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Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? - Essay | Wohlstand ohne Wachstum? | bpb.de

Wohlstand ohne Wachstum? Editorial Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? - Essay Wachstum und Herrschaft - Essay Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität: aktuelle Debatten Wert des Wachstums: Kompass für eine Kontroverse Wohlstand messen Wohlstand und Umweltverbrauch entkoppeln Wir brauchen neue Indikatoren – und ein Glücks-Audit für die Politik! - Essay "Wohlstand ohne Wachstum“ braucht gleichmäßige Einkommensverteilung Nachhaltigkeit als Herausforderung für die marktwirtschaftliche Ordnung. Ein Plädoyer Wachstum für alle? Nachhaltiger Konsum Faires Wachstum und die Rolle der Unternehmen

Welches Wachstum und welchen Wohlstand wollen wir? - Essay

Meinhard Miegel

/ 13 Minuten zu lesen

Beim derzeitigen Wissens- und Könnensstand der Menschheit führen Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung dazu, dass immer mehr Länder die Tragfähigkeitsgrenze der Erde durchbrechen und dadurch die Grundlagen ihres bisherigen Erfolges zerstören. Dieser Befund ist ebenso ernüchternd wie besorgniserregend. Von den 158 datenmäßig erfassten Ländern haben etwa 250 Jahre nach Anbruch der Moderne und dem Beginn der Industrialisierung erst 43 einen Entwicklungsstand erreicht, der hinsichtlich der Lebenserwartung und des Bildungsstands der Bevölkerung sowie der pro Kopf erwirtschafteten Gütermenge den heutigen Vorstellungen und Erwartungen von Westeuropäern, Nordamerikanern oder Japanern entspricht. In diesen 43 Ländern lebt mit etwa einer Milliarde Menschen recht genau ein Siebentel der Weltbevölkerung. Soweit der ernüchternde Befund.

Der besorgniserregende Befund ist, dass sich kein einziges dieser Länder innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde befindet. Soll heißen: Sie verbrauchen Regenerierbares schneller, als die Erde es zu regenerieren vermag, erzeugen mehr Schadstoffe, als von Luft, Wasser und Böden abgebaut werden können und setzen bei allem Nicht-Regenerierbarem darauf, dass dem Menschengeschlecht schon etwas einfallen werde, wenn dieses zur Neige geht. So wirtschaften sie munter drauf los und kümmern sich nicht darum, dass die Weltbevölkerung, wirtschaftete sie wie beispielsweise die US-Amerikaner, vier Globen benötigen würde – und folgte sie den angeblich so ressourcen- und umweltbewussten Deutschen immerhin noch 2,6.

Diesen Reichen stehen jene gegenüber, welche die Erde nicht überfordern, dafür aber materiell arm sind. Ihnen können derzeit 57 Länder zugerechnet werden, unter ihnen so bedeutende wie Indien. Insgesamt leben in diesen Ländern mit rund 2,7 Milliarden Menschen knapp zwei Fünftel der Weltbevölkerung. Die Kehrseite für ihren zumeist nicht freiwillig schonlichen Umgang mit Umwelt und Ressourcen ist neben einem niedrigen materiellen Lebensstandard eine im weltweiten Vergleich geringe Lebenserwartung und Bildung.

Zu einer dritten Gruppe gehören gegenwärtig 58 Länder, unter ihnen ein Schwergewicht wie China, mit einer Gesamtbevölkerung von rund 2,5 Milliarden Menschen. Kennzeichnend für diese Gruppe ist, dass sie zwar mehrheitlich noch weit von der Wohlhabenheit der Arrivierten entfernt ist, aber dennoch schon jetzt die Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zum Teil erheblich überschreitet und mit jedem weiteren Schritt in Richtung Wohlhabenheit weiter hinter sich lässt.

