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Grußwort des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Herrn Hartmut Koschyk, MdB | Aussiedlung – Beheimatung – Politische Teilhabe | bpb.de

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Grußwort des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Herrn Hartmut Koschyk, MdB

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- Es gilt das gesprochene Wort -

Ich freue mich sehr, heute und morgen bei dieser Fachtagung dabei zu sein und überbringe Ihnen die herzlichen Grüße der Bundesregierung. Schon kurz nach meinem Amtsantritt als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten habe ich eine solche Integrationsfachtagung speziell für die Deutschen aus Russland initiiert. Ich danke der Bundeszentrale für politische Bildung, dass sie sich dieser wichtigen Thematik jetzt auch in Form dieser großen Veranstaltung angenommen hat. Ich möchte in diesen Dank auch die zahlreichen Publikationen der Bundeszentrale einbeziehen, die solide Informationen zu den Deutschen aus Russland für verschiedene Zielgruppen anbieten.

Von der Bundeszentrale für politische Bildung kam auch die Anregung, bei der Integrationsfachtagung für die Deutschen aus Russland die Schnittmengen dieser Gruppe mit anderen Zuwanderungsgruppen aus der ehemaligen Sowjetunion in den Blick zu nehmen. In engem zeitlichen Zusammenhang mit der Auflösung der Sowjetunion siedelten sich seit 1990 ca. 215.000 "Kontingentflüchtlinge" mit jüdischem Hintergrund in Deutschland an. Zudem leben gut 230.000 Menschen in Deutschland, die ausschließlich einen russischen Pass besitzen.

Wir wissen um das deutliche Bekenntnis der Deutschen aus Russland zur deutschen Sprache, zur deutschen Kultur und um ihren starken Willen, als Deutsche unter Deutschen leben zu wollen. Darin wollen wir sie auch weiter bestärken. Gleichzeitig haben wir nicht nur einfach Verständnis für den häufigen Wunsch, die sprachlichen und kulturellen Verbindungen zur früheren Heimat nicht abreißen zu lassen. Wir begrüßen die Pflege dieser freundschaftlichen Beziehungen sogar ausdrücklich, weil die Deutschen aus der früheren Sowjetunion gemeinsam mit den heute noch in ihrer angestammten Heimat lebenden deutschen Landsleuten die geborenen Brückenbauer für die Beziehungen Deutschlands mit den jeweiligen Staaten sind. Von deren bilingualer und auch bikultureller Kompetenz profitieren nicht nur die Deutschen aus Russland und die anderen aus der früheren Sowjetunion Zugezogenen, sondern auch unser Land als Ganzes.

Rund 2,4 Millionen Russlanddeutsche haben als Aussiedler oder Spätaussiedler die Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten verlassen, um in Deutschland eine neue Heimat zu finden. Als Bundesregierung sprechen wir heute von einer Erfolgsgeschichte der Integration der Aussiedler. Nur in der Öffentlichkeit kam diese Erkenntnis zögerlich an. Die Integration der Spätaussiedler in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland vollzog sich Ende der 80er Jahre zunächst lautlos. Dann folgten die 90er Jahre mit Zuzugszahlen im sechsstelligen Bereich. Über Jahre zeichnete die Berichterstattung in den Medien ein negatives Bild, etwa von straffällig gewordenen russlanddeutschen Jugendlichen. Auch Wissenschaftler wagten keine günstigen Prognosen. Über Normalität und Erfolge wurde lange kaum berichtet. Die Spätaussiedlerfamilien wurden in der Öffentlichkeit zumeist als russischsprachige Familien wahrgenommen und nicht als Deutsche, die unter Deutschen leben wollen. So war es nicht verwunderlich, dass sich viele in der neuen Heimat nicht willkommen fühlten. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Deutsche aus Russland die Integrationsverantwortung vor allem sich selbst und verhältnismäßig selten der Mehrheitsbevölkerung oder dem deutschen Staat zuschreiben. Das drückt sich etwa in der Bereitschaft aus, auch Arbeitsangebote mit niedrigeren Qualifikationsanforderungen anzunehmen. Diese eigenen, ganz persönlichen Erfahrungen der Deutschen aus Russland sollen auch Gegenstand dieser Tagung sein.

