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Workshop 2: Identitäten in der Demokratie: Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge: Fremd- und Selbstwahrnehmungen | Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe | bpb.de

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Workshop 2: Identitäten in der Demokratie: Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge: Fremd- und Selbstwahrnehmungen

Igor Mitchnik

/ 5 Minuten zu lesen

Panelteilnehmer*Innen:

  • Ernst Strohmaier, Landsmannschaft der Deutschen aus Russland

  • Dr. Dmitri Belkin, Historiker, Ernst-Ludwig-Ehrlich Studienwerk, Berlin

Moderation: Andreas Apelt, Deutsche Gesellschaft e.V., Berlin

Panelteilnehmer des Workshop 2 (Björn Stysch) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

"Oy vey – unsere Ängste sind ähnlich", rief Ernst Strohmaier aus, stellvertretender Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. Er saß im Workshop und reagierte damit auf einen Beitrag seines Diskussionspartners Dmitrij Belkin, Referent des jüdischen Begabtenförderungswerks ELES. Belkin und die knapp 20 Workshop-Teilnehmenden erwiderten den Ausruf mit einem vorsichtigen Lachen.

"Oy vey", ist ein jiddischer Ausruf, der Betroffenheit und Empathie seitens des Sagenden signalisiert. Die symbolische Geste unterfütterte Strohmaier mit Aufzählungen von Gemeinsamkeiten zwischen beiden Einwanderungsgruppen, den sogenannten jüdischen Kontingentflüchtlingen und Russlanddeutschen: Der Nachwuchs beider Gruppen habe sich von der Mehrheitsgesellschaft in den 1990ern zu wenig "abgeholt" gefühlt. Ebenso beschäftigten sich beide Gruppen intensiv mit Fragen der eigenen Identität. Die älteren Generationen würden ähnliche Probleme belasten – vor allem Altersarmut, fehlende Anerkennung und Depressionen bei denen, die nicht in das Gemeinwesen eingebunden werden konnten.

Doch so harmonisch verlief der Workshop, der sich mit "Identitäten in der Demokratie: Russlanddeutsche und jüdische Kontingentflüchtlinge: Fremd- und Selbstwahrnehmungen" befasste, nicht die ganze Zeit. Bei der Diskussion um Wahrnehmungen der Gruppen untereinander, boten die sich hartnäckig haltenden Vorurteile einigen Zündstoff, den die Diskussionspartner gut zu entschärfen wussten. Um die Vorurteile zu verstehen, griffen die beiden Referenten weit in die Geschichte der Sowjetunion zurück und unterfütterten diese mit eigenen Erfahrungen.

Belkin erinnerte sich an seine Deutschlehrerin: "Sie war pünktlich, sachlich, ruhig. Sie entsprach deutschen Stereotypen zu 100 Prozent!" Jenseits der positiven Vorurteile, konnte er sich an eine kollektive Stigmatisierung der Deutschen in der jüdischen Community nicht erinnern. "Die Negativität kam erst in Deutschland", sagt Belkin. In jüdischen Kreisen habe sich das Vorurteil entwickelt, so Belkin, dass man zielgerichtet durchs Leben ginge und die Deutschen aus Russland nur Drogen nehmen und trinken würden.

Strohmaier betonte, dass die unter Russland-Deutschen kursierenden Vorurteile über Jüdinnen und Juden nichts mit nationalsozialistischer Propaganda zu tun hätten. "Es war schlicht eine andere Gruppe, mit anderen Umgangsformen", sagt er. Dazu käme, ergänzte Strohmaier, dass viele Jüdinnen und Juden Mitglieder der kommunistischen Partei gewesen waren und sich tendenziell stärker im Sowjetsystem assimilierten. Aus diesem Grund neigten die Deutschen aus Russland dazu, sie kollektiv als Kommunisten zu verunglimpfen.

Eine ähnliche Assimilation in das Sowjetsystem lehnten viele Russland-Deutsche ab. Ein Grund dafür sei, erläuterte Strohmaier, dass sie sich – so heterogen diese Gruppe religiös und kulturell auch bis heute noch sei – als "Schicksalsgemeinschaft" begreifen würden. Das resultiere in einem kollektiven Gedächtnis, das sich nicht nur an die stalinistischen Deportationen erinnere, sondern auch daran, dass Russland-Deutsche in Teilen der Sowjetunion nicht leben und bestimmte Unis und Schulen nicht besuchen durften.

"Fühlt sich eine Gruppe dadurch stärker benachteiligt?", fragte der Moderator der Diskussion Andreas Apelt. Apelt ist Gründungsmitglied und Vorstandsbevollmächtigter der "Deutschen Gesellschaft", einem Verein, der sich dem Ziel verschrieben hatte, das Miteinander in Deutschland und Europa zu fördern und Vorurteilen entgegenzutreten. Strohmaier bejahte die Frage und erklärt, dass Jüdinnen und Juden trotz Diskriminierung über mehr Möglichkeiten im Sowjetsystem verfügt hatten. "Die Deutschen aus Russland waren aus dem System gedrängt. Nicht nur aus der Bildung, sondern aus dem gesamten öffentlichen Leben." Daraus speisten sich bis heute Vorurteile in der Community, dass Juden und Jüdinnen gut versorgt seien.