Ist das also die Alternative, welche die Menschheit 250 Jahre nach ihrem großen Aufbruch hat: lange, gesunde Leben bei guter Bildung und einem im internationalen und historischen Vergleich hohen Wohlstandsniveau bei gleichzeitiger Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen oder Wahrung eben dieser Grundlagen bei Leben, die in den Worten des britischen Philosophen Thomas Hobbes zumeist elend, brutal und kurz sind?

Das ist die eigentliche Wachstums- und Wohlstandsfrage, die der Menschheit auf den Nägeln brennen müsste – und nicht, ob mehr Wachstum und materieller Wohlstand wünschenswert seien, nicht zuletzt, weil dadurch möglicherweise zusätzliche Arbeitsplätze entstehen, Renten leichter zu finanzieren sind oder Staatshaushalte besser ausgeglichen werden können. Denn diese Fragen sind banal. Die Antwort auf sie steht nämlich von vornherein fest: Es ist ein eindeutiges Ja – zumindest auf kurze Sicht.

Aber was ist mit dieser Antwort gewonnen? Oder anders gewendet: Was nutzt es gut beschäftigten Erwerbstätigen, auskömmlich versorgten Rentnern und Politikern, die aus dem Vollen schöpfen können, wenn zugleich eine überforderte Erde unter ihren Füßen zerbröselt?

Menschliche Schöpferkraft vs. rigorose Ausbeutung der Natur

Das jedoch ist die unbequeme Wahrheit: Mit jedem Promille, das die Güter- und Dienstemenge weltweit zunimmt, schwinden unwiederbringlich Bodenschätze sowie Tier- und Pflanzenarten, steigt die Umweltbelastung und werden weithin Gesellschaften zermürbt. Stagniert die Güter- und Dienstemenge hingegen oder sinkt sie sogar, atmet die Natur messbar auf, der CO2-Anstieg in der Atmosphäre verlangsamt sich und der Säuregehalt der Meere nimmt etwas verhaltener zu. Hätte es noch eines Beweises bedurft, dass die historisch einzigartige Wachstums- und Wohlstandsexpansion, von der seit 250 Jahren immer größere Teile der Welt erfasst werden, nicht in erster Linie Triumph menschlicher Schöpferkraft, sondern Folge einer rigorosen Ausbeutung der Natur und in gewisser Weise auch des Menschen ist, wäre er durch diesen engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltbelastung schlagend erbracht. Beide sind Seiten ein und derselben Medaille, welche die Aufschrift trägt: menschlicher Fortschritt.

Nun soll nicht verkannt werden, dass Viele – die einen mehr, die anderen weniger – seit geraumer Zeit erhebliche Anstrengungen unternehmen, diese fatale Verbindung zwischen Wachstum und materieller Wohlstandsmehrung auf der einen sowie Verschleiß von Umwelt und Mensch auf der anderen Seite zu durchtrennen oder wenigstens zu lockern, und unbestreitbar gibt es auch Erfolge. Doch alles in allem sind die Ergebnisse mager. Von einer wirklichen Entkopplung kann nirgendwo die Rede sein. Noch marschieren materielle Wohlstandsmehrung und Zerstörung der Lebensgrundlagen im Gleichschritt nebeneinander, wobei noch nicht einmal mehr sicher ist, ob nicht letztere gerade dabei ist, an ersterer vorbeizuziehen.

Das heißt nicht, dass nicht eines Tages der große Durchbruch gelingt – in den Worten der Bundesregierung – eine Art des Wirtschaftens gefunden wird, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört. Ob dieser Durchbruch allerdings bereits in der laufenden Dekade stattfinden wird, wie die Bundesregierung meint hoffen zu dürfen, darf füglich bezweifelt werden. Wer weiß das schon? Zurzeit spricht jedenfalls nichts dafür und niemand vermag zu sagen, ob ein solcher Durchbruch überhaupt jemals kommt. Aber selbst wenn sich das Großartige irgendwann ereignen sollte, ändert dies nichts daran, dass wir vorerst – ohne absehbares Ende – in einer Welt leben, in der Wirtschaftswachstum und materielle Wohlstandsmehrung ambivalent, das heißt zugleich Segen und Fluch sind.

