem etwa ein Dreivierteljahr gedauert. Die ursprüngliche Idee hatten wir im Frühjahr 2020. Der Dreh war im Spätsommer und im Dezember war der Film fertig. Wir haben dann sowohl eine Zoom-Premiere mit unseren Protagonistinnen und Protagonisten als auch mit den Menschen gemacht, die die Produktion durch Spenden ermöglicht haben. Danach haben wir dann wieder an Türen geklopft, um den Film zu platzieren.

Was waren die größten Herausforderungen im Produktionsprozess?

Gronau: Den Film überhaupt machen zu können, also von der Idee auf dem Blatt Papier zum Dreh zu kommen, war schon eine große Hürde. Es war nicht leicht, die Mittel zu generieren für Ausrüstung, Reisen, Übernachtungen vor Ort usw. Es ist das erste Projekt, das Eva und ich selbst organisiert haben, ohne die Unterstützung der Uni oder einer Produktionsfirma im Rücken zu haben. Wir mussten auch die Hürde nehmen, erst einmal diese Wand aus Desinteresse an dem Thema zu überwinden. Und auch als der Film fertig war, war es eine Herausforderung, diesen so zu platzieren, dass er gezeigt wird und nicht in der Versenkung verschwindet. Wir wollten den Film auf einer reichweitenstarken Plattform mit einem bildungspolitischen Anspruch unterbringen, die den Film frei für alle zur Verfügung stellt, nicht nur für Leute, die ein Abo haben. Daher sind wir sehr froh, dass der Film letztendlich in der Mediathek der bpb gelandet ist. Aber dahin zu kommen, war ein langer Weg.

Neidlinger: Eine der größten Herausforderungen auf Samos war es, an die Menschen heranzukommen und mit der nötigen Sensibilität auf sie zuzugehen. Um diese zu gewährleisten, haben wir uns mit den NGOs zusammengesetzt und mit den Protagonistinnen und Protagonisten ein Vorgespräch geführt, bevor wir sie interviewt haben. Einen respektvollen Umgang und Rahmen zu schaffen, war uns wichtig. Eine konkrete Herausforderung war auch der Zugang zum Camp. Im Camp selbst herrscht eine erhebliche Einschränkung der Pressefreiheit. Wir hatten zwar unsere Presseausweise dabei, aber schon im Vorfeld wurde uns gesagt, dass Medienschaffende regelmäßig festgenommen werden und ihnen das Material abgenommen wird. Es wird dann zur Untersuchung nach Athen geschickt und es kann zwei Jahre dauern, bis man Rückmeldung erhält und das Material, wenn überhaupt, verwenden kann. Uns wäre das beinahe auch passiert. Dabei waren wir nicht einmal auf dem Militärgelände, wo sich der Hotspot befindet, also das eingezäunte Flüchtlingslager. Wir waren nur im "Dschungel", dem provisorischen Zeltlager, das außerhalb des Militärgeländes entstanden ist. Die Polizei nutzt aber den Vorwand "überprüfen" zu wollen, ob nicht doch das Militärgelände gefilmt wurde, um Filmmaterial zu beschlagnahmen. Medien sollten das Recht haben, darüber zu berichten, was auf Samos passiert. Im neuen Camp, das 2021 eröffnet wurde, ist es noch viel schwieriger, zu drehen. So kann man dann auch kaum Berichte der Geflüchteten über die Zustände im Camp verifizieren. Probleme wie z.B. die mangelnde Gesundheitsversorgung, sind laut Erfahrungsberichten von Geflüchteten und NGOs durch das neue Camp aber nicht verschwunden.

An einer Stelle im Film kommt es zu einem Konflikt zwischen Einheimischen und Geflüchteten, als ein Geflüchteter während des Interviews aus dem Off rassistisch angefeindet wird. Wie haben Sie diese Situation erlebt?

Neidlinger: Wir saßen auf einer Treppe, auf der wir mehrere Interviews geführt haben. Sie liegt in einer ruhigen Seitenstraße und da hat uns dann eine Frau gesehen, wie wir Mustafa interviewen. Sie hatte wohl das Bedürfnis, das Interview zu unterbrechen. Um sie von Mustafa fernzuhalten, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Mustafa war schon oft solchen Anfeindungen ausgesetzt und deshalb war es für ihn ohnehin eine Überwindung, für das Interview in die Stadt zu kommen. Eine solche Situation nun so authentisch eingefangen zu haben, verdanken wir Roberts und Daniels Entscheidung, die Aufnahme nicht zu unterbrechen. Angeblich war das leerstehende Haus neben unserem Interviewplatz komplett ausgeplündert worden. Das ist auch ein Teil der Realität, mit der die Menschen auf Samos kollektiv umgehen müssen. Uns war wichtig, kein einseitiges Bild zu zeigen: Wie viel kann man einer kleinen Insel zumuten? Das Camp Vathi lag genau neben der gleichnamigen Stadt. Viele Geflüchtete waren also, wenn sie nicht gerade in Quarantäne waren, in der Stadt unterwegs. Das hat ihnen geholfen, ein bisschen Normalität zu erfahren. Die Situation ist auch dadurch entstanden, dass wir mitten in der Stadt gedreht haben. Jetzt sind die Geflüchteten in einem entlegenen Tal in einem geschlossenen Camp untergebracht.

