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Demokratiegeschichte in Deutschland | Die Revolution von 1848/49 | bpb.de

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Demokratiegeschichte in Deutschland

Hedwig Richter

/ 15 Minuten zu lesen

1848 kulminierten verschiedene Veränderungsdynamiken: Vor allem Bürger forderten mehr Freiheiten, mehr Verfassung und weniger Fürstenherrschaft. Das gesamtdeutsche Parlament, der Liberalismus und die Demokratie wurden 1849 blutig niedergeschlagen. Doch die Versprechen von Freiheit, Rechtsstaat und Einheit ließen sich nicht auf Dauer unterdrücken.

Die Paulskirche in Frankfurt am Main ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungsort genutzter ehemaliger Kirchbau. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann Friedrich Christian Hess tagten 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter Nationalversammlung. (© picture-alliance, greatif)

Am Ende des 19. Jahrhunderts sahen viele Deutsche ihre Geschichte optimistisch als ein Fortschreiten hin zu Einigkeit und Recht und Freiheit, wenngleich mit schweren Rückschlägen: von den Freiheitskriegen gegen Napoleon über die Paulskirche bis zur Einheit von 1867/71. Für einen Großteil des Bürgertums und für immer mehr der politisierten Männer und Frauen der mittleren und unteren Klassen ging es dabei auch um die Frage, ob sie Freiheiten hatten, eine Verfassung, ein Parlament oder ob sie der Fürstenwillkür ausgeliefert waren. Eine große Mehrheit der Bevölkerung hielt es für entscheidend, ob sie ein gutes Leben ohne Hunger und Not führen konnte. Die sozialen Entwicklungen lassen sich nicht von den politischen trennen, das wurde während des 19. Jahrhunderts immer wieder deutlich. Die Industrialisierung mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wurde zur treibenden Kraft der Zeit. Sie schärfte die sozialen Nöte, setzte aber auch die Ressourcen frei, die eine soziale und damit auch politische Inklusion für immer mehr Menschen ermöglichten.

Tatsächlich wird das lange 19. Jahrhundert, von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg, immer wieder als das Jahrhundert der Emanzipation beschrieben. An seinem Ende gab es keine Hungersnöte mehr und die Menschen konnten ein Leben ohne die schlimmsten sozialen Härten führen, unter denen sie die Jahrhunderte zuvor gelitten hatten. Der große Teil der männlichen Bevölkerung war nun über Zeitungen, Vereine, Parteien und Demonstrationen in eine nationale Öffentlichkeit inkludiert. Und die Frauen organisierten sich in einer anwachsenden Bewegung, die eine ganz neue, bis dahin schlicht nicht vorstellbare Dimension der Emanzipation eröffnete. Der Sozialist Franz Mehring beschrieb 1899 im „Vorwärts“ das vergangene Jahrhundert als ein Aufstieg aus dem Dunkel der Unterdrückung und prognostizierte für das 20. Jahrhundert: „Wir sind froh des Sonnenaufgangs, in dessen wunderbar rosigem Schimmer das neue Jahrhundert aus der Zeiten Schoße heraufsteigt“.

Diese Demokratiegeschichte, als die Geschichte der sozialen und politischen Inklusion der Bevölkerung, umfasst drei Grundtendenzen, die zu 1848 führten, dort einen Kulminationspunkt erlebten – und danach keineswegs abbrachen: erstens die Geschichte des Nationalismus, zweitens der Konstitutionalismus sowie der politischen Partizipation und drittens die Geschichte der sozialen Kämpfe und Reformen.

Demokratisierende Reformen

Im Kampf gegen Napoleon wird deutlich, wie eng in Europa die nationale Idee mit den Idealen der Gleichheit und Freiheit verknüpft waren. „Democracy was born with the sense of nationality”, erläutert die Soziologin Liah Greenfeld, „Nationalism was the form in which democracy appeared in the world.” Das galt schon für die Französische Revolution, in der stets von „la nation“ die Rede war. Ob adlig oder bürgerlich, reich oder arm: vor der Nation sind alle Männer gleich. Bürger besitzen die gleichen Rechte, die ihnen idealerweise eine Verfassung garantiert. Eine kleine Reformelite, unter denen viele Beamte waren, griff in den deutschen Ländern den Begriff Nation auf und setzte auf gezielte Veränderungen.