Sie sind wie bestimmte Medikamente oder Strahlentherapien, deren heilsame Wirkungen außer Frage stehen, die aber auch äußerst bedenkliche Neben- und Folgewirkungen haben. Sie können Leben retten, aber auch zu Siechtum und Tod führen. Das klingt schrill und dramatisch, trifft aber recht genau den Sachverhalt. Denn was bedeutet es für die Bewohner von Inselstaaten im Indischen Ozean, deren Lebensraum infolge des globalen Wirtschaftswachstums im Meer versinkt, oder von afrikanischen Savannen, die aus demselben Grund zur Wüste werden? Für sie bedeutet dieses Wachstum den Verlust ihrer Heimat, ihrer Existenz und vielleicht sogar ihres Lebens.

Menschliches Wissen und Können

Das Dilemma ist manifest. Da die Menschheit – mit den Völkern der früh industrialisierten Länder an der Spitze – bislang nicht die Art des Wirtschaftens gefunden hat, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört oder anders gewendet: da sie auch nach einer Jahrhunderte und Jahrtausende langen Entwicklung noch nicht über das Wissen und Können verfügt, das es ihr ermöglicht, ohne Beschädigung ihrer Lebensgrundlagen einen materiell hohen Lebensstandard zu genießen, steht sie nunmehr an einer Wegscheide. Entweder sie geht in der bisherigen Richtung weiter und steht – vorbehaltlich des Wunders bisher noch nie dagewesener innovativer Durchbrüche – über kurz oder lang am Abgrund, oder sie lernt so zu leben, wie es ihrem jeweiligen Wissens- und Könnensstand entspricht.

Welche Alternative sie wählen wird, ist unmöglich vorherzusagen. Einerseits ist der Mensch – geprägt von der Erfahrung, erst einmal das Heute zu meistern, ehe er sich dem Morgen oder gar Übermorgen zuwendet – ein Kurzfristoptimierer. Der sprichwörtliche Spatz in der Hand ist ihm lieber als die Taube auf dem Dach. Andererseits vermögen neue Einsichten, gefördert von spürbaren Veränderungen der Lebensbedingungen und mehr noch von Katastrophen, durchaus Umorientierungen zu bewirken. Worauf gilt es sich also einzustellen?

Nach Lage der Dinge auf beides. Milliarden von Menschen werden weitermachen wie bisher oder dies zumindest versuchen, auch wenn sie das über kurz oder lang ökologisch, sozial und schließlich auch ökonomisch kollabieren lässt.

Denn in den entwickelten Ländern haben viele keine andere Art zu leben gelernt, weshalb sie um beinahe jeden Preis an ihr festhalten. Und in den sich entwickelnden Ländern hat die große Mehrheit den nicht nur unbändigen, sondern auch verständlichen Wunsch, in nicht zu ferner Zukunft zur Spitzengruppe aufzuschließen und deren materiellen Lebensstandard zu teilen. Zugleich aber wird sich vornehmlich in den entwickelten Ländern ein Prozess der Enttäuschung und Besinnung fortsetzen, der sich vor wenigen Jahrzehnten anbahnte und jetzt Fahrt aufzunehmen scheint.

Debatten um Wachstum und Lebensqualität

Mittlerweile sind aus der Wissenschaft, der Politik, den Kirchen und zahlreichen anderen Institutionen Töne zu vernehmen, die noch vor gar nicht langer Zeit befremdlich geklungen hätten. So weist der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten 2012 darauf hin, wie wichtig es sei "frühzeitig eine Debatte darüber zu beginnen, wie essenzielle gesellschaftspolitische Ziele auch ohne oder mit sehr niedrigem Wachstum erreichbar bleiben“. Eine solche Debatte dürfte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel anzuschieben bestrebt sein, wenn sie erklärt: "Wie schaffen wir es, weltweit nachhaltig (…) Wachstum zu schaffen? (…) Wir müssen lernen, mit begrenzten Ressourcen umzugehen. Sicherlich kann nicht allein die Größe des Bruttoinlandsprodukts (…) der einzige Wachstumsindikator sein. Es geht um Lebensqualität. Es geht um Bildung. Es geht um sozialen Frieden, um innere und äußere Sicherheit.“ Noch deutlicher wird Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, wenn er zu Protokoll gibt: "So sehr wir uns für die Beseitigung des Hungers überall in der Welt einsetzen müssen, so sehr sollten wir uns andererseits in unseren eigenen westlichen Ländern für eine Begrenzung des Wirtschaftswachstums einsetzen.“