Doch was genau zeichnet die Identität der Deutschen aus Russland aus? Ich habe in vielen Zusammenhängen auf den Dreiklang von Heimat, Glauben und Identität hingewiesen. Heimat als Identität stiftendes Element geht dabei, und das zeigen gerade die Spätaussiedler aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten, über die angestammte Beziehung zwischen Mensch und Raum hinaus. Heimat ist nicht nur der Ort, in den ein Mensch hineingeboren wird, der seinen Charakter, seine Mentalität, seine Einstellungen und Weltauffassungen prägt. Gerade für die Russlanddeutschen, die vielfach in ihrer angestammten Heimat wegen ihrer deutschen Wurzeln als Fremde behandelt wurden, aber auch nicht in Deutschland heimisch zu werden glaubten, weil sie wegen ihres russischen Akzents oder ihrer Herkunft aus Russland für fremd gehalten wurden, stellt sich die Frage nach der eigenen heimatlichen Verortung auf besondere Weise.

Vielfach ist auch der christliche Glaube gerade für die Spätaussiedler von Identität stiftender Bedeutung. Der säkulare Staat stiftet keinen Lebenssinn; er sättigt nicht die transzendentalen Bedürfnisse des Menschen. Es sind die Spätaussiedler, die aufgrund ihrer mehrheitlich christlichen Verwurzelung und gelebten Religiosität auch ihren in Deutschland geborenen Landsleuten etwas vorleben.

Ich begrüße es daher sehr, dass sich im Rahmen der Integrationsfachtagung ein eigener Workshop speziell mit religiösen Aspekten der Integration und Beheimatung befasst.

Auch haben die Organisatoren eine gute Entscheidung getroffen, indem sie in mehreren Programmteilen explizit auch die historischen Erfahrungen und deren Auswirkungen diskutieren lassen. Ohne Herkunft gibt es keine Zukunft! Leider ist der großartige kulturelle Schatz der Deutschen aus Russland hierzulande lange nicht ausreichend beachtet worden. Aber wir konnten in der laufenden Legislaturperiode endlich einen Quantensprung in der Förderpolitik durchsetzen. Gemeinsam mit dem ersten russlanddeutschen Bundestagsabgeordneten, meinem Kollegen Heinrich Zertik, und mit maßgeblicher Unterstützung aus beiden Koalitionsfraktionen ist es gelungen, dass das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, das schon bislang hervorragende Arbeit geleistet hat, in die Bundesförderung aufgenommen wurde. Auch ist in der Weiterentwicklung der Konzeption zur Erforschung, Bewahrung, Präsentation und Vermittlung der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes ausdrücklich die Einrichtung der Stelle eines hauptamtlichen Kulturreferenten speziell für die Deutschen aus Russland festgeschrieben.

Einen besonderen Impuls durch diese Veranstaltung erwarte ich für die Frage der politischen Teilhabe der Deutschen aus Russland. Die russlanddeutschen Vertreter in den parlamentarischen Gremien auf allen politischen leisten Hervorragendes. Aber ihrer sind eindeutig zu wenig! Dabei geht es nicht nur um die Interessen der Deutschen aus Russland selbst. Gerade das Beispiel von Heinrich Zertik zeigt, wie stark und in wie vielen Bereichen die Politik insgesamt von den wertvollen Lebenserfahrungen, die die Deutschen aus Russland wie auch andere Zuwanderer in einem teilweise auch leidvollen Prozess sammeln konnten, profitieren kann. Schließlich möchten wir die Deutschen aus Russland als Mitgestalter an unserer Seite haben. Etwa bei der Integration von Flüchtlingen brauchen wir die Unterstützung der Deutschen aus Russland. Sie bringen eigene Erfahrungen mit Neuanfang und Heimatsuche ein und können die Erfahrungen ihrer eigenen Integration an die Neuzuwanderer weitergeben.