Spätestens durch die Niederlagen gegen Frankreich war den Regierungen in Europa klar geworden, dass sie sich verändern musste. Der preußische Politiker Karl August von Hardenberg schrieb 1807: „Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: dieses scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeitgeist“. So wurden in vielen Ländern zu Beginn des Jahrhunderts Verfassungen und Partizipationsmöglichkeiten von oben eingeführt, in Preußen beispielsweise die integrative Städteordnung von 1808, die mit einem vergleichsweise fortschrittlichen Wahlrecht „die Wurzeln von so etwas wie Demokratie“ bildete, wie der Historiker Thomas Nipperdey konstatiert. Im Herzogtum Nassau garantierte die liberale Verfassung von 1814 zahlreiche Bürgerrechte. Die Fürsten, die Regierenden, die Beamten, sie alle wussten, dass sie für die Modernisierung ihres Staates und seinen Neuaufbau die Bevölkerung einbeziehen mussten.

Die Reformen gegen absolutistische und feudale Strukturen hatten teilweise schon vor der Französischen Revolution begonnen, erhielten durch diese und durch die napoleonischen Kriegszüge allerdings einen enormen Auftrieb, der nicht einmal durch die europäische Restaurationszeit ab dem Wiener Kongress 1815 gestoppt werden konnte. Die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die wesentlich von dem österreichischen Staatsmann Fürst Metternich konzipiert waren, setzten eine systematische Verfolgung von Oppositionellen in Gang und unterdrückten mit einer umfassenden Zensur massiv die Entstehung einer Öffentlichkeit. Doch Metternich und sein System gerieten in immer breiteren Kreisen der Bevölkerung in die Kritik und wurden schließlich zum Inbegriff einer vergangenen, dunklen Zeit.

Populäre nationale Traditionen

Neben der reformerischen, bürokratischen Demokratisierung etablierte sich eine populärere Tradition in den Befreiungskriegen gegen Napoleon von 1813 bis 1815. Zwar wurde die Bewegung später als Volksbewegung gefeiert, doch letztlich wurde auch sie zunächst nur von einer kleineren Schicht getragen, in der die Studenten eine herausragende Rolle spielten. Allerdings drangen diese Traditionen im Laufe des Jahrhunderts in die populäre Kultur ein. Die Freiheitskämpfe wurden zur Chiffre für den nationalen und demokratischen Aufbruch. Nicht länger sollten Fürsten willkürlich über Länder und die Bevölkerung herrschen, Territorien über Heirat aneignen oder leichtfertig weggeben, nicht länger Menschen als Untertanen statt als nationale Bürger betrachten und womöglich als Söldner an fremde Mächte verkaufen.

Aus den Freiheitskämpfen gegen Napoleon stammten die demokratischen deutschen Farben. Im Lützowschen Freikorps kämpften Freiwillige aus zahlreichen deutschen Staaten, so dass das Korps und seine schwarz-rot-goldenen Farben zum Inbegriff der deutschen Einheit und Freiheit und später auch der liberalen, demokratischen Ideale wurden. In dem Regiment waren viele Studenten, die nach den Kämpfen die Farben weiterhin trugen. 1815 gründeten sie in Jena die Urburschenschaft, die sich als gesamtdeutscher Verbund verstand, der für Einheit, Freiheit und politische Mitbestimmung stand. Im Wartburgfest 1817 feierten rund 500 Burschenschaftler (immerhin etwa ein Achtel der deutschen Studenten) die Utopie von Freiheit und Einheit. Auch die Turnerbewegung entstand aus der nationalen Sehnsucht nach Einheit und Freiheit und Selbstorganisation. In Paris etwa gründeten deutsche Exulanten 1834 den frühsozialistischen „Bund der Geächteten“, der sich für „Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands und Verwirklichung der in der Erklärung der Menschenrechte und Bürgerrechte ausgesprochenen Grundsätze“ einsetzte.

