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Die Sexismus-Debatte im Spiegel wissenschaftlicher Erkenntnisse

Charlotte Diehl Jonas Rees Gerd Bohner

/ 17 Minuten zu lesen

Anfang 2013 wurden die Themen Sexismus und sexuelle Belästigung in den deutschen Medien und der breiteren Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Die sogenannte Sexismus-Debatte war durch das Erscheinen eines Artikels angestoßen worden, in dem über grenzüberschreitendes Verhalten eines Politikers gegenüber einer Journalistin berichtet wurde. Der Artikel und die darauf folgende Aufschrei-Bewegung, in deren Rahmen Frauen über Erfahrungen mit Sexismus und sexueller Belästigung berichteten, lösten ein lautes Medienecho aus. Unverständlicherweise spielten Forschungsergebnisse zu den Themen Sexismus und sexuelle Belästigung in den Diskussionsrunden und Berichten nur selten eine Rolle. Dies ist bedauerlich, da viele Argumente, die in der Debatte immer wieder vorgebracht wurden, mit empirischen Befunden klar wider- oder belegt werden können. In diesem Beitrag werden wir auf einige dieser Argumente eingehen und anhand empirischer Befunde aus wissenschaftlicher Sicht darauf antworten. Ziel ist es, Unklarheiten in Bezug auf Sexismus und sexuelle Belästigung wenigstens teilweise aufzuheben.

Was ist Sexismus, was sexuelle Belästigung?

Oft wird bereits infrage gestellt, dass sich Sexismus und sexuelle Belästigung überhaupt eindeutig beschreiben lassen, dass es also allgemeingültige Definitionen gebe. Darüber hinaus herrscht häufig Unklarheit darüber, worin sich die Begriffe "Sexismus" und "sexuelle Belästigung" unterscheiden, sodass sie oft unzutreffenderweise synonym verwendet werden.

Sexismus bezeichnet auf das Geschlecht bezogene Diskriminierung, wird unter dieser Definition in der Gesetzgebung, genauer: im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), berücksichtigt und ist Gegenstand der Sozialforschung. Sexismus zeichnet sich damit insbesondere durch die strukturelle Unterscheidung von Frauen und Männern aufgrund ihres Geschlechts aus. Darunter fallen außerdem geschlechterstereotype, also vorurteilsbehaftete, oft negative Einstellungen, die wiederum zu Erwartungen, Wahrnehmungen, Affekten und Verhaltensweisen führen, die Menschen abwerten und einen ungleichen sozialen Status von Frauen und Männern herstellen oder festigen. Auch wenn Sexismus per Definition Frauen und Männer gleichermaßen betrifft, konzentriert sich die Forschung vor allem auf Sexismus gegenüber Frauen, da diese im Alltag in weit größerem Ausmaß von sexistischer Abwertung betroffen sind.

Während die offene Zustimmung zu klassischen Formen von Sexismus über die Jahre zurückgegangen ist, zeichnen sich moderne Formen von Sexismus heute durch die Leugnung der andauernden Diskriminierung und Benachteiligung von Frauen aus. Darüber hinaus wird in der sozialpsychologischen Forschung seit den 1990er Jahren zwischen feindseligem (hostilem) Sexismus und wohlwollendem (benevolentem) Sexismus unterschieden. Hostiler Sexismus äußert sich demnach in offen negativen Einstellungen gegenüber Frauen und zielt besonders auf Frauen ab, die sich nicht gemäß traditioneller Rollenbilder verhalten. Benevolenter Sexismus äußert sich hingegen in (scheinbar) positiven, paternalistischen Einstellungen gegenüber rollenkonformen Frauen, betont jedoch gleichzeitig deren Schutzbedürftigkeit und Abhängigkeit und kann so unterschwellig der Festigung des Machtgefälles zwischen Männern und Frauen dienen. Beide Komponenten hängen miteinander zusammen, verstärken und begünstigen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern.

