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„Zwischenzeit“: Eröffnungsvortrag 
von Dan Diner | Danach – Der Holocaust als Erfahrungsgeschichte 1945 – 1949 | bpb.de

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„Zwischenzeit“: Eröffnungsvortrag 
von Dan Diner

/ 3 Minuten zu lesen

Dan Diner schließt mit seinem Keynote-Vortrag an die von Thomas Krüger benannte „Zäsur“ nach dem Kriegsende 1945 an. Er bezeichnet die Periode, die im Titel der Konferenz als „Danach 1945-1949“ fixiert wird, als „Zwischenzeit“. Historisierungen dieser Art und Periodisierungen bleiben notwendig, um die historischen Ereignisse in den Kontext des Geschehens einzubetten. 


(© Oliver Feist / buero fuer neues denken)

Die Ereignisse, die sich unmittelbar an das Ende des 2. Weltkrieges anschlossen, waren im globalen Rahmen folgenschwer und entfalteten ihre Komplexität sukzessiv in den kommenden Jahren, auch über das Jahr 1949 hinaus. Diner macht am Beispiel des „offiziellen“ Kriegsendes deutlich, wie sich Weltgeschichte mannigfaltig aufspalte. Während der 8. Mai 1945 im Westen als offizielles Kriegsende gilt, feierte man im östlichen Teil der Welt erst am 9. Mai die „Bedingungslose Kapitulation“. Diner führte weiter aus, dass Weltgeschichte auch an anderen Schauplätzen, als dem europäischen stattfand, so zum Beispiel in der Sowjetunion und dem asiatischen Raum.

Mai 1945 – Zeit der Umsortierung



Diner verweist schlaglichtartig auf einige der vielen parallelen Entwicklungslinien dieser Zwischenzeit. Er fächert im Eröffnungsvortrag das Ereignis des Kriegsendes auf und charakterisiert diesen Moment als radikale Neuordnung, vom Kriegsende in Europa über die beginnende Entkolonisierungspolitik in Indien und Palästina am Beispiel Großbritanniens nach 1947 bis zum Luxemburger Abkommen zwischen Israel und der Bundesrepublik nach 1952. Dieses Abkommen verband er mit dem in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum verabschiedeten Gesetz zum Lastenausgleich. In der Lesart westdeutscher Regierungsbeamter, die eben jenen Terminus der Wiedergutmachung geflissentlich vermieden, waren beides letztlich individuelle Hilfen zur Integration, ein Konzept, jüdische Überlebende eben als Einzelne und nicht als Kollektiv wahrzunehmen. 


Das wohl prägnanteste Beispiel war in Diners dichtem Vortrag die Frage nach dem Leben „danach“ für jüdische „Displaced Persons“ – kurz DPs genannt. Der Begriff der Displaced Person deutet bereits auf den singulären Charakter hin, der dem Begriff DP tragischerweise innewohnt. Ihres gesamten Besitzes beraubt, ihrer Heimat entrissen, überlebten im Allgemeinen nur einzelne Familienmitglieder. Diesen vereinzelten Existenzen fehlte jegliche rechtliche Grundlage, um das durch das NS-Regime geraubte Eigentum zurück zu fordern. Besonders schwierig, so betont Dan Diner, stellte sich die Situation dar, wenn kein Mitglied der Familie den Holocaust überlebte. Nach dem sogenannten „Heimfallrecht“, fällt das „Erbenlose Gut“ der jeweiligen Gemeinde zu. An dieser Stelle verweist der Historiker explizit auf die moralische Problematik, die diese Restitutionsfragen im Land der Täter mit sich brachten. Die Tendenz, dass eine Rückerstattung erfolgen sollte, war allgemeiner Konsens in den westlichen Zonen des besetzten Deutschlands, dennoch stellte sich die Frage: Wer sollte erben? An dieser Stelle entfaltete er den Gedanken weiter, dass eben die Sichtweise auf die jüdischen Überlebenden über eine individualistische Perspektive hinausgehen müsse.

Dieses Denken von gesellschaftlichen Minderheiten anders als als Individuen, als Citoyen, war jedoch unbekannt. Auch in der Selbstsicht war, so Diner, das Reden von der jüdischen Nation vor allem liturgischer Natur. In den USA entstanden in der Zwischenzeit in der Frage von Restitution Konzepte, Juden nicht mehr nur individuell wahrzunehmen, sondern als Kollektiv. Es war dann konsequenter Weise vor allem im amerikanischen Sektor, in dem sich dieser spezifischen Problematik angenommen wurde. Obwohl die amerikanische Verfassung, wie auch die britische und die französische, in ihrer Rechtsgrundlage keinen Paragraphen für „Kollektive“ oder Körperschaften beinhaltete, gelang es schließlich doch, den vereinzelten DPs mithilfe des „Militärgesetzes 59“ eine rechtliche Basis zu geben. Schon bei einem Treffen des Jewish World Congress in Atlanta wurde die Forderung nach einem Kollektivanspruch laut, die für „the jewish people as a whole“ vor allem rechtliche Ansprüche sicherstellen sollte.


Fruchtbarer Boden trotz „Verbrannter Erde“


Nach und nach setzten auch die französischen und britischen Besatzungsmächte – Diner sparte die SBZ hier aus – diese Konzeption um. Es begann eine Revolution der Wahrnehmung, und im Zusammenführen seiner verschiedenen Erzählstränge entwickelte Diner das Konzept, das aus den individualisierten Bürgern ohne eigenen Zugang zu Macht ein Kollektiv entstand, das sich gesellschaftlich und politisch etablieren konnte. Dies fiel zusammen mit der beginnenden britischen Entkolonialisierung und so entstanden weitere politische Möglichkeiten für das zuvor durch alliierte Truppen befreite Kollektiv jüdischer Überlebender, die sogenannten „She´erit Hapletah“ (die letzten Überlebenden).

Diner macht grundlegend deutlich, wie sein Konzept von „Zwischenzeit“ entscheidend über nachträglich historisierte Perioden hinaus geht und an die Wurzeln bisheriger Wahrnehmungen ging. Der Historiker konnte in seinem tiefen und substantiellen Vortrag zahlreiche Themen nur streifen und auf viele Ereignisse stichpunktartig verweisen. Mit fast jedem Satz eröffnete er dem Publikum ein neues Feld, das in den folgenden Konferenztagen von den Referenten aufgegriffen werden kann. Dan Diner hat mit seiner Keynote wahrlich den Raum aufgeschlossen, wie Thomas Krüger in seinem Dank feststellte, um diesen in den kommenden Tagen mit spannenden Narrativen zu füllen.


Die komplette Rede Diners im Video:

Dan Diners Rede wurde in abgewandelter Form in der Interner Link: Apuz "70 Jahre Kriegsende" veröffentlicht.

Fussnoten