Die nationale Inklusion war gleichwohl von Anfang an schillernd, exklusiv und selten eindeutig. Die Turnerbewegung schloss Juden aus, Frauen ohnehin. Nation war stark männlich konnotiert und auf den wehrhaften Körper bezogen. Der bedeutende Freiheitskämpfer und Dichter Ernst Moritz Arndt (1769-1860) war rassistisch und antisemitisch, er wollte die Leibeigenschaft beenden und durchtränkte seine Emanzipationslieder mit Juden- und Franzosenhass. Für die Demokratisierung war generell typisch, dass die neue Inklusion mit scharfen Exklusionen einherging, zum Teil, weil der Ausschluss die Inklusion plausibel machte. Gegen die Anderen, gegen die Franzosen, die Juden, in gewisser Weise auch gegen die Frauen konnte man sich umso egalitärer fühlen. Der Nationalismus anderer Länder war hier nicht besser. Deswegen gingen auch Demokratisierung und Rassismus im Laufe des Jahrhunderts oft Hand in Hand, wie etwa in den USA.

Auch die demokratischen nationalen Traditionen blieben trotz der 1815 einsetzenden Restauration durch den Wiener Kongress lebendig. Überhaupt versuchte der Kongress keineswegs, die Uhren komplett zurückzudrehen. Fürst Metternich warnte allerdings vor dem spalterischen und aggressiven Potenzial des Nationalismus, das Kräfte freisetzen würde, die nicht günstig für den Frieden wären. So wurde er zum Inbegriff der antifreiheitlichen und antinationalen Kräfte.

Verfassungskultur und politische Partizipationsrechte

Ein Ergebnis des Wiener Kongresses war der Deutsche Bund. Er blieb weit von dem entfernt, was sich die Freiheitskämpfer erhofft hatten, weder gab es die nationalstaatliche Einheit noch eine Volksvertretung, stattdessen wurden die Privilegien des Adels und die Fürstenherrschaft in den zahlreichen Einzelstaaten gesichert. Aber immerhin sah die Bundesakte in Artikel 13 „landständische Verfassungen“ vor. Zahlreiche deutsche Staaten leisteten dem Folge und installierten Verfassungen, etwa Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), Bayern und Baden (beide 1818), Württemberg (1819) oder Hessen-Darmstadt (1820). Insgesamt gaben sich bis 1824 15 von 40 Staaten eine Verfassung. Doch die beiden größten deutschen Staaten Österreich und Preußen verweigerten sich der Konstitutionalisierung. In Preußen sorgte das für eine tiefe Verbitterung, zumal König Friedrich Wilhelm III. mehrfach eine Verfassung versprochen hatte. Die Julirevolution 1830 in Frankreich gab überall den demokratisch-liberalen Bewegungen in Europa Auftrieb, auch in den Staaten des Deutschen Bundes. In Sachsen, Hannover, Hessen und Braunschweig wurden nun Verfassungen eingerichtet.

Die ersten Verfassungen führten vielerorts zu einem frühen Verfassungspatriotismus mit Verfassungsfeiern. Das Hambacher Fest von 1832, ein Meilenstein in der deutschen Demokratiegeschichte, stand in dieser Tradition. Diese Feier zu Ehren der Bayerischen Verfassung wurde zu einer beeindruckenden Massendemonstration für Demokratie. 20.000 bis 30.000 Männer und Frauen zogen zu der Schlossruine in der bayerischen Pfalz. Sie forderten Einheit, Recht und Freiheit, schwenkten die schwarz-rot-goldene Fahne. Auch Teilnehmende aus Frankreich und Polen waren dabei – es ging nicht nur um die deutsche, sondern um die europäische Demokratie. Auch Sängerfeste, in denen die Männer die deutsche Einheit besangen, gehörten zu dieser frühdemokratischen Kultur. Zahlreiche patriotische Lieder entstanden wie „Ich hab mich ergeben“ (1820) oder „Die Wacht am Rhein“ (1840), bei der der aggressive Charakter des Nationalismus hervorsticht. 1841 dichtete August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in dieser Tradition das Deutschlandlied, das schnell populär wurde. Es funktionierte als Trink- und zugleich als Freiheitslied und brachte sowohl die maskuline Volkskultur als auch die freiheitlichen Ideale auf den Punkt: „Deutsche Frauen, deutsche Treue, / Deutscher Wein und deutscher Sang“ priesen die Verse ebenso wie „Einigkeit und Recht und Freiheit / Für das deutsche Vaterland!“