Während Sexismus die soziale Konstruktion von Unterschieden zwischen Frauen und Männern bezeichnet und damit die ideologische Grundlage für Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bildet, stellt sexuelle Belästigung als ein geschlechtsbezogenes, unangemessenes Verhalten eine mögliche Form resultierenden, sexistischen Verhaltens dar. Anders als in einigen Diskussionen im Zuge der Sexismus-Debatte behauptet, ist auch sexuelle Belästigung, etwa am Arbeitsplatz, klar definiert und juristisch relevant, da Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben. Diese ist ebenfalls im AGG definiert. Dabei unterscheidet das AGG zwischen sexueller Belästigung als Belästigung aufgrund des Geschlechts und Belästigung aufgrund anderer Merkmale (wie Alter oder Religion).

Nach Paragraf 3, Absatz 4 des AGG ist sexuelle Belästigung "ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen gehören, (das) bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld geschaffen wird". Aus psychologischer Perspektive wird üblicherweise das negative Erleben der Betroffenen als ausschlaggebend betrachtet. Hervorzuheben ist außerdem, dass weder die gesetzliche noch die psychologische Definition eine Absicht, sexuell zu belästigen, auf Seiten des beziehungsweise der Handelnden voraussetzt.

In Deutschland ist sexuelle Belästigung im privaten Bereich nur schwer juristisch belangbar. Als eines der wenigen europäischen Länder hat Frankreich 2012 ein neues Gesetz gegen sexuelle Belästigung eingeführt, das explizit unterschiedliche Formen und Kontexte sexueller Belästigung berücksichtigt (bei der Arbeit, in der Öffentlichkeit, einmalig oder wiederholt, etc.) und diese mit bis zu drei Jahren Haft ahndet.

"Sexismus" ist also der umfassendere Begriff, weil er auch Überzeugungen und Einstellungen einschließt, wohingegen "sexuelle Belästigung" sich immer auf Verhalten bezieht, das dazu führt, dass sich eine Person unwohl und in ihrer Würde verletzt fühlt.

Sind sexuelle Übergriffe bloß Einzelfälle?

Im Verlauf der medialen Sexismus-Debatte war immer wieder zu hören, dass es sich bei einem Verhalten wie dem des in dem Artikel kritisierten Politikers doch eigentlich um einen Einzelfall handele.

Laut einer repräsentativen Untersuchung zur "Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen" im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) haben insgesamt 58,2 Prozent aller befragten Frauen in Deutschland Situationen sexueller Belästigung erlebt. Von sexueller Belästigung bei der Arbeit, in der Schule oder der Ausbildung berichteten 22 Prozent der befragten Frauen. Auf die Frage, welche konkreten sexuell belästigenden Verhaltensweisen sie erlebt hatten, gab mehr als die Hälfte der Frauen an, per Telefon, E-Mail oder Brief belästigt worden zu sein, und ähnlich viele Frauen berichteten von Nachpfeifen und Anstarren. Ungefähr ein Drittel der Frauen gab an, Kommentare über ihren Körper, sexuelle Anspielungen, wiederholtes Fragen nach einem privaten Treffen, unnötiges Nahekommen, Betatschen und Versuche, sie zu küssen, erlebt zu haben (Mehrfachnennungen möglich). Bei sexuell grenzüberschreitendem Verhalten handelt es sich also keineswegs um vernachlässigbare Einzelfälle, sondern um ein Problem, das mehr als die Hälfte aller Frauen in unserer Gesellschaft direkt betrifft.

Wenn in der Debatte eingeräumt wurde, dass sexistisches Verhalten und Belästigung regelmäßig vorkommen, dann oftmals mit dem Hinweis, dass etwa gleich häufig auch Männer betroffen und Frauen die Täterinnen seien.