Da sind sie, die Reiz- und Tabubegriffe wachstumsfokussierter Gesellschaften: "Zielerreichung ohne Wachstum“, "es geht um Lebensqualität, Bildung, Frieden, Sicherheit“, "freiwillige Begrenzung des Wachstums“. Freilich werden sie durch dieses Aufblitzen im öffentlichen Diskurs noch nicht zu gesellschaftlichem Gemeingut. Namentlich das Denken und Handeln der Politik ist weitgehend noch immer geprägt von traditionellen Wachstumsvorstellungen. Wovon hängen Investitionen, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit sowie Bildung und öffentliche Haushalte, aber auch die Zukunft des Euro und mit ihr ganz Europas ab? Selbstredend von Wachstum – darin sind sich alle einig: Internationaler Währungsfonds und Weltbank, Europäische Kommission und nationale Regierungen, Wirtschaftsverbände und Europäische Zentralbank. Ohne Wachstum geht für sie nichts.

Viele Völker, zweifelsfrei jedoch diejenigen früh industrialisierter Länder, haben sich damit in eine absurde und zugleich prekäre Lage gebracht. Sie haben ihr Wohl und Wehe von einer Voraussetzung abhängig gemacht, die zu gewährleisten sie außerstande sind. Sie meinen, Wachstum zu brauchen wie die Luft zum Atmen. Aber sie können es nicht erzeugen und noch nicht einmal aufrechterhalten.

Warum eigentlich nicht? Warum sehen sich die meisten früh industrialisierten Länder seit Langem veranlasst, ihre chronische Wachstumsschwäche durch riesige Schuldenmilliarden wenigstens notdürftig zu kaschieren? Was sind die Gründe für diese Schwäche? Wieso lässt der ständig geschlagene Funke die Feuer nicht lodern, weder in Europa noch in Nordamerika noch in Japan? Warum beschäftigen sich so wenige mit der Frage, was denn da wachsen soll und wie? Und warum heißt es stattdessen: Ein neuer Marschallplan muss her, nicht nur für Griechenland, nein, für den ganzen Süden Europas oder besser noch für den ganzen Kontinent!

Zwar gibt es durchaus Stimmen, welche diese Wachstumsbeschwörungen als wenig Erfolg versprechend verwerfen. Aber zu einer Antwort auf die immer wiederkehrende Frage "Warum lässt das Wachstum in fast allen entwickelten Ländern zu wünschen übrig?“ ringen auch sie sich nicht durch. Dabei ist sie lapidar: Das Wachstum stockt in diesen Ländern, weil es sich ausgewachsen hat oder genauer, es stockt nicht zuletzt deshalb, weil diejenigen, die es anschieben könnten, inzwischen andere, aus ihrer Sicht lohnendere Ziele verfolgen. Es stößt an Grenzen und bewegt sich auch dann nicht mehr, wenn ständig mit der Peitsche geknallt wird. Das macht die Herausforderungen sowohl einfacher als auch schwieriger.

