Migrationsgeschichte
Brasilien ist stark von Einwanderung geprägt. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich das größte und bevölkerungsreichste Land Südamerikas zu einem Auswanderungsland entwickelt. Ziel von transnationaler Migration ist es dennoch geblieben.
Bis zur Abschaffung der Interner Link: Sklaverei 1888 wurden fast vier Millionen Menschen aus Afrika nach Brasilien gebracht (siehe Tabelle 1).
Tabelle 1: Entwicklung der Zahl der im Rahmen des atlantischen Sklavenhandels nach Brasilien verschleppten Sklavinnen und Sklaven
Nordost-Brasilien | Bahia | Südost-Brasilien | |
---|---|---|---|
1519–1600 | 35.000 | 15.000 | - |
1601–1650 | 86.300 | 60.000 | 30.000 |
1651–1675 | 15.600 | 15.600 | 15.600 |
1676–1700 | 30.200 | 75.900 | 30.200 |
1701–1725 | 24.300 | 199.600 | 122.000 |
1726–1750 | 51.400 | 104.600 | 213.900 |
1751–1775 | 126.900 | 94.400 | 210.400 |
1776–1800 | 210.800 | 112.500 | 247.200 |
1801–1825 | 214.800 | 182.000 | 408.700 |
1826–1850 | 80.000 | 146.500 | 736.400 |
1851–1867 | 900 | 1.900 | 3.600 |
Quelle: Meissner, Jochen/Mücke, Ulrich/Weber, Klaus: Schwarzes Amerika. Eine Geschichte der Sklaverei, München: Beck 2008, S. 87.
Nach der Unabhängigkeit von Portugal im Jahr 1822 öffnete sich Brasilien für europäische Einwanderung. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kamen rund 4,5 Millionen Migranteninnen und Migranten ins Land, vor allem aus Portugal, Spanien sowie italienisch- und deutschsprachigen Gebieten. Die meisten von ihnen waren Bäuerinnen und Bauern, die wenig besiedelte Landstriche im Süden und Südosten Brasiliens erschlossen. Vor allem in Rio Grande do Sul, Santa Catarina, Paraná, São Paulo und Espírito Santo betrieben sie Interner Link: Subsistenzwirtschaft oder bewirtschafteten Kaffeeplantagen. Diese landwirtschaftlichen Aktivitäten waren ein wesentlicher Faktor für die Zerstörung des atlantischen Regenwalds (Mata Atlântica). Außerdem gab es städtische Einwanderung, die zunächst aus Eliten wie Kaufleuten, Intellektuellen und Arbeitsmigranten mit einem hohen sozialen Status bestand, zunehmend aber auch Handwerktreibende, Dienstleute sowie Arbeiterinnen und Arbeiter umfasste. Sie trugen ab Ende des 19. Jahrhunderts zur beginnenden Industrialisierung und Urbanisierung bei, für die exemplarisch die migrantisch geprägte Stadt São Paulo steht.
Brasilien präsentierte sich als Alternative zur Einwanderung in die USA und bot Land und Hilfestellung für die Migrantinnen und Migranten an.
Die Einwanderinnen und Einwanderer kamen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen nach Brasilien, gab es doch in Europa ein starkes Bevölkerungswachstum und Versorgungs- und Arbeitsmarktengpässe. Einige waren auch politische Flüchtlinge, darunter die sogenannten 1848er, die aufgrund der Interner Link: fehlgeschlagenen deutschen Revolution migrierten. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu weiteren Einwanderungswellen, die nun auch aus Japan und der sogenannten Levante, den Ländern am östlichen Mittelmeer, stammten. Aufgrund der Wirtschaftskrise in der Interner Link: Weimarer Republik kamen in den 1920er Jahren besonders viele Deutsche nach Brasilien. Ab den 1930er Jahren folgten jüdische Flüchtlinge aus ganz Mittel- und Osteuropa, die vor zunehmender Verfolgung und schließlich dem Interner Link: Holocaust Schutz suchten.
Tabelle 2: Einwanderung nach Brasilien 1819–1933
Herkunftsland | 1819-59 | 1860-69 | 1870-79 | 1880-89 | 1890-99 | 1900-09 | 1910-19 | 1920-29 | 1930-33 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
Portugal | 64.524 | 563.618 | 67.609 | 104.690 | 219.353 | 195.586 | 318.481 | 301.915 | 46.086 |
Italien | 209 | 4.916 | 47.100 | 277.124 | 690.365 | 221.394 | 138.168 | 106.835 | 11.242 |
Spanien | 191 | 633 | 3.940 | 30.066 | 164.293 | 113.142 | 181.651 | 80.931 | 8.142 |
Preußen/Deutschland | 22.798 | 16.514 | 14.627 | 18.901 | 17.084 | 13.848 | 25.902 | 75.801 | 11.254 |
Österreich | - | 104 | 7.580 | 4.603 | 38.487 | 15.443 | 13.085 | 12.020 | 1.282 |
Frankreich | 392 | 2.564 | 4.213 | 2.856 | 7.575 | 3.682 | 8.163 | 6.797 | 1.617 |
Schweiz | 4.411 | 758 | 1.838 | 1.117 | 1.056 | 993 | 1.586 | 3.859 | 691 |
Russland | - | - | 8.075 | 2.094 | 41.416 | 14.906 | 39.288 | 7.171 | 3.609 |
Polen | - | - | - | - | 1.420 | - | - | 28.028 | 9.001 |
Japan | - | - | - | - | - | 861 | 27.432 | 58.286 | 55.880 |
Levante | - | - | - | - | 3.617 | 16.131 | 35.193 | 23.784 | 269 |
Sonstige | 15.090 | 30.986 | 38.949 | 6.500 | 13.035 | 18.367 | 25.273 | 112.391 | 16.777 |
Gesamt | 137.119 | 110.093 | 193.931 | 444.155 | 1.197.701 | 614.353 | 813.722 | 844.190 | 167.484 |
Quelle: Rinke, Stefan/Fischer, Georg/Schulze, Frederik (Hg.): Geschichte Lateinamerikas vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Quellenband, Stuttgart: Metzler 2009, S. 87.