Tatsächlich sind nachweislich Frauen deutlich häufiger das Ziel sexueller Belästigung als Männer: Durchschnittlich sind in Europa etwa 30 bis 50 Prozent aller berufstätigen Frauen und demgegenüber etwa zehn Prozent der berufstätigen Männer von sexueller Belästigung betroffen. Jüngere Ergebnisse aus einer repräsentativen Telefonumfrage bei nicht-selbstständigen Erwerbstätigen in der Deutsch- und Westschweiz zeigen, dass sich diese Zahlen in den vergangenen 15 Jahren kaum verändert haben: 28 Prozent der befragten Frauen und zehn Prozent der Männer erlebten demnach in ihrem bisherigen Arbeitsleben sexuelle Belästigung. Dabei zeigte sich auch, dass für Frauen drei Viertel der belästigenden Situationen von Männern ausgingen, meist von einzelnen Männern, auch von Gruppen von Männern oder gemischten Gruppen, selten jedoch von Frauen allein. Für Männer ging ungefähr die Hälfte der sexuell belästigenden Situationen ebenfalls von Männern aus (einzeln oder in Gruppen), nur ein Viertel von Frauen und ein Viertel von gemischten Gruppen. Konstellationen, in denen Männer Opfer und Frauen Täterinnen sind, sind ernst zu nehmen, aber vergleichsweise selten. Bei der überwiegenden Mehrheit an Fällen sexueller Belästigung sind die Betroffenen weiblich und die Täter männlich.

Können Männer wissen, was Frauen als sexuelle Belästigung empfinden?

Immer wieder wird behauptet, Frauen würden die Deutungshoheit über die Frage beanspruchen, was unangemessenes Verhalten beziehungsweise sexuelle Belästigung sei. Sie würden als solche auch völlig harmlose Verhaltensweisen bewerten, ohne dass es Männern möglich sei, das nachzuvollziehen oder zu antizipieren. Auch hier liegt der Argumentationslogik eine Schuldumkehr zugrunde: Männer müssen demnach in ständiger Angst leben, dass ihnen normales, "gut gemeintes" Verhalten als Sexismus ausgelegt und gegen sie verwendet wird.

Hierzu liegen Ergebnisse aus einer Befragung unter Studierenden vor, die zeigen, dass sich Männer und Frauen weitgehend einig darüber sind, welche Bemerkungen oder Witze in einer Interaktion vom Gegenüber als sexuell belästigend und unangenehm wahrgenommen werden. Den Befragten wurden 58 potenziell belästigende Bemerkungen und sexistische Witze vorgelegt, die Männer und Frauen übereinstimmend als belästigend und unangenehm einschätzten (etwa "Hast du Fieber? Du siehst so verdammt heiß aus" oder "Warum gibt es Frauenparkplätze? – Damit die Autos der Männer nicht beschädigt werden"). Männer fanden lediglich vier der Witze lustiger als Frauen, wobei den Männern aber dennoch bewusst war, dass die Witze sexistisch und für Frauen unangenehm sind. Auch Männer haben also ein gutes Gespür dafür, was Frauen als unangenehm und grenzüberschreitend empfinden. Sexuelle Belästigung kann dementsprechend auch nicht damit erklärt werden, dass Frauen überempfindlich seien und Männer eigentlich in guter Absicht oder aus Unwissenheit handelten. Männer, die sich unangemessen verhalten, tun dies häufig aus Rücksichtslosigkeit oder Feindseligkeit – in jedem Fall aber tun sie es in aller Regel wissentlich.

Folgen sexueller Belästigung – ist wirklich nichts passiert?

Häufig besteht die Einschätzung, ein Verhalten, wie in der Sexismus-Debatte diskutiert, sei tolerabel, "frau" könne das aushalten und sollte es nicht zu ernst nehmen – Herrenwitze eben.

In der repräsentativen Befragung im Auftrag des BMFSFJ gaben 27 Prozent der befragten Frauen an, bereits Situationen erlebt zu haben, die als sexuelle Belästigung einzustufen sind, und in denen sie sich ernsthaft bedroht fühlten oder Angst um ihre persönliche Sicherheit hatten. Unter denjenigen, die sexuelle Belästigung erlebt hatten, gaben neun Prozent an, dass eine oder mehrere dieser Situationen auch zu ungewolltem Geschlechtsverkehr oder zu körperlicher Gewalt geführt hätten. Diese Zahlen verdeutlichen bereits, dass sexuelle Übergriffe für die Betroffenen oftmals einschneidende und belastende Erlebnisse sind.

