Der deutsche Arbeitsmarkt steht vor dem Problem, dass in den kommenden Jahren geburtenstarke Jahrgänge das Rentenalter erreichen, die nicht adäquat durch nachrückende Jahrgänge ersetzt werden können. Der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland ist der von 1964 mit zurzeit knapp 1,4 Millionen Personen. Dieser geht spätestens 2031 in den Ruhestand. Er muss ersetzt werden von Jahrgängen, die nur 700.000 bis 800.000 Personen zählen. Ohne gegenzusteuern, schrumpft das Arbeitskräftepotenzial schon bis 2030 um knapp fünf Millionen Personen.
Das heißt nicht, dass fünf Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Aber die Herausforderungen liegen auf dem Tisch: Wir müssen das Arbeitskräftepotenzial erhöhen – etwa durch Intensivierung der arbeitsmarktgesteuerten Zuwanderung – und/oder das vorhandene Potenzial besser ausschöpfen. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die Produktivität zu erhöhen. Um die Verkürzung der Arbeitswoche um einen Tag auszugleichen, wäre jedoch eine Steigerung der Produktivität pro Arbeitsstunde um 25 Prozent erforderlich.
Von Bedeutung ist, dass die demografische Schrumpfung kein Prozess ist, der in ferner Zukunft liegt. Vielmehr wird das Problem in diesem Moment akut. Das schränkt die Handlungsmöglichkeiten deutlich ein. Ein Beispiel: Selbst wenn es plötzlich einen politischen Konsens gäbe, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, würde sich der Umsetzungsprozess so lange hinziehen, dass die Babyboomer längst in Rente sind. Die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre wird vom Parlamentsbeschluss im Jahr 2007 bis zur endgültigen Umsetzung über 20 Jahre gedauert haben. Das heißt ausdrücklich nicht, dass man sich Schritte wie diesen sparen sollte – sie kämen aber zu spät, um die aktuelle Problematik zu beheben.
Mehr statt weniger Arbeitszeit
Eine Stellschraube, die kurzfristig wirkt und gleichzeitig ein hohes Potenzial verspricht, ist die Verlängerung der Arbeitszeit. Im internationalen Vergleich ist zwar die Erwerbsbeteiligung in Deutschland sehr hoch: Laut Statistischem Bundesamt waren zuletzt rund 77 Prozent aller Personen zwischen 15 und 64 Jahren erwerbstätig.
Die Arbeitszeit wird nicht von der Politik festgelegt – auch wenn in vielen Medienberichten zu lesen ist, Belgien habe die Vier-Tage-Woche oder Griechenland die Sechs-Tage-Woche „eingeführt“. In Belgien, Griechenland und selbstverständlich auch in Deutschland bestimmen Arbeitnehmer und Arbeitgeber eigenverantwortlich und autonom gemeinsam über die Arbeitszeit. Wer nur vier Tage in der Woche arbeiten möchte, dem steht es frei, dies mit seinem Arbeitgeber zu vereinbaren. Politisch geht es nicht um Zwang und auch nicht um moralische Verpflichtungen, sondern um Anreize, die die notwendige Ausweitung individueller Arbeitszeiten attraktiv machen.
Die Erkenntnis, dass längere Arbeitszeiten erforderlich sein werden, hat sich offenkundig noch nicht überall durchgesetzt. So werden neue Maßnahmen diskutiert, die sogar Anreize zur Verkürzung der Arbeitszeit bieten – zum Beispiel die Familienstartzeit: Laut Koalitionsvertrag von 2021 wollen SPD, Grüne und FDP eine zweiwöchige vergütete Freistellung für die Partnerin oder den Partner nach der Geburt eines Kindes einführen.
Ein Argument lautet, dass die Vier-Tage-Woche ein Rekrutierungsinstrument sein könne und Arbeitgeber im Wettbewerb um Arbeitskräfte attraktiv erscheinen lasse. Aus einer einzelwirtschaftlichen Perspektive mag das eine Weile funktionieren. Aber spätestens, wenn die Wettbewerber auch Arbeitszeitverkürzungen anbieten müssen, um Arbeitskräfte zu gewinnen, ist der Vorteil dahin. Gesamtwirtschaftlich bleibt am Ende nur die Arbeitszeitverkürzung und die damit einhergehende Verschärfung des Arbeitskräftemangels.
