Zwischen Haushalts- und Legitimationsdefizit: Zur Zukunft der europäischen Demokratie - Essay
- Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter; oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter.[1]
Zudem werden das zurückliegende Jahrhundert und seine Paradigmen gerade noch abgewickelt: Erst 1815 endete mit dem Wiener Kongress das 18. Jahrhundert und das Zeitalter der französischen Vorherrschaft in Europa durch Louis XIV. und Napoleon, der nicht nur Soldaten, sondern auch den Code Civil verbreitet hatte. Erst 1914 mit dem Ausbruch des 30-jährigen europäischen Krieges endete das 19. Jahrhundert,[7] das englische Jahrhundert, dem ein amerikanisches folgte, weil das, was ein deutsches Jahrhundert hätte werden können, durch monumentale Hybris zu einem gesamteuropäischen Alptraum wurde.
Es ist jetzt, 2013, wo die "Ablösungsdekade" 2000 bis 2010 vorbei ist und mindestens drei Ereignisse – die Anschläge vom 11. September 2001, der "Arabische Frühling" und die Finanzkrise – den Paradigmenwechsel mit dem 20., dem amerikanischen Jahrhundert beschleunigt haben, an der Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, auf welche grundsätzlichen systemischen Veränderungen Europa angesichts globaler Meta-Trends zusteuert beziehungsweise zusteuern sollte und welche neue Paradigmen sich für das 21. Jahrhundert abzeichnen. Inzwischen gilt unter anderem unter führenden Ökonomen[8] als ausgemacht, dass die wachsende soziale Ungleichheit in Europa, aber auch weltweit, zu einer der größten Bedrohungen der Demokratie und damit des Friedens schlechthin heranwachsen könnte. Finanzkrise, soziale Krise und europäische Krise gehören damit untrennbar zusammen.
Tatsächlich geht es um viel mehr als eine Staatsschuldenkrise, die mit Arbeitsmarktreformen und Sparen à la Hausfrauenart bewältigt werden könnte. Es geht um die Rolle des Politischen im 21. Jahrhundert, die (neuen?) Akteure des "Politischen" und ihrer Gestaltungsspielräume in einer neuartig vernetzten Welt, um die Wiederherstellung des Primats der Politik, und zwar sowohl innen- wie außenpolitisch, und damit um die Definition einer globalen res publica und der europäischen Rolle bei ihrer Gestaltung.
Kurz: es geht um die Chance auf eine neuartige europäische Demokratie – ihr Gelingen oder ihr Scheitern – und davon abhängig um die zukünftige Rolle Europas in der Welt, die auch mit einem erfolgreichen Euro steht oder fällt. Die Dominanz der USA im vergangenen Jahrhundert beruhte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass sie es verstanden haben, Währung und Strategie, Geld und Politik zusammen zu denken, denn Geld und Währung sind politische Konstrukte. Es ist diese Lektion, die Europa jetzt lernen sollte, und weil Geld politisch ist, braucht Euroland eine andere Demokratie – oder Europa scheitert.
Eine Währung sucht eine politische Heimat
Die Euro-Krise muss also in einen globalen Kontext eingebettet und als Systemkrise behandelt werden. Die veröffentlichte Meinung – vor allem in Deutschland – hat lange glauben machen wollte, dass der eigentliche Ursprung der noch schwelenden Euro-Krise, die sich längst von einer wirtschaftlichen zu einer politischen, um nicht zu sagen gesellschaftlichen Krise ausgeweitet hat, im Wesentlichen im südeuropäischen Schlendrian – bei "faulen Griechen", im italienischen Klientelismus, der französischen Reformunwilligkeit – zu suchen sei, dem jetzt durch deutsch inspirierte Austeritätspolitik – prominent durch die Einführung des Fiskalpaktes[9] – der Garaus gemacht wird. Bei aller berechtigter Kritik an südeuropäischer Staats- und Wirtschaftsführung[10] dürfte den meisten europäischen Bürgerinnen und Bürgern indes inzwischen klar sein, dass diese simple ökonomische und zudem national eingefärbte Erzählung zu kurz greift, und zwar sowohl mit Blick auf die Notwendigkeit einer profunden Neukonstituierung Europas – soll das Erreichte, also die gemeinsame Währung, sozialverträglich gesichert und politisch stabilisiert werden – als auch mit Blick auf die zukünftige Rolle Europas in der Welt. Nur Sparen als Konzept in der aktuellen Rezession ist eine zu einfache Antwort auf die derzeitige Systemkrise. Sie führt die europäische Wirtschaft nur noch rascher der Insolvenz zu. Das sollte als Lehre aus den 1930er Jahren auch in Deutschland bekannt sein.Das eigentliche Problem, das es zu beleuchten gilt, ist, dass mit dem Euro eine transnationale Währung ohne eine transnationale Demokratie geschaffen wurde. Im Kern hat der Beginn transnationaler europäischer Redistribution weit über den bestehenden EU-Finanzrahmen und die Strukturfonds hinaus – maßgeblich durch die Schaffung des ständigen Rettungsschirms ESM,[11] da sich die No-bail-out-Klausel des Maastrichter Vertrages als realitätsuntauglich erwiesen hat – zu einer neuartigen europäischen Verfassungskrise geführt.[12] Aus einem vielschichtigen[13] Redistributionsproblem wurde ein bisher ungelöstes Verfassungsproblem, denn es fehlt eine einheitliche europäische Legitimations- und Entscheidungsgrundlage über eben jene transnationale europäische Redistribution, da das europäisches System den Sprung in ein transnationales "Mehrheitssystem" noch nicht geschafft hat.[14] Europa stößt derzeit institutionell an die Grenze des Prinzips no taxation without representation, und damit an die Grenze seiner Begrifflichkeit von Souveränität und Solidarität, die beide bisher maßgeblich an den Begriff des Nationalen gekoppelt waren.