Die schwerwiegenden Konsequenzen sexueller Belästigung gelten inzwischen als umfassend erforscht und belegt. Sie reichen von primären Auswirkungen wie Stress, Angst, Unsicherheit, psychosomatischen Beschwerden, verringerter Konzentrationsfähigkeit, Entwicklung psychischer Störungen (Depression, Essstörungen) und Alkoholmissbrauch bis hin zu sekundären arbeitsbezogenen Konsequenzen wie geringeren Karrierechancen durch Leistungsabfall und häufigen Krankenstand. Darüber hinaus erfahren Frauen, die sexuelle Belästigung offenlegen, oft auch eine "sekundäre Viktimisierung". Dieser kriminologische Sammelbegriff umfasst Reaktionen aus dem gesellschaftlichen Umfeld, das eine primäre Viktimisierung auf opferfeindliche Weise interpretiert. Eine zentrale Rolle spielen dabei kulturell geteilte, aber meist realitätsferne Vorstellungen vom Hergang "echter" Straftaten und "üblicher" Opferwerdung. Wenn die Tatschilderung einer von sexueller Belästigung betroffenen Frau von solchen Normvorstellungen abweicht, führt dies häufig zu Misstrauen, Verharmlosung oder Zuweisung von Mitschuld. In den folgenden Abschnitten behandeln wir solche falschen Vorstellungen und ihre Auswirkungen im Einzelnen.

Kann "frau" sich "einfach" wehren?

Oft wird behauptet, eine Frau könne sich doch (heutzutage und überhaupt) "einfach" gegen sexistische Anmache und Belästigung wehren, und zwar verbal oder – wenn nötig – körperlich.

Neuere Forschung zeigt hingegen sehr deutlich, dass bei der negativen Beurteilung passiven Verhaltens von Belästigungsopfern übersehen wird, wie schwierig es für eine Frau in der realen Belästigungssituation sein kann, sich zu wehren. Sogenannte Analogstudien, in denen Frauen zu ihrem Verhalten in hypothetischen Situationen befragt werden, zeigen, dass Frauen in Bezug auf ihr eigenes Verhalten im Fall einer Belästigung optimistische Fehleinschätzungen vornehmen. Besonders eindringlich belegt dies eine Studie der Psychologin Nina Vanselow: Im ersten Teil der Studie wurden Studentinnen lediglich befragt, wie sie sich verhalten würden, wenn ein Mitstudent ihnen in einem Computerchat wiederholt sexuell belästigende Bemerkungen zusenden würde (etwa "Bei deinem Anblick wird meine Hose mir echt zu eng"); im zweiten Teil wurden andere Studentinnen dieser Form der Belästigung tatsächlich ausgesetzt. Das Ergebnis: In der hypothetischen Situation gaben knapp zwei Drittel der Studentinnen an, dass sie den Chat abbrechen und sich bei der Chatleitung beschweren würden. In der realen Situation tat dies aber nur eine einzige von 78 Teilnehmerinnen, alle übrigen ließen die wiederholten Belästigungen bis zum Ende über sich ergehen.

In einer weiteren Analogstudie wurden die Reaktionen von Studentinnen auf sexuell belästigende Fragen in einem (zu wissenschaftlichen Zwecken fingierten, aber für die Teilnehmerinnen scheinbar realen) Bewerbungsgespräch für eine Stelle als studentische Hilfskraft erforscht, und diese mit den vorhergesagten Reaktionen von Studentinnen, die sich das belästigende Interview nur rein hypothetisch vorstellten, verglichen. Das belästigende Verhalten bestand hier aus drei unangemessenen Fragen, die der männliche Interviewer den Bewerberinnen stellte (beispielsweise ob die Bewerberin es wichtig finde, bei der Arbeit einen BH zu tragen). Die Studentinnen, die tatsächlich belästigt wurden, zeigten ein in Belästigungssituationen häufiges Verhaltensmuster: 20 Prozent nahmen die Fragen ernst, 40 Prozent merkten zwar an, dass eine oder mehrere dieser Fragen für das Interview irrelevant seien, aber alle beantworteten letztendlich alle drei Fragen. Demgegenüber sagten 68 Prozent der Studentinnen, die sich das Szenario nur vorstellten, sie würden in einer solchen Situation die Antwort verweigern, 32 Prozent, dass sie den belästigenden Inhalt ignorieren und die Fragen nicht beantworten würden, und sechs bis 16 Prozent, dass sie sich beim Vorgesetzten beschweren, das Interview verlassen oder den Interviewer zur Rede stellen würden. Darüber hinaus erwarteten die Frauen, in einer Belästigungssituation ärgerlich zu werden, während die tatsächlich belästigten Frauen jedoch überwiegend Furcht empfanden. Dieser Befund trägt auch zur Erklärung bei, warum Frauen sich in der Belästigungssituation passiv verhalten, denn Furcht führt typischerweise zu vermeidendem Verhalten, während Ärger zu Aktivität und möglicherweise Konfrontation führt.