Migrationskonflikte
Vor allem Deutsche, aber auch andere Gruppen, die als Bäuerinnen und Bauern in homogenen Gruppen siedelten, hatten im 19. Jahrhundert teilweise wenig Kontakt zum Staat und unterhielten, auch mit Unterstützung des deutschen Staats und nationalistischer Interessenvertretungen, deutschsprachige Schulen und Kirchen. Fremdsprachige Vereinswesen und, wie im Fall der Deutschen, politische Rückbezüge auf die alte Heimat, etwa in Form von Kaisergeburtstagsfeiern, irritierten die brasilianischen Eliten.
In den 1930er Jahren ging der Staat erneut vehement gegen die Bewahrung migrantischer Kulturen vor. Unter Präsident Getúlio Vargas, der seit 1930 autoritär herrschte, bemühte sich der Staat um die Stärkung des brasilianischen Nationalismus und forderte die Assimilierung der Eingewanderten ein.
Durch die Nationalisierungspolitik und eine Nationalerzählung, die ethnische und kulturelle Mischung als Kern der brasilianischen Identität ausrief, rückten nach dem Zweiten Weltkrieg kulturelle Rückbezüge von Eingewanderten zunächst in den Hintergrund. Über Einwanderung wurde wenig gesprochen, migrantische Interessengruppen hatten kaum politischen oder gesellschaftlichen Einfluss. Erst ab den 1980er Jahren lässt sich ein Wiedererstarken von Migrationsthemen auf lokaler Ebene, im Kulturleben und auch in der Forschung erkennen, da ein neues Interesse an Migrationskontexten entstanden ist. Regionen mit deutscher, italienischer und japanischer Einwanderungsgeschichte begannen nun, solche Rückbezüge auch für touristische Zwecke zu nutzen. Das Oktoberfest von Blumenau ist ein solches Beispiel erfundener Tradition. Im Rahmen einer solchen Identitätspolitik und einer multikulturellen Auffächerung Brasiliens haben sich auch afrobrasilianische Gruppen bemerkbar gemacht, eine Aufwertung afrikanischer Kulturen gefordert und Interner Link: Rassismus beklagt.
Brasilien als Einwanderungsland seit 1945
Nach 1945 ging die Einwanderung stark zurück, auch wenn Brasilien mit Ländern wie Italien und Spanien Einwanderungsabkommen abschloss und darüber hinaus politische Flüchtlinge aufnahm. Auch deutschen Nationalsozialisten gelang das Untertauchen in Brasilien. Wichtiger wurde ab den 1950er Jahren jedoch die Binnenmigration vom Land in die Städte und vom Nordosten in den Südosten, vor allem nach São Paulo.
Heutzutage ist Brasilien vor allem Zielland Interner Link: südamerikanischer Migration.
2010–2018 reisten zudem Flüchtlinge aus Haiti (107.079) und Interner Link: Venezuela (48.611) ein.
Brasilien als Auswanderungsland
Während Brasilien in den letzten Jahrzehnten kaum mehr als Einwanderungsland wahrgenommen wurde, wuchs seine Bedeutung als Auswanderungsland: Allein 2010–2019 fanden 2,66 Millionen mehr Aus- als Einreisen statt.
Genaue Zahlen von brasilianischen Staatsangehörigen im Ausland gibt es nicht, da ein großer Teil undokumentiert migriert. 2015 schätzte das brasilianische Außenministerium, dass 3.083.255 Brasilianerinnen und Brasilianer im Ausland lebten. Die zehn wichtigsten Aufnahmeländer waren demnach die USA (1,41 Millionen), Paraguay (332.042), Japan (170.229), Großbritannien (120.000), Portugal (116.271), Spanien (86.691), Deutschland (85.272), die Schweiz (81.000), Italien (72.000) und Frankreich (70.000).
Tabelle 3: Brasilianerinnen und Brasilianer im Ausland (2015)
Schätzung des brasilianischen Außenministeriums
Land | Anzahl |
---|---|
Nordamerika | 1.467.000 |
Südamerika | 553.040 |
Europa | 750.983 |
Asien | 191.967 |
Vorderer Orient | 47.522 |
Ozeanien | 47.310 |
Afrika | 25.387 |
Karibik und Zentralamerika | 5.046 |
Quelle: Estimativas populacionais das comunidades brasileiras no Mundo – 2015 (números atualizados em 29/11/2016), in: Externer Link: http://www.brasileirosnomundo.itamaraty.gov.br/a-comunidade/estimativas-populacionais-das-comunidades (Zugriff: 07.06.2020).
Hauptziele brasilianischer Migration in den USA sind New York, Boston und Florida. Auch wenn es keine ausgeprägte Community-Bildung gibt, kommt es zu einer Identitätsbildung gerade auch in Abgrenzung zu anderen lateinamerikanischen migrantischen Gruppen.