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1848 in der Geschichte von Volk und Nation in Deutschland | Die Revolution von 1848/49 | bpb.de

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1848 in der Geschichte von Volk und Nation in Deutschland

Dieter Langewiesche

/ 7 Minuten zu lesen

Mit der Revolution von 1848 entstand erstmals ein deutscher Nationalstaat. Zuvor zeichnete sich der deutschsprachige Raum durch Vielstaatlichkeit und föderative Staatenbünde aus.

Frankfurter Nationalversammlung, kolorierter Holzstich aus dem 19. Jahrhundert. (© picture-alliance, Bianchetti/Leemage)

Im Jahr 1848 entstand erstmals eine deutsche Staatsnation. Bis dahin blieb die deutsche Nation eine imaginierte Gemeinschaft ohne Staat. Zu ihr konnte man sich bekennen, doch das verlieh keinerlei Rechte, da sie keine Bindung an einen Staat besaß. Der deutsche Raum zeichnete sich durch zahlreiche kleine und große Staaten aus. Rechtlich gesehen gehörten die Bürgerinnen und Bürger beispielsweise zu Bayern, Sachsen, Württemberg oder Preußen, nicht aber zu Deutschland.

Das änderte sich, als 1848 aus der Revolution das Deutsche Reich hervorging. Damit wurde die deutsche Nation zur Staatsnation und das deutsche Volk zum Staatsvolk. Volk und Nation wurden damals als austauschbare Begriffe gebraucht. Die von der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche verabschiedeten Reichsverfassung vom 28. März 1849 bestimmte in ihrem Grundrechtsteil, dass alle Angehörigen der deutschen Bundesstaaten zum deutschen Volk gehörten. Ihnen wurde das neue Reichsbürgerrecht zugesprochen, ebenso den Angehörigen der „nicht deutsch redenden Volksstämme Deutschlands“ (§ 188), z. B. den Dänen in Schleswig, den Polen in Preußen oder, falls sich Österreich dem neuen Staat doch noch einfügen sollte, den Tschechen in Böhmen.

Die Reichsverfassung – die erste nationalstaatliche Verfassung in der deutschen Geschichte – bestimmte das „deutsche Volk“ also weder historisch noch sprachlich oder ethnisch, sondern verfassungsrechtlich als Staatsvolk. Dieses bezog sich nicht auf den deutschen Sprachraum insgesamt, sondern auf die Grenzen des neuen deutschen Nationalstaates. Damit markiert die Staatsgründung von 1848 eine der tiefsten Zäsuren in der deutschen Geschichte. Die vielstaatliche deutsche Föderativnation war als Idee im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation entstanden. Als es 1806 unter dem Druck der napoleonischen Kriegspolitik endete war, verlor die Idee deutsche Nation diesen Rückhalt.

Erst als 1815 auf dem Wiener Kongress der Deutsche Bund gegründet wurde, gab es wieder ein staatliches Gehäuse, auf das die Idee Nation sich ausrichten konnte. Doch der Bund war erneut ein vielstaatliches Gebilde. Dies änderte die 1848er Revolution grundlegend. Sie schuf mit dem Deutschen Reich erstmals einen Nationalstaat, in dem eine Staatsnation entstehen konnte. Dieses neue Reich, ein föderativer Nationalstaat, scheiterte zwar mit der Revolution. Jedoch hatte die Revolution von 1848 eine Möglichkeit deutscher Einheit erprobt, die als Zukunftsvision nicht mehr verlorenging. Dass der nach der Revolution wiederbelebte Deutsche Bund stärker als zuvor die innere Nationsbildung voranbrachte und dessen Mitgliedsstaaten Pläne für eine Abgeordnetenkammer im Bund entwickelten, griff auf die Erfahrungen der beiden Revolutionsjahre von 1848 und 1849 zurück.

Mit der Entscheidung von 1848, das „deutsche Volk“ als Staatsvolk zu bestimmen, erhielt die Idee Nation erstmals in der langen Geschichte der Deutschen eine feste Gestalt mit klaren Grenzen. Zur Staatsnation und zum Staatsvolk gehörten nur die Bürger und Bürgerinnen des Deutschen Reichs. Doch auch außerhalb dieses neuen Staates lebten Deutsche. Sie sprachen deutsch, pflegten deutsche Kultur und nannten sich Deutsche, gehörten jedoch zu anderen Staaten. Solche nationalen Gruppen nannte man im 19. Jahrhundert meist Nationalität. In den meisten Staaten lebten mehrere Nationalitäten zusammen.