Zusammenfassend zeigen diese Studien also, dass Personen in der Regel unterschätzen, wie schockierend reale Belästigungssituationen für Betroffene sind, und wie viel Überwindung es kostet, sich aktiv zur Wehr zu setzen. Stattdessen sehen sich Betroffene mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert: Sexuell belästigende Verhaltensweisen sind oft mehrdeutig. Diese Mehrdeutigkeit macht es für Betroffene schwieriger zu erkennen, ob es sich um Verhalten handelt, über das sie sich berechtigterweise beschweren sollten. Zusätzlich werden belästigende Verhaltensweisen oft in scheinbar sachliche Handlungen eingebunden, sodass sich die Täter auf etwas "Unverfängliches" zurückziehen können. Damit ist sexuelle Belästigung für Betroffene oft irritierend und überraschend, was selbstschützende Reaktionen erschwert oder unmöglich macht.

Andere Forschungsarbeiten zeigen, dass eine direkte Konfrontation oder Beschwerde über den Täter oft negative soziale Konsequenzen für die betroffene Frau nach sich zieht. Frauen, die sich beschweren oder aktiv zur Wehr setzen, werden oft negativ bewertet, büßen an Beliebtheit ein und werden als Querulantinnen angesehen, sodass die Zurückhaltung einiger Frauen in realen Belästigungssituationen durchaus nachvollziehbar sein kann. Vor diesem Hintergrund ist es nur ein schwacher Trost, dass negative Rückmeldungen an den Täter tatsächlich zu einem signifikanten Rückgang von belästigendem Verhalten führen können, wie eine Untersuchung an männlichen Studierenden zeigen konnte.

Nur ein Flirt?

Immer wieder wird diskutiert, ob sexistisches oder grenzüberschreitendes Verhalten das Ausspielen männlicher Macht oder doch nur einen missglückten Flirtversuch darstellt.

Befragungsergebnisse der Umfrage im Auftrag des BMFSFJ zeigen, dass Frauen am Arbeitsplatz überdurchschnittlich häufig betroffen sind, wenn sie keine berufliche Qualifikation oder Ausbildung vorweisen können, sie sich noch in der Probezeit befinden oder erst kurze Zeit im Betrieb sind. Es besteht also häufig ein beachtliches Machtgefälle zwischen Tätern und Betroffenen, und Abhängigkeitsverhältnisse werden von Belästigern ausgenutzt. Forschung in diesem Bereich zeigt außerdem, dass beide Motive (ein sexuelles und ein feindseliges Motiv) eine Rolle bei sexueller Belästigung spielen können. Auch sexuelle Motive oder ungeschickte Flirtversuche können demnach im Spiel sein, machen aber nur einen Teil der Erklärung aus. Und: Männer, die Frauen gegenüber feindselig eingestellt sind, nutzen scheinbar sexuell motivierte Bemerkungen, um Frauen zu demütigen, sodass man bei sexualisiertem grenzüberschreitenden Verhalten oft eine Doppelfunktion (Sex und Machtdemonstration) unterstellen kann. Gerade in hierarchischen Kontexten und immer noch männerdominierten Arbeitsfeldern schwingt in der Regel auch die Botschaft mit: "Ich kann es mir erlauben, dich so zu behandeln, und du kannst nichts dagegen tun."

Was bewirken Mythen über sexuelle Aggression?

Eine weitere Behauptung, die immer wieder in verschiedenen Varianten zu hören war und ist, besagt, dass Frauen Vorwürfe sexueller Belästigung erfinden oder aufbauschen würden – sodass Männer zu Opfern werden.