In manchen Regionen Deutschlands bildeten sich partizipative Mentalitäten und demokratische Verfahren wie Wahlen und Parlamentarismus schon früh heraus und wirkten spätestens seit den 1830er Jahren tief in die Bevölkerung. In Baden etwa fochten die Bürger hochkompetitive Wahlkämpfe aus und wählten mit einem Wahlrecht ein Parlament, das weiter und inklusiver war als in den USA. Viele der führenden Köpfe der demokratisch-liberalen Bewegung wie Karl Rotteck oder Friedrich Daniel Bassermann und Antimonarchisten wie Friedrich Hecker oder Gustav Struve kamen von hier oder lebten in Baden. Im süddeutschen Frühparlamentarismus kam es zu parteiähnlichen Fraktionsbildungen. Das bundesweite Parteiverbot von 1832 versuchte, das aufblühende Parteileben zu unterdrücken, doch viele Deutsche hintertrieben das Verbot mit einem lebendigen Vereinsleben, in dem Turn- und Sängervereine als Tarnung eine herausragende Rolle spielten. Deutschlandweit bildeten sich politische Strömungen – konservative, nationale, liberale, radikalliberale oder demokratische. Im Vormärz finden sich auch die Anfänge der Arbeiterbewegung mit Selbsthilfeorganisationen wie Kranken- oder Hilfskassen und Parteiungen, die sich auch im Ausland organisierten, etwa der „Bund der Geächteten“. Mit der 1847 gegründeten „Deutschen Zeitung“ schufen sich Liberale ein deutschlandweites Publikationsorgan für ihre Interessen.

Selbst die Provinziallandstände in Preußen, die wesentlich weniger Rechte hatten als die Landesparlamente in Baden oder Bayern, trugen zur politischen Inklusion bei. Sie forderten teilweise seit den 1830er-Jahren in Petitionen eine einheitliche Vertretung und diskutierten seit den 1840er-Jahren auch den Anspruch auf eine Verfassung. In ihnen saßen viele der wichtigsten Liberalen, die dann auch maßgeblich an demokratischen verfassungsgebenden Prozessen von 1848/49 beteiligt waren: etwa David Hansemann, Maximilian von Schwerin-Putzar oder Ludolf Camphausen. Diese Männer beteiligten sich auch an den Treffen im September 1847 in Offenburg und danach in Heppenheim, die zur Organisation der verfassungsgebenden Strukturen von 1848 führten. Beide Versammlungen waren auch deswegen erfolgreich und erhielten deutschlandweit Aufmerksamkeit, weil die Presse mittlerweile eine nationale Öffentlichkeit geschaffen hatte und die liberalen und demokratischen Forderungen aufgriff.

Insgesamt verstanden sich mehr und mehr Männer und Frauen als liberal, als für die Freiheit kämpfend. Die Rolle der Fürsten und Regierungen war durchaus ambivalent. Einige erkannten die Chancen der neuen Zeit und installierten Verfassungen oder feierten die Erinnerung an die Freiheitskämpfe. Ein liberaler Geist wie Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach duldete auch die Gründung der Urburschenschaft in seinem Territorium und die Massendemonstration für auf der Wartburg. Viele Fürsten allerdings unterdrückten die Ideen von freiheitlichen Bürgerrechten und Einheit. Doch sie konnten die Aufbrüche insgesamt immer schlechter eindämmen, auch wenn die Karlsbader Beschlüsse von 1819 bis 1848 galten.

Soziale Inklusionen

Das Bürgertum erlebte im 19. Jahrhundert seinen Aufstieg und prägte das Jahrhundert zutiefst, obwohl es eine kleine Minderheit blieb, die bis Mitte des Jahrhunderts auf 5 und am Ende des Jahrhunderts auf 7 Prozent anstieg, wenn man die kleinen Selbständigen und Angestellten hinzurechnet auf etwa 20 Prozent. Mit dem Bürgertum setzte sich die Industrialisierung mit der kapitalistischen Ordnung durch, die durchschlagende, alles verändernde Kraft des Jahrhunderts. Die überwiegende Mehrheit der Menschen lebte gleichwohl auf dem Land, zu Beginn des Jahrhunderts waren das in Europa rund vier Fünftel der Bevölkerung. Ein beträchtlicher Teil der Reformbemühungen seit der Wende zum 19. Jahrhundert galt daher der sogenannten Bauernbefreiung. Sie sprach grundsätzlich der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung die individuelle Würde zu, sie ermöglichte eine neue Dimension von Gleichheitsvorstellungen auf Kosten des Adels, dessen Rechte und hierarchische Logik sie beschränkte .

