Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Halbe Hegemonie: Das deutsche Dilemma - Essay | Europa im Umbruch | bpb.de

Europa im Umbruch Editorial Zur Zukunft der europäischen Demokratie Halbe Hegemonie: Das deutsche Dilemma Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen Europa Möglichkeiten und Grenzen einer gemeinsamen Außenpolitik Legitimation durch interparlamentarische Zusammenarbeit? Zentrum und Peripherie in Europa aus historischer Perspektive Rumänien und Bulgarien: Hoffen auf Europa

Halbe Hegemonie: Das deutsche Dilemma - Essay

Dominik Geppert

/ 15 Minuten zu lesen

Die Europäische Währungsunion ist von ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Zielsetzung her von Anfang an ein politisches Projekt gewesen, das mit historischen Notwendigkeiten begründet wurde. Wirtschaftliche Überlegungen waren demgegenüber zweitrangig. Dennoch beschränkt sich die öffentliche Diskussion bislang weitgehend auf die ökonomischen Konstruktionsmängel des Euro. Es ist daher wichtig, auch die politischen Fehlannahmen und die historischen Trugschlüsse, die ihm zugrunde liegen, schärfer in den Blick zu nehmen.

Wenn in den Debatten um die Euro-Krise die Lehren der Geschichte angesprochen werden, ist die Rede meist vom Wiederaufstieg des Kontinents aus den Trümmern zweier verheerender, von Deutschland begonnener Kriege, der über verschiedene Zwischenstadien irgendwann einmal auch zur politischen Einheit Europas führe. Gemäß dieser Deutung überwanden die europäischen Nationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Feindschaft durch supranationale Zusammenarbeit: zuerst in der Montanunion, später in der Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich in der angeblich mehr oder weniger notwendig daraus folgenden Währungsunion. Rechtsstaat, Demokratie, Sicherheit und Wohlstand seien in Europa seit 1945 dadurch gewährleistet worden, dass die Staaten nationale Interessen zugunsten des großen europäischen Ganzen hintanstellten. Nur auf diese Weise hätten sie jene kritische Größe erreichen können, die notwendig sei, um in Weltpolitik und Weltwirtschaft als gleichberechtigte Mitspieler neben den Vereinigten Staaten von Amerika oder China aufzutreten.

Für die Bundesrepublik Deutschland brachte das Projekt Europa in dieser Lesart nicht nur die schrittweise Rückgewinnung staatlicher Souveränität und Schutz vor der Sowjetunion im Kalten Krieg, sondern auch den Ausweg aus einer gefährlichen außenpolitischen Isolierung und die Erlösung aus jener halbhegemonialen Position, in der sich Deutschland seit 1871 befunden hatte: zu schwach, um den Kontinent zu dominieren, und zu stark, um sich in das europäische Mächtegefüge einzufügen. In gewisser Weise erscheint die europäische Einigung als logische Fortsetzung, Konsequenz und schließlich Ersetzung der deutschen Nationalgeschichte. Wer an dieser Sichtweise zweifelt, wird leicht als geschichtsvergessen und perspektivlos, wenn nicht gar als Anti-Europäer abgestempelt.

Abschied vom deutschen Ordnungsmodell

Das Problem der gängigen Interpretation besteht darin, dass sie mit den Entwicklungen in der Euro-Krise immer weniger in Einklang zu bringen ist. Besonders deutlich wird die Widersprüchlichkeit bei der Behauptung, ohne die gemeinsame europäische Währung drohe der Rückfall in atavistische Nationalismen. Eine "monetäre Re-Nationalisierung" wird oft als Auftakt zu schlimmeren Auseinandersetzungen bis hin zu militärisch ausgetragenen Konflikten zwischen europäischen Nationen dargestellt. Helmut Kohls Bemerkung, der Euro sei eine Frage von Krieg und Frieden, hallt vernehmbar nach. Tatsächlich verhält es sich jedoch umgekehrt. Augenblicklich schürt die gemeinsame Währung Zwietracht in Europa, sie weckt nationale Ressentiments, die man überwunden glaubte. Der Gedanke einer supranationalen europäischen Gemeinschaft zur Bändigung aggressiver Nationalismen ist in der Euro-Krise in sein Gegenteil verkehrt worden.