Mehr Produktivität durch weniger Arbeit?
Ein weiteres Argument lautet, dass verschiedene Experimente – unter anderem in Großbritannien
Zweitens ist die Produktivität bei den Experimenten gar nicht konsistent gemessen worden. Erhoben wurden lediglich verschiedene Performance-Indikatoren, die aber keine Rückschlüsse auf die erzielte Wertschöpfung zulassen. So könnte ein gegebenes Service-Niveau auch durch Zukauf externer Leistungen gehalten werden. Damit bliebe der Umsatz stabil, nicht aber die Wertschöpfung.
Drittens sah das Design der Experimente keine konsistente Bildung und Auswertung von Vergleichsgruppen vor. Somit bleibt die Frage unbeantwortet, ob eine Umsatzsteigerung wegen oder trotz der Arbeitszeitverkürzung erzielt werden konnte. Anders ausgedrückt: Es bleibt offen, wie sich der Umsatz eines Unternehmens entwickelt hätte, wenn man keine Arbeitszeitverkürzung vorgenommen hätte. Insbesondere das Experiment in Großbritannien wirft in dieser Hinsicht Fragen auf, weil es in die Phase der Erholung nach der Corona-Rezession fiel.
Viertens haben die teilnehmenden Unternehmen Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung ergriffen – etwa die Kürzung von Meetings –, die sie auch ohne Arbeitszeitverkürzung hätten umsetzen können. Die Tauschmenge zwischen Arbeitszeit und Produktion wird durch die Arbeitszeitverkürzung also gar nicht kausal verändert. Fünftens könnte eine Senkung des Krankenstandes den Wegfall eines Arbeitstages auch dann nicht ausgleichen, wenn man die extrem unwahrscheinliche Annahme träfe, dass dank der Vier-Tage-Woche gar keiner mehr krank wird.
Es kann zwar niemand vorhersagen, welche Produktivitätsgewinne durch die Digitalisierung noch zu erwarten sind. Es erscheint aber wenig wahrscheinlich, dass in deutschen Unternehmen eine Produktivitätsreserve von 25 Prozent schlummert, die aus unerfindlichen Gründen bislang nicht gehoben werden konnte. Das Produktivitätswachstum geht nicht nur in Deutschland im Trend zurück. Es liegt bei 0,7 Prozent pro Jahr im Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Man müsste also das Produktivitätswachstum über 30 Jahre lang akkumulieren und dabei auf Reallohnerhöhungen verzichten, um den Wegfall eines Wochenarbeitstages zu kompensieren.
Letztlich kann sich jeder Leser die Frage ein Stück weit selbst beantworten: Wäre ich auf Dauer in der Lage, meine Arbeit ohne Qualitätsverlust in vier statt in fünf Tagen zu erledigen? Nicht nur in Branchen wie der Krankenpflege erscheint das utopisch.
Wenn wir nicht alle Hebel in Bewegung setzen, um das Arbeitskräftepotenzial besser auszuschöpfen und uns stattdessen dem Traum hingeben, mit weniger Arbeit mehr verteilen zu können, sind Wohlstandsverluste unausweichlich. Das ist keine Frage des Geldes, sondern der Verfügbarkeit von Gütern und Diensten. Es droht nicht nur eine Einschränkung von Konsumwünschen für Luxusgüter, sondern vieler Dinge des täglichen Lebens wie den öffentlichen Nahverkehr oder die Gesundheitsversorgung, wenn ein Großteil der Beschäftigten in diesen Bereichen die Arbeitszeit verkürzt. Zudem ist der wachsende nicht-arbeitende Anteil der Bevölkerung darauf angewiesen, dass die arbeitende Bevölkerung Güter und Dienstleistungen für sie mitproduziert. Somit folgen den Wohlstandsverlusten neue Verteilungskonflikte.