Unterstützt wurde diese soziale Inklusion durch ein anwachsendes bürgerliches Engagement, das Anfänge einer Zivilgesellschaft erkennen lässt. Das wird am Umgang mit dem „Pauperismus“ deutlich. Allein schon der Begriff, der sich auch im Französischen und Englischen fand, signalisiert, dass Armut nicht länger als gottgegeben und schicksalhaft empfunden, sondern als Problem definiert wurde. So gab es schon früh Bürger und Bürgerinnen, die die „soziale Frage“ aufgriffen und für eine neuartige Skandalisierung von Armut sorgten. Der Wille zu Sozialreformen zeigte sich unter anderem daran, dass soziale Unruhen, die in Kontinentaleuropa regelmäßig vorkamen, zunehmend als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen wurden und ihre gewalttätige Unterdrückung nicht mehr als angemessen galt. Dabei spielte die Öffentlichkeit eine immer wichtigere Rolle. Neue Drucktechniken ermöglichten schnellere und billigere Zeitungen und Pamphlete. Die Zensur lockerte sich. In Deutschland wurde der Weberaufstand von 1844 die Initialzündung für die erste große öffentliche Diskussion über Armut.

Die ersten Selbsthilfeorganisationen der unteren Schichten wie Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen signalisieren ebenfalls ein zivilgesellschaftliches Erstarken und ein neues Bewusstsein dafür, Armut und Elend als Problem zu definieren. Das „Proletariat“, das sich hier organisierte, bestand überwiegend aus bäuerlichen und handwerklichen Unterschichten, während Fabrikarbeiter erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einer Masse anwuchsen, die als politischer Akteur sichtbar wurde. Neben der aufkeimenden Arbeiterbewegung spielten kirchliche sozialreformerische Vereine in allen Schichten eine entscheidende Rolle. Die Geschichte der sozialen Frage und des Sozialstaats ist anders als die Geschichte der Wahlen und der Parlamente von Anfang an durch Frauen geprägt.

Die Revolution von 1848/49

1848 kulminierten die verschiedenen Veränderungsdynamiken. Als in Frankreich im Februar die Revolution ausbrach, war in ganz Europa der Boden bereitet. In den deutschen Ländern hatten bereits die Hungersnöte von 1846 und 1847 vielerorts zu Unruhen geführt. Als die Obrigkeit erneut mit der Unterdrückung der Aufständischen reagierte, schien das vielen Zeitgenossen nicht mehr hinnehmbar. In der wachsenden Öffentlichkeit und in der liberalen Presse wuchs die Empörung auch der bürgerlichen Schichten und bestärkte die bestehende Solidarität gegen die „Fürstenherrschaft“.

Die Menschen, die den zweiten revolutionären Strang aufgriffen, waren vor allem Bürger: Sie forderten mehr Freiheiten, mehr Verfassung, weniger Fürstenherrschaft. Die soziale Frage interessierte sie kaum. In Preußen brach sich 1848 die Verbitterung über das gebrochene Verfassungsversprechen Bahn. Deutschlandweit kamen liberal-demokratisch gesinnte Männer und Frauen zusammen, demonstrierten auf den Straßen und Plätzen und griffen die freiheitliche Tradition der Petitionen auf, um Einigkeit und Freiheitsrechte einzufordern. Sie waren wesentlich für die gesamtdeutschen Wahlen mit einem weiten und gleichen Wahlrecht verantwortlich, mit dem schließlich die Frankfurter Nationalversammlung, das Paulskirchenparlament, gewählt wurde. Hier organisierten sich die politischen Strömungen in Fraktionen, die sich nach ihren Treffpunkten nannten, von den Konservativen rechts außen (Café Milani) bis zu den Linksdemokraten (Deutscher Hof und Donnersberg). Die Nationalversammlung verabschiedete am 27. März 1849 die Reichsverfassung. Die Grundrechte des deutschen Volks, ein beeindruckender Grundrechtskatalog, der später wesentlich das Grundgesetz prägen sollte, hatten die Parlamentarier bereits am 27. Dezember 1848 erlassen. Die Verfassung war geprägt von einer „stupenden Modernität“, urteilt der Jurist Horst Dreier. Im Frühjahr 1848 schwenkten die Menschen überall schwarz-rot-goldene Flaggen und sangen die patriotischen Freiheitslieder. In der Paulskirche hing über dem Rednerpult in schwarz-rot-goldenen Farben die Germania.