Von Quantität zu Qualität

Es macht sie einfacher, weil mit jedem Jahr deutlicher wird, dass das geringe oder auch ausbleibende Wirtschaftswachstum beziehungsweise seine hohe Abhängigkeit von immer neuen Konjunkturspritzen nicht Ausdruck einer Krise ist, die sich mit diesen oder jenen Maßnahmen überwinden ließe, sondern Ausdruck einer grundlegend veränderten Wirklichkeit und mithin einer neuen Normalität. Der Organismus, der während vieler Jahre beständig wuchs, hat nunmehr diese Phase hinter sich gelassen und ist eingetreten in die Phase der Reifung, des Um- und Ausbaus. Damit ist er weiterhin vital und aktiv. Aber seine Vitalität und Aktivität manifestieren sich anders als in der Vergangenheit. An die Stelle vorrangig quantitativer Veränderungen treten vermehrt qualitative.

Das aber macht die Herausforderungen schwieriger. Denn die Völker der früh industrialisierten Länder sind auf diesen Umschlag vom Quantitativen zum Qualitativen – trotz aller gegenteiligen Rhetorik – nicht eingestellt. In gewisser Weise ähneln sie Menschen, welche die Kraft und Ausdauer der Jugend als einen Dauerzustand ihrer Existenz ansehen und eines Tages mit den Lebensbedingungen des Alters zurechtkommen müssen. Manche zerbrechen daran. Auch Gesellschaften.

Die Völker der früh industrialisierten Länder sind bisher nur darin geübt, unter Bedingungen historisch beispielloser Wachstumsraten Verteilungskonflikte zu entschärfen, Beschäftigung zu sichern oder zu investieren. Dass sie das alles auch einmal ohne Wachstum zu bewältigen haben würden, kam ihnen nicht in den Sinn. Doch jetzt ist es so weit. Die Weichen müssen gestellt werden: noch ein Weilchen weitermachen wie bisher und dann gegebenenfalls der steile Absturz oder vorausschauende Anpassung der materiellen Lebensbedingungen an den jeweiligen Wissens-, Könnens- und Erkenntnisstand.

Dabei sind sich die Anhänger beider Richtungen darin einig, dass das menschliche Wissen und Können erheblich verbessert werden muss, wenn der materielle Lebensstandard nicht drastisch sinken soll. Diejenigen, die glauben, weitermachen zu können wie bisher, erhoffen sich von mehr Wissen und Können die rettenden innovativen Durchbrüche, während die anderen auf diese Weise den Raubbau an Natur und Mensch zurückzudrängen versuchen, ohne allzu große Einbußen ihres gewohnten Lebensstandards hinnehmen zu müssen.

Im Kern geht es um Mentalitäten

Doch so unstrittig es ist, dass menschliches Wissen und Können verbessert werden müssen, so strittig ist, welches Wissen und Können gefördert werden soll und wie dies geschehen kann. Diejenigen, die vorrangig technischen Fortschritt als Allheilmittel ansehen, setzen verständlicherweise auf technisches Wissen und Können. Für die anderen ist jedoch gerade diese Verengung eine wesentliche Ursache für die entstandenen Probleme und folglich keine Lösung. Sie fordern deshalb die Entfaltung aller menschlichen Fakultäten und Facetten, namentlich auch der musischen, sozialen und emotionalen. Für sie bilden diese die eigentliche Grundlage von Kreativität, ohne die auch der technische Bereich nicht florieren kann.

Für diese Sichtweise spricht, dass alle Völker, deren wirtschaftlich expansive Phase endet – sei es in absehbarer Zukunft ungesteuert abrupt, sei es gestaltet – ihre gegenwärtig teilweise ungeübten mentalen Kräfte wecken müssen, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Diese Herausforderungen haben nämlich nur vordergründig materielle Dimensionen. Im Kern geht es um Mentalitäten.

Konkret: Bei dem immens hohen materiellen Wohlstandsniveau, das die früh industrialisierten Länder in den zurückliegenden 250 Jahren erreicht haben, braucht auch dann keiner zu hungern und zu frieren oder unbehaust und ungebildet zu bleiben, wenn dieses Niveau nicht weiter steigt oder sogar messbar sinkt. Wirtschaftete beispielsweise ein Land wie Deutschland heute innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde, betriebe es also keinen Raubbau und beteiligte es sich nicht an der Zerstörung der Lebensgrundlagen, stünden pro Kopf der Bevölkerung etwa 40 Prozent der derzeitigen Güter- und Dienstemenge zur Verfügung.