Dabei droht nach allem, was wir heute absehen können, als Schreckensszenario kein weiterer großer Krieg in Europa (der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien fand innerhalb einer Währungsunion statt). Vielmehr hat sich Victor Hugos Prophezeiung von 1849, es werde der Tag kommen, "an dem es keine anderen Schlachtfelder geben wird als die Märkte, die sich dem Handel, und die Geister, die sich den Ideen öffnen", zumindest für Europa bewahrheitet. Die Auseinandersetzungen, in denen wir uns gegenwärtig befinden, werden auf eben jenen "Schlachtfeldern" des Handels und der Ideen ausgetragen, nicht in den Schützengräben des Ersten oder den Panzerschlachten des Zweiten Weltkriegs. Die Wirtschaft ist in mancher Hinsicht an die Stelle des Militärischen getreten.

Man kann diese Verschiebung mit guten Gründen als zivilisatorischen Fortschritt betrachten. Den Anfang einer konfliktfreien Ära harmonischen Einvernehmens zwischen Staaten und Gesellschaften markiert sie jedoch nicht. Vielmehr erleben wir im Streit um die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Kampf der währungs- und fiskalpolitischen Kulturen in Europa, der nicht nur ein Mentalitäten-, sondern auch ein Machtkonflikt ist. In diesem Ringen befindet sich die Position der Bundesbank, die einmal auch die Haltung der Bundesregierung war, in der Defensive. An die Stelle einer politisch unabhängigen, allein auf die Geldwertstabilität orientierten Institution ist in den Turbulenzen der Euro-Krise eine immer stärker in die Finanzierung von in Zahlungsnot geratenen Staaten und Banken involvierte und damit dem Einfluss der Regierungen ausgesetzte Zentralbank getreten.

Unter dem Druck der Krise hat sich die Europäische Währungsunion vom deutschen Ordnungsmodell, wie es im Maastricht-Vertrag festgeschrieben wurde, entfernt. Stattdessen hat sie sich der stärker auf Staatsintervention und Nachfragestimulierung setzenden französischen Konzeption einer politisierten Zentralbank, wenn nicht gar dem italienischen Modell der Notenbank als eigentlicher Leiterin einer (inflationstreibenden) Wirtschaftspolitik angenähert. In eine ähnliche Richtung weisen die Pläne, die wirtschafts- und fiskalpolitische Kompetenzen auf europäischer Ebene zu bündeln und damit eine Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur Zentralbank zu schaffen, wie sie Paris seit Langem vorschwebt.

Diese institutionellen Verschiebungen sind fatal, weil sie durch Bruch der europäischen Verträge zustandekommen, die in Ermangelung einer förmlichen Verfassung den konstitutionellen Rahmen der Europäischen Union bilden. Es erstaunt, wie wenig die Erosion rechtlicher Bindekräfte öffentlich als zentrales Problem diskutiert wird. Schließlich beruht der Gedanke, das zerstörerische Potenzial autonomer Nationalstaaten einzudämmen, wesentlich darauf, zwischenstaatliche Konflikte anders als in der Vergangenheit nicht mehr machtstaatlich ungebremst oder durch diplomatische Manöver auszutragen, sondern konsultativ auf der Basis des Gemeinschaftsrechts und völkerrechtlicher Verträge zu regeln. Je stärker die Einhaltung oder Nichteinhaltung bestehender Verträge in das politische Ermessen der Regierungen gestellt ist, umso mehr fällt Europa hinter den bereits einmal erreichten Stand regulierter Konfliktlösung in eine Zeit zurück, in der Macht mehr zählte als Recht. An der aktuellen Krise der Währungsunion zeigt sich, so hat der Politikwissenschaftler Philip Manow es formuliert, dass die "Lehre von der postnationalen Konstellation gerade nicht gemeinsame Handlungsgrundlage der Mitgliedsländer ist, denn die Ursache der Krise liegt offenkundig in einem ‚realistisch‘ motivierten Vertragsbruch. Regeln werden von Staaten eingehalten, solange sie als dem nationalen Interesse förderlich betrachtet werden".

