Außerschulische politische Bildung nach 1945 – Eine Erfolgsgeschichte?
Wissenschaftler, die sich mit Fragen der politischen Bildung in Deutschland beschäftigen, beschreiben deren Entwicklung nach 1945 gerne als Erfolgsgeschichte. Das betrifft sowohl die Geschichtsschreibung der formalen, schulischen politischen Bildung[1] als auch die der non-formalen, außerschulischen politischen Bildung.[2] Die politische Jugendbildung ist im Rahmen jüngerer wissenschaftlicher Evaluationen gar als "Exportmodell" für andere europäische Länder beschrieben worden.[3] Vor dem Hintergrund dieser positiven Selbst- und Fremdwahrnehmungen werden im Folgenden Rückblicke auf die politische Bildung in Deutschland und Einblicke insbesondere in die non-formale politische Bildung gewährt.Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der sogenannten Politikdidaktik und der außerschulischen politischen Jugendbildung sowie der politischen Erwachsenen- und Weiterbildung.[4] Die Politikdidaktik "beschäftigt sich mit politischem Lernen im Unterricht und in der Institution Schule".[5] Sie verfügt über eigene Lehrstühle an Hochschulen und Verbandsstrukturen für Politiklehrerinnen- und -lehrer, darunter insbesondere die Deutsche Vereinigung für politische Bildung (DVPB). Hier ist das Feld der politischen Bildung also sehr homogen und überschaubar.
Die außerschulische politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist dagegen ein ausgesprochen disparates pädagogisches Feld mit einer großen Zahl heterogener Institutionen und einer pluralen Trägerstruktur. Die Arbeit dieser Träger wird auf nationaler Ebene vom Bundesausschuss Politische Bildung (bap) koordiniert. Als Mitglieder im Bundesausschuss sind wiederum die Dachverbände der kirchlich-konfessionellen Einrichtungen, die Stiftungen der politischen Parteien, die Jugendverbände, der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten und viele andere Verbände und Arbeitsgemeinschaften vertreten, die neben allgemeiner und beruflicher Bildung auch politische Bildung anbieten.[6]
Die politische Jugend- und Erwachsenenbildung verfügt im Vergleich zur Politikdidaktik nur über wenige institutionalisierte Kontakte zu Hochschulen oder entsprechend eindeutig deklarierte und damit dem Feld nahestehende Lehrstühle. Einige von ihnen haben in den vergangenen Jahren größere Projekte oder Evaluationen der non-formalen politischen Bildung wissenschaftlich begleitet.[7]
Grundsätzlich erscheinen die inzwischen etablierten Begriffe "formale Bildung" und "non-formale Bildung" sehr gut geeignet, um die schulbezogene und die außerschulische politische Bildung voneinander abzugrenzen. Formale Bildung orientiert sich auf verwertbare Abschlüsse (Schule, Berufsbildung, Hochschule) und ist zu unterscheiden von den traditionell eher zweckfreien non-formalen Bildungsfeldern "neben oder nach der Berufstätigkeit"[8] – etwa Jugendarbeit, Volkshochschulen oder Bildungsstätten.
Die formale und die non-formale politische Bildung haben nach 1945 viele ähnliche Entwicklungen durchlaufen. Vor allem ihre theoretischen Debatten waren oft aufeinander bezogen und durch allgemeine politische und gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst. Dennoch unterscheiden sich die Felder in ihrem Selbstverständnis stark voneinander und die Kommunikation zwischen ihnen ist bis heute (bedauerlicherweise) unterentwickelt.
Zur Entwicklung im Nachkriegsdeutschland
Aufgrund der wissenschaftlichen Obdachlosigkeit und der strukturellen Vielfalt der non-formalen politischen Bildung scheint es verständlich, dass bisher kein Versuch unternommen worden ist, die Entwicklung der außerschulischen politischen Bildung nach 1945 insgesamt zu beschreiben. Dagegen liegen einige Handbücher vor, in denen die politische Erwachsenenbildung,[9] die politische Jugendbildung[10] oder beide Felder gemeinsam[11] in lexikalischen Einzelbeiträgen erfasst werden oder in denen das Selbstverständnis einzelner Akteure dargestellt wird.[12]Es gehört aber zum weitgehend geteilten historischen Selbstverständnis, dass die politische Bildung nach dem Krieg – die "übrigens zunächst mehr außerhalb als innerhalb der Schule"[13] stattfand – wesentliche Anstöße aus der Reeducation-Politik der angelsächsischen Besatzungsmächte erhalten hat. Auch wenn in der Historiografie der Erwachsenenbildung bisweilen zu lesen ist, dass die Umerziehungsversuche "an der Politikverdrossenheit der Deutschen" und am "latenten Widerstand der deutschen Volksbildner" scheiterten,[14] gilt die Reeducation in der Zeitgeschichtsschreibung als wichtiger Anstoß zur Verwurzelung der Demokratie in Deutschland[15] und in der Politikdidaktik wie in der non-formalen politischen Bildung als ein identitätsstiftender Ausgangspunkt.[16]
Ein aktueller Beitrag zur Philosophiegeschichte der Bundesrepublik teilt die Zeit nach 1945 in eine mit "Hermeneutik" überschriebene erste Hälfte (getragen von der Generation der um 1900 Geborenen, allen voran von Hans-Georg Gadamer) und eine mit "Ideologiekritik" überschriebene zweite Hälfte (getragen von der Generation der um 1930 Geborenen, allen voran Jürgen Habermas)[17] ein. Allein, dass der Protagonist der "Ideologiekritik", Jürgen Habermas, sich selbst einmal als "product of reeducation" bezeichnet hat,[18] dürfte heute wohl kaum noch Zweifel an der Wirkung der Reeducation aufkommen lassen.
Neue bildungsgeschichtliche Forschungen über die sogenannte Civic Education Mission, an der auch Habermas teilnahm und die als "fortgesetzter Versuch" nun deutsch-amerikanischer Reeducation bezeichnet werden kann, bestätigen den Erfolg der Reeducation – jedenfalls mit Blick auf die politische Bildung.[19] Die Teilnehmerlisten dieser Studienreisen, deren Ziel es war, die Idee der amerikanischen school of democracy kennenzulernen, lesen sich wie "ein Prominentenverzeichnis der neu entstehenden Politischen Bildung und der neu anhebenden Reformen zur Demokratisierung des Bildungswesens".[20]
Bis heute ist wenig darüber bekannt, wie die pädagogisch-didaktische Praxis der Reeducation und die Übergänge zu einer eigenen deutschen non-formalen politischen Bildung ausgesehen haben. Aus bisher nicht genauer ausgewerteten Archivmaterialien lässt sich allenfalls erahnen, dass es offenbar viele Gemeinsamkeiten gibt zwischen dem, was wir heute als "Demokratielernen" bezeichnen, und den frühen demokratischen Graswurzelinitiativen der Nachkriegsjahre. Vor allem in Baden-Württemberg beziehungsweise den noch nicht vereinigten Ländern im Südwesten gab es viele sogenannte Bürgergemeinschaften, die sich 1952 zu einer Landesarbeitsgemeinschaft zusammenschlossen. Dokumente aus dieser Zeit zeugen davon, dass es bereits ihnen um eine "Vertiefung der Demokratie als Lebensform und nicht nur als Staatsform" ging,[21] dass angesichts dessen, dass "der demokratische Bürger nicht von selbst wächst", dieser "gepflegt und herangebildet werden"[22] und es das Ziel sein müsse, "das staatsbürgerliche Bewußtsein zu wecken und zu fördern" sowie "das notwendige staatspolitische Wissen zu vermitteln".[23]