Der großen Mehrheit ist das ein Horrorszenario, dessen Verwirklichung sie mit allen Mitteln zu verhindern sucht. Und es stimmt ja: Ein erstrebenswertes Ziel ist dies nicht, weshalb auch alle Anstrengungen unternommen werden sollen, durch mehr Wissen und Können den Wohlstand zu steigern. Nur, als Anfang der 1960er Jahre just jene 40 Prozent erwirtschaftet wurden, galten Deutschland als Wirtschaftswunderland und seine Bürgerinnen und Bürger als Wohlstandsbürger, die Ludwig Erhard zum Maßhalten aufrief.

Seitdem sind die Menschen nicht hungriger oder unbehauster geworden. Ihre Mägen und Truhen sind voller als jemals zuvor. Verändert haben sich lediglich ihre Einstellungen, ihre Mentalitäten. Was eben noch genügte, genügt nicht länger. Dabei ist die große Mehrheit einem echten Bedürfniskonsum – auch auf hohem Niveau – längst entwachsen. Immer größere Teile ihres Verbrauchs dienen der Befriedigung unhinterfragter Gewohnheiten und persönlicher Eitelkeiten, der Selbstdarstellung und der Konkurrenz mit anderen.

Dafür wird die Erde ausgeplündert und die Gefahr eines Kollapses heraufbeschworen und nicht etwa, um einen gehobenen Lebensstandard zu genießen. Wirklichen Verzicht braucht auf absehbare Zeit kaum einer zu üben, vor allem, wenn der materielle Wohlstand künftig gleichmäßiger verteilt wird als bisher. Für die meisten geht es lediglich darum, Ballast abzuwerfen. Von dem allerdings gibt es reichlich.

Bedingungen der Mäßigung

Ein einziges Beispiel mag genügen: die Ernährung. Dass die Erzeugung und der Verbrauch von Nahrungsmitteln Ressourcen und Umwelt beanspruchen, ist zum größten Teil unvermeidlich. Vermeidlich ist hingegen, dass die privaten Haushalte in Europa ein Viertel der gekauften Ware in Mülleimer werfen und viele Menschen weit mehr essen und trinken als ihnen gut tut. Eine bewusstere Ernährung würde ihr Wohlbefinden nachhaltig steigern. Von einigen schlechten Gewohnheiten abgesehen, würden sie auf nichts verzichten, und zugleich täten sie sich, ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt viel Gutes. Entsprechendes gilt für die meisten anderen Lebensbereiche.

Bleibt die Frage, ob unter solchen Bedingungen der Mäßigung, auch wenn diese das individuelle und kollektive Wohl steigern, der von fast allen gewollte gesellschaftliche, wirtschaftliche, technische und kulturelle Fortschritt möglich bleibt. Auch hierauf ist die Antwort einfach: Er bleibt nicht nur, sondern er wird überhaupt erst möglich. Denn der Fortschritt der zurückliegenden 250 Jahre hat zwar den materiellen Wohlstand von Milliarden gemehrt. Zugleich hat er sie jedoch – und hier schließt sich der Kreis – aus den Tragfähigkeitsgrenzen der Erde katapultiert. Mit diesem Fortschritt wurden vor allem Pyrrhussiege errungen.

Der Fortschritt der Zukunft muss darauf gerichtet sein, das materielle und immaterielle Wohl der Menschen innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zu schaffen und zu sichern. Von diesem Ziel sind wir heute weit entfernt. Das aber heißt: Der Fortschritt der Zukunft muss ein anderer sein als der bisherige. Bedingungen der Mäßigung dürften diesen Kurswechsel erleichtern.

Prof. Dr. jur. ut., geb. 1939; Vorstandsvorsitzender Denkwerk Zukunft, Stiftung kulturelle Erneuerung, Ahrstraße 45, 53175 Bonn. E-Mail Link: kontakt@denkwerkzukunft.de