Zugleich werden die Volksvertretungen in der Euro-Krise von den Regierungen zunehmend ausgeschaltet. Die nationalen Abgeordneten finden sich – sei es durch die Komplexität der Materie, sei es durch vermeintlichen oder echten Zeitdruck – bei ihren Entscheidungen derart in die Enge getrieben, dass sie ihre demokratischen Rechte und (Prüf-)Pflichten kaum noch ausüben. Die Haushaltshoheit als Königsrecht jedes Parlaments wird weitgehend abgeschafft. Mittlerweile werden in Abend- und Nachtsitzungen Summen abgenickt, die – wie im Falle des deutschen Anteils am Stammkapital des dauerhaften Rettungsschirms ESM – fast zwei Drittel des Bundeshaushalts betragen. Man wundert sich, mit welcher Selbstgewissheit wir heute das obrigkeitsstaatliche Regierungsvertrauen jener Reichstagsabgeordneten im Kaiserreich kritisieren, die sich über Jahre hin die Zustimmung zum Militäretat nehmen ließen oder weitgehend ungeprüft riesige Beträge für die Flottenrüstung bewilligten.

Den Institutionen, die in der Euro-Krise an die Stelle der Parlamente treten, fehlt jede demokratische Legitimation. Die Mitglieder des EZB-Rats und des ESM-Vorstands werden nicht gewählt, sondern von den Regierungen nominiert; sie sind keinem Parlament Rechenschaft schuldig. Der ESM-Vertrag enthält detaillierte Immunitätsregeln, um die Kontrollrechte der Volksvertreter gegenüber den im Gouverneursrat versammelten Finanzministern auszuhebeln. Außerdem haben im EZB-Rat etwa Zypern, Malta und Luxemburg genauso viele Stimmen wie Deutschland, so dass Mehrheitsentscheidungen von Ländern getroffen werden können, deren Bevölkerung nur etwas mehr als ein Sechstel der Eurozonen-Bevölkerung umfasst. Die Maßnahmen zur Rettung des Euro zerstören die Errungenschaften von über 300 Jahren westlicher Demokratiegeschichte, indem sie die Grundsätze von no taxation without representation und one man one vote außer Kraft setzen.

Selbst wenn etwa die Europäische Kommission künftig direkt vom Europäischen Parlament gewählt würde, wäre damit noch kein europäisches Staatsvolk geboren. Es gibt bisher weder eine Sprachunion noch eine Geschichtsgemeinschaft. Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass in einer derartigen Versammlung die ohnehin schwächer werdenden Bindekräfte der europäischen Parteien weiter ausdünnten und eine Neugruppierung entlang nationaler Linien stattfände, nicht unähnlich dem österreichischen Reichsrat vor 1914 mit seinen Sprachstreitigkeiten und Nationalitätenkonflikten, wo sich sozioökonomische und ethnisch-nationale Auseinandersetzungen überlagerten.

Als starker und einiger Akteur in der Weltpolitik fällt die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand jedenfalls aus. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik macht kaum Fortschritte. Die Größe des Wirtschafts- und Währungsraumes hat nicht zur Stärkung der europäischen Position in der Welt geführt. Eher bewirkt die Spaltung der EU in eine Eurozone und eine Nicht-Eurozone das Gegenteil. Die Heterogenität der an der Währungsunion beteiligten Volkswirtschaften und ihre unterschiedlich geprägten nationalen Politiktraditionen haben Europa in der Welt geschwächt.

Gefährliche Ungleichgewichte, fehlgeleitete Analogien

Zur Lösung der "Deutschen Frage", von der im 19. und 20. Jahrhundert so viel Unruhe und Unheil in Europa ausging, hat die Währungsunion weniger beigetragen als viele gehofft haben. Vor 1914 hatten die anderen europäischen Mächte Deutschlands halbhegemoniale Stellung auf dem Kontinent durch diplomatische Absprachen und Allianzen verhindern wollen. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten sie, das Reich durch Rüstungsbeschränkungen, Gebietsabtretungen und Reparationszahlungen zu isolieren und zu schwächen. Nach 1945 setzten sie nicht mehr auf Gegenmachtbildung und Zwang, sondern auf die Einbindung in eine starke europäische Gemeinschaft, in der deutsche Machtmittel wie die Kohle- und Stahlindustrie europäisiert und dadurch unschädlich gemacht wurden. Es lag in der Logik dieser Einhegungspolitik, dass vor allem Frankreich seit den 1980er Jahren daran interessiert war, auch die D-Mark zu vergemeinschaften und damit die währungspolitische Hegemonie der Bundesbank zu brechen, insbesondere als die Überwindung der europäischen Spaltung in den Jahren nach 1990 einen Machtzuwachs des wiedervereinigten Deutschlands mit sich brachte.