Weitere Entwicklungen

Das gesamtdeutsche Parlament, der Liberalismus, die Demokratie, die Freiheitsversprechen wurden brutal unterdrückt und 1849 schließlich blutig niedergeschlagen. Die Revolution hatte verloren. Aber wie schon in der ersten Jahrhunderthälfte ließen sich die Versprechen von Freiheit, von einem Rechtsstaat und Einheit nicht auf die Dauer unterdrücken. Und an manchen Stellen hatte die Revolution doch gesiegt. Nicht so glorreich, nicht so schön und schwarz-rot-gold wie erhofft. Doch 1849 installierte Preußen endlich eine Verfassung. Ebenso gab es nun in fast allen deutschen Ländern eine Verfassung und ein Wahlrecht, das einem großen Teil der Männer die Wahl eines Parlaments ermöglichte. 1867/71 kam es unter Bismarck zur deutschen Einheit. Viele Liberale waren davon überzeugt, dass die Reichsgründung eine Aussöhnung mit der Revolution und dem „Verlangen der deutschen Seele für Einheit und politische Freiheit“ sei, so 1913 der Diplomat Johann Heinrich von Bernstorff, der in der Weimarer Republik für die Demokratie kämpfte und 1933 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz floh. Auch viele derjenigen, die 1848/49 für eine Verfassung und Mitbestimmung gekämpft hatten, sahen das so. „[D]ie Tränen fließen mir über die Backen“, kommentierte der nationalliberale Historiker und Politiker Heinrich von Sybel die Einheit von 1871. „Was zwanzig Jahre der Inhalt alles Wünschens und Strebens gewesen, das ist nun in so unendlich herrlicher Weise erfüllt!“ Manche demokratische Revolutionäre von 1848 wie Carl Schurz waren begeistert von der deutschen Einigung und sahen zumindest teilweise die revolutionären Ziele der Einheit, des Rechtsstaats und der Freiheit erfüllt.

Auch wenn viele liberale Wünsche noch nicht erfüllt waren, und sich das Reich unter Bismarck und Wilhelm I. nicht in der schwarz-rot-golden freiheitlichen Tradition sah, so gab es nun doch ein modernes allgemeines und gleiches Wahlrecht und ein gesamtdeutsches Parlament, das mit relativ großen Kompetenzen ausgestattet war. Kein Gesetz und kein Budget konnte ohne den Reichstag verabschiedet werden. Die Historikerin Margaret Anderson spricht von „Lehrjahren der Demokratie“ in diesen Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg. Der Nationalismus wurde mit der bejubelten Einheit zu einem Massenphänomen und ging Hand in Hand mit einer Massenpolitisierung. Die Zeitungen wurde immer günstiger, die Öffentlichkeit lebendig und ausdifferenziert. Das Leben der breiten Bevölkerung war dank der Industrialisierung, der Arbeit und dem wachsenden Lebensstandard auch für die Ärmsten im Kaiserreich so gut wie noch nie zuvor. Hungersnöte waren nun undenkbar geworden, und alle Schichten diskutierten die „soziale Frage“.