In den letzten Jahren wurden die Integrationserfolge der Deutschen aus Russland auch in den Medien und im ganz überwiegenden Teil der Gesamtbevölkerung angemessen gewürdigt. Aber es ist eben nicht so, dass man sich auf diesem Erfolg ausruhen und die Integration sich selbst überlassen kann. Das wird uns beim Blick in die Medien klar. Dort häufen sich Berichterstattungen über die Ängste der Deutschen aus Russland vor Überfremdung im Zusammenhang mit der Aufnahme muslimischer Flüchtlinge; Medien verbreiten Berichte von Protesten gegen die Einwanderung der muslimischen Flüchtlinge und ihrer Nähe zur AfD. Im Zusammenhang mit dem "Fall Lisa", der vermeintlichen Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens, wurde und wird in sozialen Netzwerken kolportiert, gemutmaßt, Meinungsmache betrieben; russischsprachige Medien nehmen darauf besonderen Einfluss. Ein solches Verhalten, das möchte ich hiermit deutlich hervorheben, ist nicht repräsentativ für den größten Teil der Deutschen aus Russland.

Eine Studie der Boris Nemzow Stiftung bestätigt dies mit aktuellen Ergebnissen einer im Sommer 2016 durchgeführten Umfrage unter russischsprachigen Einwohnern Deutschlands, zum überwiegenden Teil russlanddeutschen Spätaussiedlern und deren Angehörigen. Demnach fühlen sich von ihnen vier Fünftel in Deutschland gut integriert. 84 Prozent sprechen sich für die Demokratie als Staatsform aus Auch die immer wieder verbreitete Behauptung, Deutsche aus Russland nutzten vorwiegend russischsprachige Medien, ist durch die Studie widerlegt: Tatsächlich werden in allen abgefragten Medienarten überwiegend Angebote in deutscher Sprache genutzt.

Gleichwohl gibt es in der Mediennutzung heimatsprachliche Inseln, es gibt Vorbehalte und Misstrauen gegenüber deutschen Medien, politisches Interesse und Engagement sind eher zurückhaltend. Das alles berührt Aspekte der Meinungsbildung und Meinungsäußerung und damit letztlich Fragen nach der politischen und kulturellen Beheimatung der Deutschen aus Russland vor dem Hintergrund ihrer fast dreihundertjährigen Geschichte. So hat diese Fachtagung auch der Frage nach den Ursachen und Folgen eines solchen Verhaltens nachzugehen. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen in der Selbstwahrnehmung von Spätaussiedlern der ersten und der zweiten Generation, was ihre Identität in politischer und soziokultureller Perspektive betrifft? Verändert sich diese, und wenn ja, in welche Richtung? Wächst Zugehörigkeitsempfinden oder gibt es eine Abweichung? Wenn ja, warum? Es geht dabei auch um die Möglichkeiten zur politischen Teilnahme und Teilhabe der Spätaussiedler und der Rolle der politischen Bildung.

In der Kommunikation mit den Spätaussiedlern müssen Themen wie politische Bildung, Medienkompetenz, Vertrauen in staatliche Institutionen, gesellschaftliche Teilhabe und gesellschaftlicher Zusammenhalt daher noch stärker angesprochen werden. Das kann beispielsweise in den aus dem Haushalt des BMI finanzierten speziellen identitätsfördernden Maßnahmen für Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen nach § 9 Absatz 4 Bundesvertriebenengesetz, den Kursen "Identität und Integration PLUS", geschehen. Seit 2015 haben wir die Mittel hierfür verdoppelt. Gemeinsam mit den wichtigsten Trägern aus Aussiedlerkreisen sind wir dabei, diese Maßnahmen noch besser an die aktuellen Erfordernisse anzupassen. Erste konkrete Anpassungen wurden schon verabredet, die ab 2018 wirksam werden.

Aber es reicht nicht aus, wenn das Thema Identität nur im eigenen Kreise erörtert wird. Hierzu ist eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung erforderlich. Was verstehen wir beispielsweise unter "deutscher" Identität?

Dass es dieser Fachtagung gelingen möge, in offener und konstruktiver Gesprächsatmosphäre, den soeben schlaglichtartig angedeuteten hoch komplexen Fragen nach Identität, Beheimatung und umfassender Teilhabe in Deutschland aus unterschiedlichen Perspektiven aus der Sicht von Betroffenen, Politikern, Verbänden, Behördenvertretern, Wissenschaftlern und anderen Vertretern von Gesellschaft, nachzugehen, ist mein ausdrücklicher Wunsch als Aussiedler-Beauftragter der Bundesregierung.

Fussnoten