Heute erleben wir, wie die Politik der Einbindung und Selbsteinbindung Deutschlands an ihre Grenzen stößt – nicht durch bösen Willen, sondern weil dem Dilemma der deutschen Größe auch durch Europäisierung nicht beizukommen ist. Das wahre Problem in der Europäischen Gemeinschaft, hat Helmut Kohl schon im Dezember 1989 zum amerikanischen Präsidenten Bush gesagt, bestehe darin, "dass die Schere der Wirtschaftskraft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den anderen EG-Ländern sich immer weiter öffne. Alle hätten jedoch einen Vorteil davon, weil die Bundesrepublik Deutschland immer mehr zahle". Kohls Zustimmung zur Währungsunion ohne gleichzeitige politische Union hat das Problem nicht gelöst, sondern potenziert.

Das wiedervereinigte Deutschland besitzt wieder jene "ungeschickte Größenordnung", die Kurt Georg Kiesinger 1967 hellsichtig prophezeit hatte. Es hat damit heute im Rahmen der Währungsunion wieder eine halbhegemoniale Stellung in Europa inne: zu stark, um sich in die europäischen Institutionen einzufügen (daher der verständliche Ruf nach einer stärkeren Gewichtung der deutschen Stimme im EZB-Rat), aber – das wird zunehmend deutlich – gleichzeitig auch viel zu schwach, um im Rest Europas die deutsche Politik durchzusetzen (daher das absehbare Scheitern, anderen Ländern eine nachhaltige Haushaltspolitik aufzuzwingen). Zusammen mit der halben Hegemonie in Europa ist ein anderes unliebsames Relikt der Vergangenheit zurückgekehrt. Immer öfter finden sich deutsche Vertreter in Beratungen und bei Entscheidungen auf europäischer Ebene isoliert: seien es die Vertreter der Bundesbank im EZB-Rat oder die Kanzlerin im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs.

Keine der bislang diskutierten Strategien zur Rettung der Währungsunion wird die Bundesregierung aus dieser Zwangslage befreien. Setzt sie sich (was unwahrscheinlich genug ist) mit ihren im Fiskalpakt formulierten Forderungen nach strikter Haushaltsdisziplin und schmerzhaften Strukturreformen zumal in den südeuropäischen Ländern durch, werden von dort dauerhaft Proteste gegen ein deutsches Diktat und eine neoimperiale Politik Berlins zu hören sein. Obsiegen umgekehrt (wonach es immer mehr aussieht) jene Kräfte, die ein noch stärkeres finanzielles Engagement der Bundesrepublik fordern, etwa durch ungebremsten Kauf von Staatsanleihen der Krisenländer seitens der EZB, durch die Europäisierung der nationalen Schulden mittels Eurobonds oder durch gigantische Wachstumsprogramme, dann werden die Transfers innerhalb der Währungsunion Ausmaße annehmen, die keine Bundesregierung dem deutschen Steuerzahler und Sparer mehr begreiflich machen kann. Die Währungsunion ist zu exakt jenem politischen Erpressungsmanöver geworden, vor dem ihre Kritiker in den 1990er Jahren gewarnt haben.

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie unter derartigen Umständen "Maastricht" in der deutschen Öffentlichkeit einmal einen ähnlichen Klang annehmen könnte wie einst "Versailles". Der Hinweis, es handele sich letztlich um Sühneverpflichtungen aus der Zeit der Weltkriege und damit gleichsam um verspätete Reparationen, trifft die Höhe der auf die Bundesrepublik zukommenden Belastungen wahrscheinlich ganz gut. Als Argument zur Begründung von Milliardentransfers taugt er fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr (man stelle sich vor, die französische Dritte Republik wäre für die Kriege Napoleons zur Kasse gebeten worden). Wenn unsere Kinder und Enkel die Rechnungen nicht nur des eigenen, sondern auch anderer Staaten begleichen müssen, überdehnen wir unsere Wirtschaftskräfte und gefährden unsere Demokratie. Schon heute ist kaum vermittelbar, dass in Deutschland eine Rente mit 67 beschlossen und eine Rente mit 70 diskutiert wird, während andere Länder keine vergleichbaren Anstrengungen unternehmen.