Hinzu käme das Gefühl auch in Deutschland weniger gefördert zu werden. Strohmaier wirft beschwichtigend ein, dass man die Situation der beiden Gruppen nicht vergleichen solle und er das auch in seiner Community immer wieder betone. Nicht nur, weil man die deutsche Verantwortung für den Holocaust bedenken müsse, sondern "weil solche Vergleiche schlicht chauvinistisch sind. Diejenigen, allerdings, die uns gegeneinander aufhetzten, wussten, warum sie das taten", sagte er mit Anspielung auf die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion. Die Workshop-Teilnehmenden murmelten zustimmend.

"Und was denken Sie, Herr Belkin? Wurden Juden unterdrückt oder fiel ihnen das Leben leichter als den Russlanddeutschen?", fragte Apelt. Belkin zögerte kurz, sagte dann nachdenklich: "Die Leichtigkeit des kollektiven Schicksals ist so eine Sache. Etwa 2,2 Millionen Juden wurden in der Sowjetunion im zweiten Weltkrieg nur wegen ihrer Herkunft getötet." Es sei schwerer zu sagen, ob eine Gruppe, die mindestens zur Hälfte gezielt umgebracht worden ist und im späten Stalinismus (1948-53) staatlichem Antisemitismus ausgesetzt war, ein einfacheres oder schwereres Schicksal erlitten habe.

Dennoch sei das Vorurteil, dass Jüdinnen und Juden nur Opfer der sowjetischen Geschichte gewesen seien, absurd, ergänzt Belkin. "Besonders in der frühen Sowjetunion – bis etwa 1937 – konnten und wollten Juden auch erfolgreich sein. Eine stolze sowjetisch-jüdische Nation!" Im Gegensatz zur Zeit des Stalinismus habe aber Ende der 1980er und Anfang der 1990er keine Verfolgung der Juden vorgelegen. Er begreife es deshalb als paradox und symbolpolitisch, dass man in Deutschland die jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Zeitraum von 1990 bis 2005 juristisch als Kontingentflüchtlinge einstufte.

Im Gegensatz zu den Deutschen aus Russland, hätten die jüdischen Kontingentflüchtlinge weniger das Gefühl eine Schicksalsgemeinschaft zu sein, als durch die Mehrheitsgesellschaft zu einer gemacht zu werden. Die Selbstwahrnehmung vieler älterer Menschen dieser Gruppe liege noch im nationalen Bereich. "Wenn ich nach meiner Nationalität gefragt wurde, antwortete ich ‚jüdisch’", sagt Belkin. Das fehlende Verständnis dafür in Deutschland, wo Judentum allein als Religion begriffen wurde, führe auch zu Wandlungen in der Selbstwahrnehmung.

Eine Deutsche aus Russland fragte Belkin, ob jüdische Einwandernde Sprachtests nachweisen mussten. "Nein, erst ab 2006", antwortete Belkin. "Also wurden sie doch bei der Aufnahme bevorzugt!", rief die Frau empört. Strohmaier unterbrach, erklärte dass die Einwanderungs-Programme völlig unterschiedlich gewesen sind. "Die Sprachtests für Deutsche galten als Nachweis dafür, dass sie wirklich Deutsche waren." Bei der jüdischen Einwanderung sei es Deutschland vornehmlich um Integration gegangen: Wie andere Kontingentflüchtlinge zuvor bekamen sie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis sowie kostenlose Sprachkurse zugesichert.

Allerdings hätten die jüdischen Kontingentflüchtlinge im Gegensatz zu den Deutschen aus Russland keinen Zugang zum deutschen Rentensystem gehabt, erklärte Belkin. Die Anerkennung von Arbeitsjahren in der Sowjetunion blieb ihnen verwehrt. Die Frau ließ sich nicht besänftigen und erläuterte, dass Juden in der Sowjetunion vieles einfacher bekommen hätten, "worüber wir Deutschen in Russland stolperten" – und das obwohl sie die Ermordung der Juden im zweiten Weltkrieg niemals unterstützt hätten. "Meine Mutter, Schwarzmeerdeutsche, hat im Krieg neben Juden gelebt", erzählte die Frau aufgewühlt. "Das Schlimmste, was sie im Krieg erlebt hatte, sagte sie mir immer wieder, sei die Erschießung der Juden gewesen!"

Belkin fragte vorsichtig in ihre Richtung: "Aber warum stolpern sie dann über die Erfahrungen der Juden?" – "Das weiß ich nicht", erwiderte die Frau verunsichert. "Ich bin aber auch das erste Mal in einer Diskussion mit Juden." Eine Teilnehmerin merkte am Rande des Workshops an, dass "so ein offener Austausch in dieser Form vermutlich nicht mehr stattgefunden hat, seit Russlanddeutsche und jüdische Einwanderer Anfang der 1990er Jahre gemeinsam in den deutschen Flüchtlingsheimen untergebracht waren." Trotz der emotionalen Stimmung eskalierte die Diskussion nicht. Dafür schien das aufrichtige Interesse aneinander zu groß zu sein. "Erst wenn wir verstehen, wie sowjetische Geschichte funktionierte, sind wir in dieser Diskussion einen Schritt weiter", erklärte Belkin zum Schluss. Nach dieser Begegnung im Workshop war man das zweifellos auch.

Fussnoten