Eine solche Schuldumkehr entspricht weit verbreiteten Mythen über sexuelle Belästigung und sexuelle Aggression, die dazu dienen, durch eine Entlastung des Täters und Schuldzuschreibung an das Opfer den ungleichen Status quo in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern aufrechtzuerhalten (Beispielhafte Aussagen für solche Mythen sind etwa "Männer sind halt so", "Wenn Frauen sich so aufreizend kleiden, dann sind sie selbst schuld, wenn sie sexuell belästigt werden"). Zur Entlastung der Täter und zur Schuldumkehr können außerdem die bereits angesprochenen Behauptungen dienen, dass es sich bei sexueller Belästigung nicht um ein gesellschaftliches Problem, sondern lediglich um Einzelfälle handele, oder der Vorwurf an die Betroffenen, sie würden sich nicht ausreichend wehren. Mythen über sexuelle Aggression lassen sich definieren als Einstellungen und Überzeugungen zu sexueller Aggression, die der Leugnung, Verharmlosung oder Rechtfertigung sexueller Aggression dienen, die Männer gegenüber Frauen ausüben. Charakteristisch sind die Bagatellisierung sexueller Übergriffe und die Verschiebung der Verantwortung für die Vorfälle. Die Mythen dienen entweder der Verharmlosung, negieren die Tat selbst, verschleiern die Schuldverteilung, legitimieren die Übergriffe, vermindern die Glaubwürdigkeit der Opfer oder bedienen sich einer Kombination dieser Strategien.

Es ist nicht erstaunlich, dass sich diese Mythen in gewissen Kreisen auch in der Sexismus-Debatte großer Beliebtheit erfreuten. Dass auch Frauen solchen Mythen über sexuelle Aggression zustimmen, mag zunächst verwundern. In einschlägigen Forschungsarbeiten konnte allerdings gezeigt werden, dass viele Frauen diese Mythen nutzen, um sich selbst von den Opfern sexueller Aggression abzugrenzen ("Ich bin nicht so eine. Ich verhalte mich korrekt"), und damit ein Gefühl der Kontrolle und eine Illusion der eigenen Unverletzlichkeit aufbauen, die letztendlich dem Selbstschutz dienen.

Erste Forschungsarbeiten zeigen jedoch auch, dass diese opferfeindlichen und täterschützenden Einstellungen und Überzeugungen zu sexueller Belästigung und sexueller Aggression gezielt reduziert werden können. Als eine wirksame Intervention gegen Mythen über sexuelle Aggression hat sich beispielsweise normatives Feedback erwiesen: Wenn Personen mitgeteilt wird, dass die Mythenakzeptanz anderer geringer ausgeprägt ist, als sie vermuteten, geht dadurch ihre eigene Mythenakzeptanz und Aggressionsbereitschaft zurück. Auch die Vermittlung von Wissen über die negativen Konsequenzen sexueller Belästigung und sexueller Aggression für die Betroffenen sowie das Auslösen von Empathie können Einstellungen und Verhalten in positiver Weise verändern. Alle drei Ansätze tragen dazu bei, dass Personen weniger opferfeindliche Einstellungen zeigen und sich ihre Neigung, sexuelle Gewalt auszuüben, reduziert.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lassen sich folgende Befunde festhalten: Erstens, Sexismus und sexuelle Belästigung sind nicht Dasselbe. Beide sind rechtlich und psychologisch klar definiert. Zweitens, sexuelle Belästigung ist kein Einzelfall. Drittens, Männer sind in der Lage einzuschätzen, welche Verhaltensweisen von Frauen als sexuell belästigend wahrgenommen werden und welche nicht. Viertens, die negativen psychischen und arbeitsbezogenen Folgen für die Betroffenen sind wissenschaftlich belegt und erwiesenermaßen schwerwiegend. Fünftens, Personen unterschätzen in der Regel, wie schwer es ist, sich in einer Belästigungssituation aktiv zu wehren. Sechstens, sexuell belästigendes Verhalten erfüllt oftmals eine Doppelfunktion: Sex und Machtdemonstration. Hierarchien am Arbeitsplatz machen sexuelle Belästigung wahrscheinlicher. Siebtens und letztens tragen weit verbreitete Mythen über sexuelle Aggression zur Bagatellisierung der Übergriffe und zur Schuldverschiebung bei. Diese opferfeindlichen Einstellungen lassen sich jedoch durch gezielte Interventionen auch positiv verändern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Iris Six-Materna, Sexismus, in: Lars-Eric Petersen/Bernd Six (Hrsg.), Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen, Weinheim 2008, S. 121–130.