Die Erwartung, mit Hilfe des Euro gelinge unter dem Druck der Krise doch noch der Durchbruch zu irgendeiner Form der politischen Union, ist demgegenüber ohne Substanz. Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 erschien diese Vision selbst den größten Enthusiasten zwischenzeitlich allzu kühn. Sie ist aber in der politischen Klasse in Deutschland von links bis rechts, von Trittin bis Schäuble, immer noch weit verbreitet. In anderen europäischen Ländern ist – über die Vergemeinschaftung der deutschen Wirtschaftskraft und finanziellen Potenz hinaus – keinerlei Wille zu derartigen Aufbrüchen erkennbar.

Die großen Hoffnungen, die deutsche Politiker auf das Projekt eines europäischen Bundesstaates oder Staatenverbunds setzen, sind nur durch unsere Nationalgeschichte zu erklären. Nicht allein der Wunsch, über eine europäische Zukunft den düsteren Kapiteln der deutschen Vergangenheit zu entkommen, spielt eine Rolle, sondern auch fehlgeleitete Analogien zur Reichseinigung 1871 und zur Wiedervereinigung 1990. Wie der Zollverein von 1834 angeblich der Gründung des Deutschen Reiches vorausging, erscheinen Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Euro als Vorläufer einer künftigen politischen Union. Wie der Bismarck’sche Nationalstaat im 19. Jahrhundert die deutsche Kleinstaaterei überwand, so würden, hofft man, die blutigen Nationalismen des 20. Jahrhunderts in der friedlichen Einigung des Kontinents aufgehoben.

Ganz abgesehen von der Frage, ob eine europäische Einigung nach preußisch-deutschem Vorbild sonderlich wünschenswert wäre, vergisst, wer so denkt, dass Preußen im Reich immerhin rund 60 Prozent der Bevölkerung stellte, fast 65 Prozent des Gebietes umfasste und rund 60 Prozent des Nettonationaleinkommens erwirtschaftete. Deutschland macht hingegen nicht einmal 17 Prozent der Bevölkerung und nur gut 8 Prozent des Territoriums der EU aus und trägt 27 Prozent zur Wirtschaftsleistung des Euro-Raumes bei.

So, wie die alte Bundesrepublik nach 1990 die neuen Bundesländer finanziell unterstützte, müsse, so hört man immer wieder, in Zukunft das vereinte Deutschland die strukturschwachen Mittelmeerstaaten in der EU aufpäppeln. Allerdings unterstützten nach der Wiedervereinigung 64 Millionen Westdeutsche insgesamt 16 Millionen Ostdeutsche. Die Transferzahlungen belaufen sich seit 1990 auf jährlich etwa 100 Milliarden Euro oder knapp vier Prozent des deutschen Bruttosozialprodukts. Wie Deutschland mit seinen knapp 82 Millionen Einwohnern auch nur annähernd Vergleichbares in einer Europäischen Union leisten soll, in der über eine halbe Milliarde Menschen leben (davon mehr als 72 Millionen in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland sowie 60 weitere Millionen in Italien), bleibt schleierhaft. Schon im innerdeutschen Finanzausgleich wird die Solidarität der vier Geberländer gegenüber den zwölf Empfängerländern so hart strapaziert, dass Bayern und Hessen vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Europäische Perspektiven

Die überkommenen historischen Begründungen der europäischen Einigung haben sich in der Euro-Krise in ihr Gegenteil verkehrt. In ihrem gegenwärtigen Zustand schleift die europäische Integration die Nationalismen in Europa nicht ab, sie spitzt sie zu. Sie sichert nicht rechtstaatliche Verfahren und demokratisch legitimierte Entscheidungen, sondern gefährdet sie. Sie erhöht nicht unsere Sicherheit, sondern produziert Unsicherheit in bisher nicht gekanntem Ausmaß. Europa hat durch den Euro nicht an politischem Gewicht in der Welt gewonnen, vielmehr droht es, dauerhaft Einfluss zu verlieren. Aus deutscher Sicht hat die Währungsunion genau jene Gefahren zugespitzt, die man mit Hilfe der europäischen Einigung hinter sich lassen wollte: Isolation und jene halbe Hegemonie, in der sich das Deutsche Reich zu seinem und Europas Unglück vor 1945 immer wieder befunden hat.