In dieser Zeit finden sich die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik. Die Nation wurde vorsichtig verbunden mit dem Anspruch der Bürger und auch der Bürgerinnen auf soziale Solidarität. Das Kaiserreich öffnet aber auch den Blick auf die dunklen Seiten der Demokratisierung. Wie in vielen anderen Industrieländern ging die Demokratisierung und Massenpolitisierung einher mit aggressiver Exklusion, Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus. Der moderne Staat, der sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, konnte so effektiv werden, weil es ihm gelang, die Menschen über die nationale Identität und über verfassungsrechtlich garantierte Partizipation an sich zu binden. Man könnte auch umgekehrt sagen: Dem Bürgertum war es gelungen, Verfassungen, die nationale Idee und Partizipationsrechte durchzusetzen, so dass sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit dem Staat identifizieren konnte und ihn freiwillig – „patriotisch“ – unterstützte wie bisher noch nie in der Geschichte. Doch dieser potente Staat war eben auch in der Lage, mit seiner beispiellosen Gewalt den Kolonialismus zu betreiben und Armeen aufzustellen, die im Ersten Weltkrieg ein nie gekanntes Ausmaß an Zerstörung anrichteten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bauer, Franz J.: Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert. Profil einer Epoche. Stuttgart 2004, S. 41-50; Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 32009, S. 1297.

  2. Vorwärts, 31.12.1899.

  3. Liah Greenfeld, Nationalism. Five Roads to Modernity. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1993, S. 10; vgl. Andreas Fahrmair: Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee. Stuttgart 2017.

  4. August von Hardenberg, Reorganisation des Preußischen Staats, Riga, 12.9.1807 (Rigaer Denkschrift), URL: http://www.staatskanzler-hardenberg.de/quellentexte_riga.html (3.1.2023).

  5. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1983, S. 38.

  6. Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Taschenbuchausgabe. München: C.H.Beck, 2023, S. 34-37.

  7. Michael Krüger: Einführung in die Geschichte der Leibeserziehung und des Sports. Teil 2: Leibeserziehung im 19. Jahrhundert: Turnen fürs Vaterland. 33. Aufl. Schorndorf: Hofmann-Verlag, 2020.

  8. Franz Osterroth u Dieter Schuster: Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 1: Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. 21975, zitiert nach FES Library, URL: http://library.fes.de/fulltext/bibliothek/chronik/band1/e235e15.html

  9. Siemann, Wolfram: Metternich. Stratege und Visionär. München 2016.

  10. Geisthövel, Alexa: Restauration und Vormärz 1815-1847. Paderborn 2008, S. 34-36.

  11. Nolte, Paul: Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten. 1800-1820. Frankfurt u. New York 1990.

  12. Philipp Erbentraut: Theorie und Soziologie der politischen Parteien im deutschen Vormärz 1815–1848. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, 2016.

  13. Axel Kuhn: Die deutsche Arbeiterbewegung. Stuttgart: Reclam, 2004.

  14. Richter: Demokratie, 73-81.

  15. Kocka: Kampf um die Moderne, S. 83.

  16. Nipperdey, Bürgerwelt, S. 41.

  17. Christina von Hodenberg: Aufstand der Weber. Die Revolte von 1844 und ihr Aufstieg zum Mythos. Bonn 1997, S. 70.

  18. Kuhn, Axel: Die deutsche Arbeiterbewegung. Stuttgart 2004, S. 26 f.

  19. Hitzer, Bettina: Protestantische Philanthropie und Zivilgesellschaft in Deutschland: Ein vieldeutiges Verhältnis, in: Arnd Bauerkämper u. Jürgen Nautz (Hg.): Zwischen Fürsorge und Seelsorge: Christliche Kirchen in den europäischen Zivilgesellschaften seit dem 18. Jahrhundert, S. 113-130.

  20. Hedwig Richter: Demokratie, S. 84 f.

  21. „70 Jahre Grundgesetz. Das Erbe der Paulskirchenverfassung“, Feature von Annette Wilmes, 22.5.2019, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/70-jahre-grundgesetz-das-erbe-der-paulskirchenverfassung.976.de.html?dram:article_id=449426.(13.02.2020)

  22. „Das Denkmal für Karl Schurz“, Kölnische Zeitung, Nr. 601, 25.5.1913.

  23. Heinrich von Sybel an Hermann Baumgarten, 27.1.1871, in: Julius Heyderhoff (Hg.): Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859-1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer, Bd. 1. Bonn und Leipzig: Kurt Schroeder, 1925, S. 494.

  24. Carl Schurz: Lebenserinnerungen, Bd. II Berlin: Georg Reimer, 1907, S. 486 f.

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Weitere Inhalte

Hedwig Richter ist Professorin für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die deutsche und europäische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert sowie die Demokratie- und Diktaturforschung.