  2. Vgl. beispielsweise Janet K. Swim et al., Everyday Sexism: Evidence for its Incidence, Nature, and Psychological Impact From Three Daily Diary Studies, in: Journal of Social Issues, 57 (2001), S. 31–53; Martha M. Lauzen/David M. Dozier, Maintaining the Double Standard: Portrayals of Age and Gender in Popular Films, in: Sex Roles, 52 (2005), S. 437–446.

  3. Vgl. I. Six-Materna (Anm. 1); Thomas Eckes/dies., Leugnung von Diskriminierung: Eine Skala zur Erfassung des modernen Sexismus, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 29 (1998), S. 224–238; Kirsten Endrikat, Ganz normaler Sexismus. Reizende Einschnürung in ein Rollenkorsett, in: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Folge 2, Berlin 2003.

  4. Vgl. Peter Glick/Susan T. Fiske, The Ambivalent Sexism Inventory: Differentiating Hostile and Benevolent Sexism, in: Journal of Personality and Social Psychology, 70 (1996), S. 491–512; Thomas Eckes/Iris Six-Materna, Hostilität und Benevolenz: Eine Skala zur Erfassung des ambivalenten Sexismus, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 30 (1999), S. 211–228.

  5. Siehe dazu den Beitrag von Julia C. Becker in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  6. Vgl. Ursula Müller et al., Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung von Gewalt gegen Frauen in Deutschland im Auftrag des BMFSFJ, Berlin 2004, S. 92–97.

  7. Vgl. European Commission, Sexual Harassment in the Workplace in the European Union 1998, Externer Link: http://www.un.org/womenwatch/osagi/pdf/shworkpl.pdf (22.12.2013).

  8. Vgl. Marianna Schär Moser/Silvia Strub, Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, in: Arbeit, 1 (2010), S. 21–36.

  9. Vgl. Charlotte Diehl/Jonas Rees/Gerd Bohner, Flirting with Disaster: Short-Term Mating Orientation and Hostile Sexism Predict Different Types of Sexual Harassment, in: Aggressive Behavior, 38 (2012), S. 521–531.

  10. Vgl. U. Müller et al. (Anm. 6), S. 94.

  11. Vgl. beispielsweise Nicole Buchanan et al., Unique and Joint Effects of Sexual and Racial Harassment on College Students’ Well-Being, in: Basic and Applied Social Psychology, 31 (2009), S. 267–285; Melanie Harned/Louise F. Fitzgerald, Understanding a Link Between Sexual Harassment and Eating Disorder Symptoms: A Mediational Analysis, in: Journal of Consulting and Clinical Psychology, 70 (2002), S. 1170; Candice A. Shannon/Kathleen M. Rospenda/Judith A. Richman, Workplace Harassment Patterning, Gender, and Utilization of Professional Services: Findings From a US National Study, in: Social Science & Medicine, 64 (2007), S. 1178–1191.

  12. Vgl. Kurt Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer: Eine viktimologische Untersuchung zur gesellschaftlichen Bewertung und individuellen Betroffenheit, Stuttgart 1982.

  13. Vgl. Ralf Kölbel, Strafrechtliche Haftung für prozessbedingte sekundäre Viktimisierung, in: Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft, 119 (2007), S. 334–360.

  14. Vgl. ebd.

  15. Vgl. Heike Gerger et al., The Acceptance of Modern Myths About Sexual Aggression Scale: Development and Validation in German and English, in: Aggressive Behavior, 33 (2007), S. 422–440.

  16. Vgl. Nina Vanselow, Of Beauties, Beaus, and Beasts: Studying Women’s and Men’s Actual and Imagined Experiences of Sexual and Gender Harassment, Dissertation, Universität Bielefeld 2009.

  17. Vgl. Julie A. Woodzicka/Marianne LaFrance, Real Versus Imagined Gender Harassment, in: Journal of Social Issues, 57 (2001), S. 15–30.