Mit dem Euro würde nicht zwangsläufig auch Europa scheitern. Unser Kontinent, so haben EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und Kommissionspräsident José Manuel Barroso in ihrer Nobelpreisrede in Oslo im Dezember 2012 betont, besitze "enorme Fähigkeiten, sich neu zu erfinden". Es ist daher gut möglich und sehr zu hoffen, dass auf das denkbare Auseinanderbrechen der Währungsunion nach einer turbulenten Übergangsphase rasch wieder kooperative Beziehungen unter den Staaten der Europäischen Union folgen. Schließlich verlief der Prozess der europäischen Integration auch bisher nicht so geradlinig wie uns der Mythos Glauben macht. Nur ein Jahr nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 gelang die Aufnahme der Bundesrepublik in NATO und Westeuropäische Union (WEU); 1958 traten die Römischen Verträge in Kraft.

Nicht die "Vereinigten Staaten von Europa" seien die Lösung aus der europäischen Krise der Staatsverschuldung, so der Journalist Rainer Hank, sondern das Gegenteil: "die strikte fiskalische Selbstverantwortung einzelner Staaten unter striktem Ausschluss jeglicher zwischenstaatlicher, falsch verstandener und teurer Solidarität". Das Europa nach der Krise wird, wenn es Bestand haben soll, ein Europa der Vaterländer bleiben, die durch Handel, gemeinsame Interessen und vielfältige gesellschaftliche, kulturelle und rechtliche Verbindungen eng miteinander verflochten sind. Die einzelnen Nationen werden in ihm als Träger von Demokratie, Recht und Sozialstaat weiter eine zentrale Rolle spielen. Sie verfolgen in der EU ihre eigenen Ziele, die teilweise miteinander harmonieren, aber nicht deckungsgleich sind.

Europa tauge weder zur politisch global agierenden Supermacht noch als Heimat, hat der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf schon 1992 konstatiert. Die zivilisierende Wirkung des heterogenen Nationalstaats hingegen solle man nicht zu gering achten; dessen Auflösung in "realitätsloses Europäertum" betrachtete Dahrendorf nicht als Fortschritt, sondern als "Rückschritt der Zivilisation". Wenn unsere Politiker einseitig die europäische Solidarität beschwören und nationale Interessen verleugnen, sind sie auf ein Europa fixiert, das es nicht gibt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien am 9.10.2012 in der Süddeutschen Zeitung (SZ).

  2. In diesem Sinne äußerten sich zuletzt auch wieder Herman van Rompuy und José Manuel Barroso in ihrer Nobelpreisrede, teilweise abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 11.12.2012; ähnlich auch: Martin Schulz, Die Rückkehr zur Langfristigkeit, in: FAZ vom 10.11.2012; als eine Stimme unter vielen aus der Wissenschaft vgl.: Heinrich August Winkler, Vom Staatenbund zur Föderation, in: FAZ vom 13.6.2012.

  3. So beispielsweise Günther Nonnenmacher, Dehios Dilemma, in: FAZ vom 5.9.2012.

  4. "Die Politik der europäischen Einigung", sagte Kohl anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Katholische Universität Löwen am 2.2.1996, "ist in Wirklichkeit eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert". Abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 12, 8.2.1996.

  5. Zit. nach: Guido Thiemeyer, Europäische Integration, Köln u.a. 2010, S. 73.

  6. In diesem Sinne auch Paul Kirchhof, Verfassungsnot!, in: FAZ vom 12.7.2012; Peter Graf Kielmannsegg, Zwangsintegration, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16.12.2012.

  7. Philip Manow, Ach, Europa – Ach, Demokratie. Über das eigentliche Demokratiedefizit in der Europapolitik, in: Merkur, (2012) 752, S. 20–27, hier: S. 26.