Gronau: Der Frust der Frau kommt ja auch nicht nur von der Situation selbst. Als Medienschaffende haben wir eine Verantwortung, die Situation vor Ort richtig darzustellen. Und die Tatsache, dass sie der Meinung war, wir würden die Geflüchteten als arme Opfer darstellen und die griechische Bevölkerung auf der Insel als die Bösen, muss irgendwo herkommen. Es gab da sicherlich auch Beispiele für Produktionen, die nicht geschaut haben, wie es eigentlich der lokalen Bevölkerung geht. Uns ging es nicht um schnelle Klicks und polarisierende Diskussionen, sondern um die Realität vor Ort. Es geht um differenzierte Bilder. Die Menschen auf Samos sind alle auch Opfer der Umstände.

Neidlinger: Durch die Szene konnten wir die ganze Skala der Einstellungen der Einheimischen abbilden. Wir zeigen einen Samioten, der uns zwar erzählt hat, dass das Dach seines Hauses abgetragen wurde, er aber trotzdem Verständnis für die Geflüchteten habe. Wir zeigen einen aktivistischen Anwalt, der mitten in der Stadt sehr engagierte Arbeit für die Geflüchteten leistet, und dann gibt es aber auch offen rassistische Diskriminierungen und Angriffe von Seiten einiger Inselbewohner/-innen.

Sie lassen Geflüchtete und Einheimische zu Wort kommen, die alle direkt oder indirekt die griechische und europäische Flüchtlingspolitik für die Situation auf Samos mitverantwortlich machen. Vertreter/-innen dieser Politik kommen im Film aber nicht zu Wort. Warum?

Neidlinger: Das war eine bewusste Entscheidung, weil die Politiker/-innen nicht vor Ort sind. Das ist ein wichtiger Aspekt des Problems. Man sieht ganz klar die Folgen der Politik, aber es gibt keine ansprechbare Person oder Instanz dafür; die ist auf Samos praktisch abstrakt. Für ein umfassendes Inselporträt hätte ich gerne ein Interview mit der Polizei gehabt, die Teil des Ensembles auf der Insel ist. Aber um an solche Interviews zu kommen, hätte es eines größeren Rahmens und Budgets bedurft.

Lange Einstellungen, viele Totalen, wenig Musik – warum haben Sie sich für diese Form entschieden?

Neidlinger: Uns war es wichtig, das frustrierende Warten in der Form wiederzugeben. Die Insel steht wie die Hitze im Sommer. Es gibt kein Vorwärts und kein Rückwärts. Das gilt natürlich vor allem für die Geflüchteten, aber auch für die Einheimischen. Das hat die Form sehr inspiriert. Und dann gibt es ein paar Schnitte von der paradiesischen Ebene hin zum Elend im Camp, die die Absurdität der Situation zeigen sollen. Manchmal ist diese auch in einem Bild eingefangen, wie in dem Bild, wo man das Camp sieht und rechts davon das Hotel Paradise. Die Bilder lassen die Kontraste deutlich werden. Mit Blick auf die Farben hat Robert in der Postproduktion versucht, das Paradiesische zu betonen, um dann den Bruch darstellen zu können.

Szene aus dem Film Paradise Left Behind: Rechts im Vordergrund das Hotel Paradise und links im Hintergrund das Flüchtlingscamp bei der Stadt Vathi auf Samos. (© Robert Schulzmann, 2020)

Wie sind Sie auf das Paradiesmotiv gekommen, das sich als roter Faden durch den Film zieht? Was bedeutet dieses Motiv für Sie und wie deuten Sie den Filmtitel Paradise Left Behind?

Neidlinger: Wenn du auf Samos ankommst, denkst du: "Was für ein Paradies und welche Hölle daneben." Insofern war das Paradiesmotiv sehr schnell da. Aber der Sündenfall, der nun auch im Film vorkommt, war eine Entwicklung. Wir hatten eine Protagonistin, die wir interviewt haben. Sie ist auf der Insel zum Christentum konvertiert und hat die Bibel sehr ausführlich studiert. Ich habe sie gefragt, was ihre Lieblingsgeschichte in der Bibel ist. Sie hat uns dann den Rauswurf aus dem Paradies auf eine sehr poetische Art und Weise auf Farsi erzählt. Und der Sündenfall hat für mich als Narrativ sehr gut gepasst, weil ich glaube, dass diese Art und Weise, wie beispielsweise auf Samos mit den Menschenrechten umgegangen wird, eine moralische Zäsur für die europäische Gesellschaft ist. Ich glaube, es wird uns in Zukunft noch einholen, dass wir die Menschenrechte dort so mit Füßen treten. Gerade in der europäisch-christlich sozialisierten Gesellschaft werden diese ja sehr hochgehalten. Diese Doppelmoral könnte durchaus zu einem Ende eines vermeintlich paradiesischen Zustands führen. Der Filmtitel Paradise Left Behind folgt diesem Gedanken. Und natürlich ist er auch eine Wortspielerei mit dem in Corona-Zeiten hervorgegangenen Hashtag #LeaveNoOneBehind.