Zum Problem wurde dies erst, wenn sie ihren eigenen Staat verlangten oder gemischtnationale Gebiete von mehreren Staaten beansprucht wurden. So kam es beispielsweise 1848 zum Krieg um Schleswig und Holstein. Sowohl die dänische als auch die deutsche Nation beanspruchten diese beiden Gebiete für ihre Staaten. Diese Rivalität wurde erst 1864, erneut militärisch, entschieden. Es war der erste der drei Kriege (Deutsch-Dänischer Krieg 1864, Deutscher Krieg 1866, Deutsch-Französischer Krieg 1871) auf dem Wege zum zweiten deutschen Nationalstaat, dem Deutschen Reich von 1871. Es entstand wie sein Vorgänger, das Deutsche Reich von 1848/49, als Bundesstaat. Darin wird eine Kontinuitätslinie sichtbar, die die deutsche Geschichte bis in die Gegenwart durchzieht.

Vor den beiden nationalstaatlichen Reichsgründungen von 1848 und 1871 lebten die Deutschen vielstaatlich. Man sprach vom deutschen Volk, aber auch von deutschen Völkern. Man konnte sich mit einer deutschen Nation identifizieren, doch diese imaginierte Gemeinschaft verteilte sich auf viele Staaten unter dem Dach des Alten Reichs und dann des Deutschen Bundes. Die deutsche Nation war wie auch die schweizerische eine Föderativnation. Als historischer Typus grenzte sie sich scharf ab von der Einigung anstrebenden Nation und deren Homogenitätsideal („eine Nation – ein Staat“). In Frankreich hatte die Revolution von 1789 den Weg in diese Form des Nationalstaates mit enormer Gewalt vorangetrieben. Die königlichen Häupter fielen unter der Guillotine, die Republik wurde in Provinzen gegliedert, ihre Gegner verfolgt und vernichtet, die Brücken zur Vergangenheit sollten abgebrochen werden.

Einen solchen Bruch gab es in der deutschen Geschichte nicht. Als das Alte Reich in der napoleonischen Kriegsära aufgelöst wurde, stand die Entstehung eines deutschen Zentralstaates, der zum Rahmen einer geeinten Nation geworden wäre, nicht zur Debatte. Weder die europäischen Mächte noch die deutschen Fürsten wollten ihn. Die deutsche Nation war damals kein Akteur, sie erhielt keine Stimme, als die europäischen Mächte auf dem Wiener Kongress den Deutschen Bund als neue deutsche Staatenordnung schufen. Das Volk galt weiterhin als Anhängsel des Territoriums, das mit ihm verschoben wurde. Sein Wille zählte nicht.

Es ging damals um Staatsbildung, nicht um Nationsbildung. Erst im Rückblick wurde daraus ein nationales Erweckungserlebnis der Deutschen gemacht. Doch national dachte zu dieser Zeit nur eine Minderheit von Gebildeten. Die Übergangsphase zwischen dem Ende des Alten Reichs und der Gründung des Deutschen Bundes war eine Ära der feindlichen Übernahmen unter den Fürsten, die mit oder gegen Napoleon ihre Territorien erweiterten. Der Deutsche Bund schuf erneut ein staatenbündisch-föderatives Dach über die zahlreichen deutschen Staaten, die das Ende des alten Europas überlebt hatten.

Die neuen größeren Staaten zu vereinheitlichen und die Zustimmung der Menschen zu gewinnen, war ein langwieriger Prozess voller Konflikte. Er verlief in den deutschen Staaten unterschiedlich, doch überall erfolgreich. Das bezeugt die Revolution von 1848/49. Die jungen Staaten wurden nur von einer republikanischen Minderheit in Frage gestellt. Sie zielte auf den Nationalstaat als unitarische, also Einigung erstrebende, Republik. Doch die übergroße Mehrheit wurde 1848/49 von der Nationalversammlung in Frankfurt am Main repräsentiert. Sie schuf mit dem Deutschen Reich einen föderativen Nationalstaat als Bundesstaat.

In dieser Entscheidung spiegelt sich die Nationsbildung, wie sie sich in den Jahrzehnten zwischen 1815 und 1848 vollzogen hatte. Die Idee der deutschen Nation stand nicht mehr nur für die Hoffnung einer kleinen gebildeten Minderheit, sie hatte größere Bevölkerungskreise erfasst. Es hatten sich große Organisationen gebildet, deren Mitglieder über die Grenzen der deutschen Staaten hinweg zusammenkamen, sich wechselseitig informierten und gemeinsame Feste feierten. Turner, Sänger und Schützen bildeten die größten Organisationen. In ihnen vollzog sich Nationsbildung in dem Sinne, dass die Idee der deutschen Nation in ihnen eigenständig gelebt wurde, ohne staatliche Beteiligung oder auch gegen die Staaten, die darin die Gefahr sahen, dass aus Untertanen Staatsbürger werden.