  18. Siehe Jan Salisbury et al., Counseling Victims of Sexual Harassment, in: Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training, 23 (1986), S. 316; Jean A. Hamilton et al., The Emotional Consequences of Gender-based Abuse in the Workplace: New Counseling Programs for Sex Discrimination, in: Women & Therapy, 6 (1987), S. 155–182.

  19. Naomi Ellemers/Manuela Barreto, Collective Action in Modern Times: How Modern Expressions of Prejudice Prevent Collective Action, in: Journal of Social Issues, 65 (2009), S. 749–768.

  20. Vgl. J.A. Woodzicka/M. LaFrance (Anm. 17).

  21. Robin E. Roy/Kristin S. Weibust/Carol T. Miller, If She’s a Feminist it Must Not Be Discrimination: The Power of the Feminist Label on Observer’s Attribution About a Sexist Event, in: Sex Roles, 60 (2009), S. 422–431.

  22. Vgl. Charlotte Diehl/Nina Vanselow/Gerd Bohner, Exerting Power vs. Initiating Contact as Motives for Sexual Harassment: Evidence From a Computer Harassment Paradigm, Vortrag beim XV. Workshop Aggression, Bonn 2010.

  23. Vgl. U. Müller et al. (Anm. 6), S. 95–103.

  24. Vgl. C. Diehl/J. Rees/G. Bohner (Anm. 9).

  25. Angelehnt an Heike Gerger et al. (Anm. 15); Kimberly A. Lonsway/Lilia M. Cortina/Vicki J. Magley, Sexual Harassment Mythology: Definition, Conceptualization, and Measurement, in: Sex Roles, 58 (2008), S. 599–615.

  26. Vgl. Gerd Bohner, Vergewaltigungsmythen: Sozialpsychologische Untersuchungen über täterentlastende und opferfeindliche Überzeugungen im Bereich sexueller Gewalt, Landau 1998; ders. et al., Rape Myth Acceptance: Affective, Behavioral, and Cognitive Effects of Beliefs that Blame the Victim and Exonerate the Perpetrator, in: Miranda Horvath/Jennifer Brown (Hrsg.), Rape: Challenging Contemporary Thinking, Cullompton 2009, S. 17–45; Gerd Bohner et al., Rape Myths as Neutralizing Cognitions: Evidence for a Causal Impact of Anti-Victim Attitudes on Men’s Self-Reported Likelihood of Raping, in: European Journal of Social Psychology, 28 (1998), S. 257–268.

  27. Vgl. Gerd Bohner/Frank Siebler/Jürgen Schmelcher, Social Norms and the Likelihood of Raping: Perceived Rape Myth Acceptance of Others Affects Men’s Rape Proclivity, in: Personality and Social Psychology Bulletin, 32 (2006), S. 286–297; Gerd Bohner, et al., Using Social Norms to Reduce Men’s Rape Proclivity: Perceived Rape Myth Acceptance of Out-groups May Be More Influential than that of In-Groups, in: Psychology, Crime & Law, 16 (2010), S. 671–693.

  28. Vgl. Margaret Hamilton/Jack Yee, Rape Knowledge and Propensity to Rape, in: Journal of Research in Personality, 24 (1990), S. 111–122; Charlotte Diehl/Tina Glaser/Gerd Bohner, Face the Consequences: Learning Based Interventions Reduce Sexual Harassment Myth Acceptance and Men’s Likelihood to Sexually Harass (i.E.); William O’Donohue/Elizabeth A. Yeater/Matthew Fanetti, Rape Prevention With College Males: The Roles of Rape Myth Acceptance, Victim Empathy, and Outcome Expectancies, in: Journal of Interpersonal Violence, 18 (2003), S. 513–531.

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Dipl.-Psych.; wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Abteilung für Psychologie, Universität Bielefeld, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld. E-Mail Link: charlotte.diehl@uni-bielefeld.de

Dipl.-Psych., MSc; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Abteilung für Psychologie, Universität Bielefeld (s.o.). E-Mail Link: jonas.rees@uni-bielefeld.de

Dr. phil., Dipl.-Psych.; Professor für Sozialpsychologie, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft, Abteilung für Psychologie, Universität Bielefeld (s.o.). E-Mail Link: gerd.bohner@uni-bielefeld.de