  8. Vgl. Heinrich Oberreuter, Substanzverluste des Parlamentarismus, in: APuZ, (2012) 38–39, S. 25–31, insbes. S. 28.

  9. Vgl. Lothar Höbelt, Parteien und Fraktionen im Cisleithanischen Reichsrat, in: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7,1, Wien 2000, S. 895–1006.

  10. Zum Hintergrund vgl. Wolf D. Gruner, Die deutsche Frage in Europa 1800–1990, München 1993.

  11. Gespräch zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und US-Präsident George Bush am 3.12.1989, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Dokumente zur Deutschlandpolitik, München 1998, S. 603.

  12. Vgl. Kiesingers Rede beim Staatsakt der Bundesregierung zum Tag der Deutschen Einheit im Bundestag, 17.6.1967, abgedruckt in: Peter Longerich (Hrsg.), "Was ist des Deutschen Vaterland?" Dokumente zur Frage der deutschen Einheit 1800–1990, München 19964, S. 233.

  13. Mit dieser Diagnose liege ich zwischen den Positionen von Christoph Schönberger, der in Deutschland einen "Hegemon wider Willen" sieht, und Werner Link, der auf eine "gemeinsame Führung" Deutschlands mit Frankreich im Rahmen des "integrative[n] Gleichgewicht[s]" der EU setzt. Vgl. Christoph Schönberger, Hegemon wider Willen. Zur Stellung Deutschlands in der Europäischen Union, in: Merkur, (2012) 752, S. 1–8; Werner Link, Integratives Gleichgewicht und gemeinsame Führung. Das europäische System und Deutschland, in: Merkur, (2012) 762, S. 1025–1034. Ich teile Links Auffassung, dass eine deutsche Hegemonie nicht zuletzt am Widerstand der anderen europäischen Staaten scheitern würde, bin aber skeptischer als er, was unter den Bedingungen der Euro-Krise die Chancen für die Fortsetzung einer engen Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich betrifft, die nicht nur in sich tragfähig sein, sondern auch von den meisten anderen EU-Ländern akzeptiert werden müsste.

  14. Vgl. Arnulf Baring in Zusammenarbeit mit Dominik Geppert, Scheitert Deutschland? Abschied von unseren Wunschwelten, Stuttgart 1997, S. 183–258, insbes. S. 210.

  15. Einen Vorgeschmack lieferte Jörg Haiders Diktum, Maastricht sei die "Fortsetzung von Versailles ohne Krieg", das eine Bemerkung von Franz-Olivier Gisbert, dem Chefredakteur von "Le Figaro", aufgriff, Maastricht sei "Versailles sans guerre", in: Le Figaro vom 18.9.1992.

  16. Zahlen nach Josef Ehmer, Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1800–2000, München 2004, S. 18

  17. Laut Eurostat betrug das Bruttoinlandsprodukt der 27 EU-Staaten im Jahr 2012 insgesamt 12,82 Billionen Euro. Das BIP der Eurozone betrug im gleichen Jahr 9,5 Billionen Euro, das der Bundesrepublik Deutschland 2,65 Billionen Euro. Vgl. Eurostat, BIP und Hauptkomponenten – Jeweilige Preise, letzte Aktualisierung 13.12.2012, Externer Link: http://www.epp.eurostat.ec.europa.eu (14.12.2012).

  18. Laut Bundesinnenministerium beliefen sich die Nettotransferzahlungen von 1991 bis 1997 auf rund 900 Milliarden DM. Vgl. Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 1997, S. 44, Externer Link: http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Downloads/BODL/Jahresberichte/1997.pdf (14.12.2012).

  19. Zit. nach: FAZ vom 11.12.2012.

  20. Rainer Hank, Wer hat Angst vor der Kleinstaaterei? Wider die "Vereinigten Staaten von Europa", in: Merkur, (2012) 752, S. 9–19, hier: S. 18.

  21. Ralf Dahrendorf, Wege in die Irrelevanz. Schwierigkeiten mit der Bürgergesellschaft, in: FAZ vom 28.10.1992.

  22. Vgl. ausführlicher dazu: Dominik Geppert, Ein Europa, das es nicht gibt, München (Europa Verlag) 2013 (i.E.).

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dominik Geppert für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. phil., geb. 1970; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Konviktstraße 11, 53113 Bonn. E-Mail Link: dominik.geppert@uni-bonn.de