Die Idee der Nation zeigte sich hier als Freiheitsvision. Je stärker die einzelnen Staaten repressiv auf diese Hoffnung reagierten, umso stärker wurde der Ruf nach einem gemeinsamen Nationalstaat. Er wurde zu einem Freiheitsversprechen. Die große Mehrheit derer, die ihn forderten, vor allem Liberale und Demokraten, aber auch politisch nicht festgelegte Unternehmer und Handwerker, stellten sich ihn nicht als einen unitarischen Staat vor. Sie dachten weiterhin föderativ. Doch die seit langem bestehende Vielstaatlichkeit sollte in einen föderativen Nationalstaat überführt werden, der die einzelnen Staaten mitsamt ihren Institutionen nicht auslöschen, sondern bundesstaatlich integrieren würde.

Zu den Kräften der inneren Nationsbildung gehörten auch der Deutsche Bund und der 1834 gegründete Deutsche Zollverein, einem Zusammenschluss deutscher Staaten im Bereich der Zoll- und Handelspolitik. In ihnen kooperierten Staaten und ihre Verwaltungen. Doch sie verweigerten der Nation die Möglichkeit mitzuwirken. Als im Frühjahr 1848 aus dem Bund heraus ein Gremium geschaffen wurde, um eine neue nationalstaatliche Verfassung auszuarbeiten, war es zu spät. Die Revolutionsbewegung ließ sich darauf nicht mehr ein, sondern schuf sich mit der Nationalversammlung, der Reichsregierung und einem provisorischen Reichsoberhaupt ihre eigenen nationalstaatlichen Institutionen. Doch auch die Einzelstaaten wurden reformiert. Diese Zweigleisigkeit festigte den Weg zum deutschen föderativen Nationalstaat, in dem die Einzelstaaten nicht nur überleben, sondern demokratisch reformiert gestärkt würden.

Die vormärzlichen Massenorganisationen der Turner, Sänger und Schützen, waren im Kern Männerbünde. An ihren gesellschaftlichen Veranstaltungen beteiligten sich auch Frauen, zum Teil waren es Familientreffen, doch es blieben von Männern dominierte Organisationen. In der Revolution von 1848 erweiterten sich die Möglichkeiten für Frauen stark, in den politischen Räumen aktiv mitzuwirken, doch das Parlament als der zentrale Ort, an dem die politische Nation zusammenkam, debattierte und entschied, war ausschließlich Männern vorbehalten. Die Idee der Nation blieb politisch vor allem für Männer ein Freiheitsversprechen. Am Wahlrecht lässt sich beobachten, wie lange es in den deutschen Staaten gedauert hat, bis auch Frauen dieses fundamentale Partizipationsrecht erhielten. Erst der dritte deutsche Nationalstaat, die Weimarer Republik, machte Frauen zu politisch vollberechtigten Mitgliedern der deutschen Nation.

Auch die Weimarer Republik entstand als föderativer Bundesstaat. Die Verfassung sprach in der Präambel nicht von Nation, sondern vom „Deutschen Volk“, das „einig in seinen Stämmen“ sein Reich erneuere und festige. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kannte man noch deutsche Völker, und man konnte beispielsweise von bayerischer oder rheinischer Nation sprechen. Das änderte sich 1848 mit dem ersten deutschen Nationalstaat. Die Revolution und ihr Werk bewirkten eine Zäsur im politischen Denken. Wer von deutscher Nation und deutschem Volk sprach, hatte fortan eine staatliche Einheit vor Augen, untergliedert in Stämme und Bundesstaaten. Das Wort Stamm schlug eine Brücke in die vielstaatliche Vergangenheit und rechtfertigte es, wenn sich Bayern, Sachsen oder Preußen auch in der Gegenwart weiterhin kollektiv als unterschiedlich wahrnahmen. Stamm galt nicht als Gegensatz zu Volk und Nation, sondern stand für eine historisch-kulturelle Differenzierung in der Einheit.

Es war und blieb bis in unsere Gegenwart eine föderale Einheit. Die Formen dieser Einheit befanden sich stets in einem ständigen Prozess des Wandels. Die stärksten Einschnitte erzwangen Kriege; keiner so radikal wie der Zweite Weltkrieg. Doch so fundamental seit 1945 mit der staatlichen Neuordnung Mittel- und Osteuropas die Staatlichkeit der deutschen Nation verändert wurde, setzte sich die föderative Grundlinie der deutschen Geschichte in der Bundesrepublik fort. Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staat im Jahr 1990 verfestigte sie und bestätigte den Wandel von der vielstaatlichen Föderativnation zur föderativ-bundesstaatlichen Staatsnation.

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Dieter Langewiesche ist emeritierter Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten zählen u.a. die Geschichte des Nationalismus und Liberalismus.