Alle in diesem Zusammenhang in Karlsruhe anhängigen Verfassungsklagen – hinsichtlich der bisherigen Griechenland-Hilfen, der Schaffung des ESM sowie der Zulassung der direkten Bankenrettung durch den ESM – haben einen gemeinsamen juristischen Fixpunkt: Die derzeitige Verfasstheit der Bundesrepublik (und die Europas) gestattet keine Extension fiskalischer Solidarität jenseits des Staatsgebietes beziehungsweise eine Beschränkung der haushaltspolitischen Souveränität qua fehlender (politischer) Kontrolle über die Mittelverwendung jenseits der nationalen Grenzen.[15] Und dies, obgleich die nationalen Grenzen für Investitionen und Gewinnrückführungen längst geöffnet sind. Die Währungsgrenze ist die wichtigste wirtschaftliche und damit auch die politische Außengrenze. Mithin müsste auch finanzielle Solidarität von Nationalstaatlichkeit entkoppelt und auf Euroland transponiert werden, ganz im Sinne eines europäischen "Wohlfahrtspatriotismus". Da dies aber mangels eines europäischen Demos beziehungsweise aufgrund eines mangelnden europäischen "Wir-Gefühls",[16] sprachlich-kultureller Differenzen und einer immer noch auf innereuropäische Konkurrenz zwischen den Nationen ausgerichteten (Wirtschafts-)Politik nicht möglich erscheint, hat Euroland ein Problem im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Demokratie.
Die europäischen Bürger und ihre Politiker haben emotional noch nicht verarbeitet, dass innerhalb des gemeinsamen Währungsraums die nationalen Grenzen de facto schon abgeschafft sind und dass es nunmehr um die Organisation einer europäischen Demokratie geht, welche die Gewinne einer gesamteuropäischen Wertschöpfungskette transnational gerecht verteilt – und dabei eine ökonomische Balance zwischen Zentrum und Peripherie findet. So ist zum Beispiel allein der Begriff "Export" innerhalb eines Währungsraumes irreführend: Ebenso wenig wie Exporte zwischen Hessen und Brandenburg gemessen beziehungsweise zwischen den Exporten unterschieden wird, so wenig sollte dies zum Beispiel zwischen Deutschland und Spanien der Fall sein. Solange es innereuropäische Import-Export-Statistiken gibt, zeigt sich, dass Europa zwar einen Binnenmarkt hat, aber keine Gesamtvolkswirtschaft mit gemeinschaftlicher Lenkung und Besteuerung, eine in 17 Staaten gültige einheitliche Währung, aber weiterhin nationale volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen und nationale Haushalte, die der Souveränität der nationalen Parlamente unterliegen. Euroland ist längst Binnenland, nur eben im (sozial-)politischen Raum der nationalen Parlamente und Staatshaushalte noch nicht.
So betrachtet, würde zum Beispiel eine gesamteuropäische Arbeitslosenversicherung[17] gerade in der derzeitigen Rezession die Wende zu einem europäischen Wohlfahrtsstaat erfahrbar machen. Sie würde eine neue Sozialversicherung auf europäischer Ebene darstellen und ganz aktuell dazu führen, dass Deutschland, das hohe Gewinne aus den staatlichen Aufträgen der südeuropäischen Länder erzielt hat, nun indirekt auch die derzeitigen spanischen oder griechischen Arbeitslosen unterstützen würde. Ein solches europäisches Versicherungssystem könnte im Sinne einer europäischen res publica identitätsstiftend wirken und den öffentlichen Diskurs fortbewegen von der Fixierung auf "Nettotransfers" hin zu einem sozialen Europa, das sich in der Krise rekonstruiert.
Anders formuliert: Eine verwaiste Währung sucht eine Demokratie. Euroland sucht ein (Eurozonen-)Parlament, und die europäischen Bürger suchen einen transnationalen contrat social, einen europäischen Gesellschaftsvertrag, und vor allem ein gemeinsames Forum, in dem sie über diesen diskutieren, streiten und bescheiden können. Dabei sehen sie sich mit politischen, historischen, sprachlichen und kulturellen Barrieren konfrontiert, die aber – weniger institutionell als emotional – tatsächlich nicht so einfach zu überwinden sind.
Das ist heute zugleich europäische Gemengelage und Herausforderung: nämlich das Manko einer wirklichen nach-nationalen europäischen Demokratie im Montesquieu’schen Sinn eines Systems von Gewaltenteilung, durch das europäische Verteilungsgerechtigkeit und akzeptable europäische Solidarität hergestellt werden könnte.[18] Europa erlebt, wie seinerzeit die Vereinigten Staaten Ende des 18. Jahrhunderts, seinen Hamiltonian moment,[19] und die europäische Gretchenfrage ist, ob es, wie in Amerika, nach der Vergemeinschaftung der Waren- und Finanzmärkte nun zu der schrittweisen Vergemeinschaftung von Schulden[20] (Schuldentilgungsfonds, Eurobonds) und darüber letztlich zu einer politischen Föderation kommen wird[21] – oder ob Euroland diesen historischen Moment mangels politischen Willens, Mutes und mangels kultureller Voraussetzungen erneut verpasst – und darüber möglicherweise implodiert.