Gronau: Der Titel bezieht sich auch auf die Insel selbst. Samos ist ein Urlaubsparadies, das vergessen und zurückgelassen wird – von der Regierung und den Tourist/-innen. Der Titel ist auf verschiedenen Ebenen nutzbar und verständlich.

Es ist nun fast zwei Jahre her, seit Sie den Film gedreht haben. Haben Sie noch Kontakt mit den Protagonist/-innen und NGOs? Verfolgen Sie die Situation auf Samos weiter und können Sie sagen, wie sich diese verändert hat?

Neidlinger: Nach wie vor bin ich mit einigen Protagonistinnen und Protagonisten in Kontakt. Einige davon sind heute in Deutschland. Und auch mit dem Anwalt Dimitris bin ich noch in Kontakt, der weiterhin sehr engagiert auf Samos arbeitet. Über die Protagonist/-innen haben wir dann auch von Problemen im neuen Camp erfahren, zum Beispiel, dass es kein fließendes Wasser gibt und die Umstände noch viel kriminalisierender sind: Die Geflüchteten sind in einem Camp eingeschlossen, in dem man geröntgt wird und das Gelände nur mit einem Chip-Armband zwischen 8 Uhr und 20 Uhr verlassen darf. Teilweise funktionieren die Sicherheitsschalter nicht, sodass man gar nicht raus kann. Die Lage hat sich also nicht wirklich verbessert. Vielleicht ist es nicht mehr dreckig vom Erscheinungsbild her, aber es ist weiterhin in keiner Weise menschengerecht. Wir verfolgen die Geschehnisse vor Ort auf jeden Fall weiter. Es ist schön zu sehen, dass die NGOs und die Menschen, die sich in der Zeit, in der wir auf Samos waren, für die Geflüchteten engagiert haben, immer noch da sind und konstant deren Menschenrechte verteidigen. Nach Filmvorführungen werden wir oft gefragt, was man tun kann. Klar ist es schwierig, strukturell etwas zu verändern, aber kurzfristig kann man an diese Hilfsorganisationen spenden, die sich vor Ort für die Geflüchteten einsetzen, um die Not zu lindern. Sie machen sehr wertvolle Arbeit.

Haben sich Ihre Einstellungen durch die Produktion des Films verändert?

Gronau: Als wir mit den Arbeiten an diesem Film begannen, waren das Thema Migration und die Situation auf den griechischen Inseln quasi nicht präsent in der Öffentlichkeit. Während des Drehs gab es auf Lesbos den Interner Link: Brand im Flüchtlingslager Moria. Kurz darauf brannte es auch auf Samos. Da gab es kurzzeitig viel Aufmerksamkeit für die Situation auf den griechischen Inseln. Das Thema war international in der Presse und viele Politiker/-innen haben darüber gesprochen. Es wurde der Eindruck vermittelt, dass etwas getan wird. Dann ist das Thema aber wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Das war schockierend und gleichzeitig ein Sinnbild dafür, wie heutzutage mit unschönen Themen dieser Art umgegangen wird. Man merkt auch, wie viel in der Welt los ist, ohne dass wir davon wissen, weil wir uns nicht damit beschäftigen wollen oder können. Auch weil es nicht in den Medien, der Politik oder der Öffentlichkeit diskutiert wird. Diese Dinge passieren und man muss darüber sprechen.

Neidlinger: In Zeiten konstanter Polarisierung ist es wichtig, uns Räume für komplexere Bilder und Zusammenhänge zu erhalten, um Vergangenheit und Gegenwart und vielleicht auch die Prioritäten in der Zukunft besser zu verstehen. Wann immer Ressourcen für solche Räume generiert werden können, werde ich sie weiterhin dafür verwenden.

Was und wen wollen Sie mit dem Film erreichen?

Neidlinger: Dass das Thema präsent bleibt, denn es verliert eben leider nicht an Aktualität. Wir wollen Lehrkräften die Möglichkeit geben, den Film im Unterricht zu nutzen und so ihren Schüler/-innen oder Studierenden eine Grundlage für eine weitere Vertiefung in die Thematik zu geben.

Gronau: Es geht darum ein Bewusstsein für die Welt zu schaffen, in der wir leben und dafür, wo wir uns in der Welt befinden und welche Verantwortung wir als Europäer/-innen haben. Wir sind privilegiert, in Europa groß geworden zu sein. Damit geht auch eine Verantwortung für das eigene Handeln einher. Und wenn wir da mit unserem Film einen kleinen Anstoß geben können, ist das schon viel wert.

Das Interview führte Vera Hanewinkel.

Fussnoten

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