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Echtzeitjournalismus in der Kritik | Politik, Medien, Öffentlichkeit | bpb.de

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Echtzeitjournalismus in der Kritik

Petra Sorge

/ 14 Minuten zu lesen

Als Thilo Sarrazin Anfang März 2014 beim "Cicero-Foyergespräch" im Berliner Ensemble sein neues Buch zum "Tugendterror" vorstellen wollte, war die Onlineredaktion selbstverständlich live dabei. Die Seite, die sich weniger als Nachrichten- denn Debattenmagazin begreift, war via Video, Twitter und Facebook präsent. Doch Sarrazin kam nicht zu Wort: Demonstranten besetzten das Theater. Die Veranstaltung wurde abgesagt. Noch bevor der erste Artikel auf der Webseite erschien, hatten bereits viele andere Onlinemedien eine entsprechende Agenturmeldung veröffentlicht. Sie hatten sogar "Cicero" als Veranstalter überholt.

In der Welt der Onlinemedien ist Geschwindigkeit die wichtigste Währung. Wo Prominenz und Skandal zusammentreffen, gibt der Ticker den Takt vor. "Der Echtzeitjournalismus", bemerkte die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" dazu spöttisch, "hat uns geistig auf den Wilhelminismus zurückgeworfen". Der stellvertretende Feuilleton-Chef Edo Reents schrieb anlässlich des Berlin-Besuchs von Barack Obama im Sommer 2013, die Berichterstattung habe "aus interessierten Zeitgenossen Untertanen gemacht, die sich mit der Aufzählung von Banalitäten zufriedengeben müssen"; er sprach von "Personenkult" und "Hofberichterstattung". Die neue Eile in der Berichterstattung wirkt für Reents "verheerend" auf die Demokratie. Es gebe keine Zeit mehr, die Dinge zu bewerten.

Unter "Echtzeitjournalismus" – aus dem Englischen real time journalism – wird gemeinhin die live beziehungsweise sehr zeitnah am Ereignis liegende Berichterstattung per Text, Ton und (Bewegt-)Bild unter Einbeziehung sozialer Medien verstanden. Obwohl Radio und Fernsehen bereits seit den 1920er und 1930er Jahren ähnlich "echtzeitig" übertragen, ist die Entwicklung erst mit der Ausbreitung der Internetmedien in die Kritik geraten.

Berichterstattung und investigative Recherche brauchen Zeit, mahnte auch Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts. In einer Festrede im November 2013 warnte er vor erheblichen Gefahren des Echtzeitjournalismus: "Wenn ständig neue Nachrichten erforderlich sind, um die kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Internetnutzer auf die eigenen Seiten zu lenken, taugt zunehmend jede kritische Äußerung eines Amtsträgers zur Nachricht." Da immer weniger Repräsentanten unter diesen Bedingungen inhaltliche Aussagen treffen würden, müssten "zunehmend Aussagen, die eigentlich keinen Nachrichtenwert haben, zu Meldungen stilisiert werden".

Besonders heikel wird diese Logik in Krisensituationen, in denen das Echtzeittempo – in Erwartung einer zunehmenden Eskalation der Ereignisse – eine immer drastischere Zuspitzung verlangt. So wird die Krise zwischen Russland und der Ukraine immer wieder mit dem Kalten Krieg oder der Juli-Krise 1914 verglichen. Dass derartige historische Bezüge nicht nur unangemessen, sondern auch gefährlich sein können, musste Finanzminister Wolfgang Schäuble erfahren, der mit seinem Putin-Hitler-Vergleich die Situation unnötig angeheizt hat.

Wenn die Geschwindigkeit des Nachrichtengeschäfts zu Auswüchsen führt, was bedeutet das dann für die politische Kommunikation insgesamt? Können gründliche Recherche und Qualitätsjournalismus noch sichergestellt werden? Oder führt diese Beschleunigung zu einer gefährlichen Trivialisierung der Berichterstattung? Und was bedeutet das für den politischen Prozess?

Ursachen für die Beschleunigung des Onlinejournalismus

Zunächst sollen fünf Antriebsfaktoren des digitalen Journalismus betrachtet werden: die neuen Nutzungsgewohnheiten der Rezipienten, die Veränderungen im Werbemarkt und bei den Konkurrenzverhältnissen sowie die Einflüsse von Public Relations und sozialen Netzwerken. Anschließend sollen Risiken und Chancen diskutiert werden.

Rezipienten.

Das Angebot folgt der Nachfrage – und letztere wirkt zweifellos als wichtiger Beschleuniger des Onlinejournalismus. Laut (N)Onliner Atlas sind mehr als drei Viertel der Deutschen regelmäßig im Internet unterwegs. Knapp 60 Prozent verfügen über einen schnellen Breitbandzugang, Tendenz leicht steigend. Bereits ein Fünftel der Haushalte verfügt über mindestens einen Tablet-PC. Zudem rufen immer mehr Nutzer Inhalte über ihr Mobiltelefon ab: Ende 2013 waren es knapp 27 Millionen.

Im gleichen Tempo, in dem sich die Digitalisierung in den Alltag drängt, verbessert sich auf Angebotsseite die Messmethodik. Müssen sich Printmedien und Rundfunksender auf grobe Verkaufszahlen und Quoten verlassen, erlauben Softwareprogramme wie Google Analytics oder Piwik eine Online-Erfolgskontrolle in Echtzeit. Diese Analysen zeigen den Medienmachern auch, dass Nachrichtenfaktoren wie Kriminalität, Gewalt, Konflikt oder Sexualität im Onlinejournalismus besonders nachgefragt sind. Die Journalisten Steffen Range und Roland Schweins sprachen bereits 2007 von einem "Primat der Unterhaltung". Dieser gefährde den "Qualitätsjournalismus alter Schule", beobachteten sie und warnten: "Online-Redakteure sind Getriebene in diesem Spiel."

Werbemarkt.

Es geht um Klicks, Klicks, Klicks. Die Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) und die Arbeitsgemeinschaft Online-Forschung (AGOF) interessieren sich neben den Einzelbesuchen für genau diese Seitenaufrufe – sogenannte Page Impressions. Je mehr Klicks, desto mehr Werbeeinnahmen, so lässt sich die Formel zusammenfassen. Dadurch wird es für Medien attraktiver, skandalträchtige Meldungen, Sudokus oder Bildergalerien online zu stellen, längere Texte auf mehrere Klick-Seiten zu verteilen und Videos möglichst kurz zu halten. Andere Wege, journalistische Qualität im Internet zu messen – wie etwa eine längere Verweildauer – wurden zwar immer wieder diskutiert, aber nicht für zweckmäßig befunden.

Dennoch reichen die Methoden kaum aus, um die kargen Anzeigenerlöse zu kompensieren. Rubrikenmärkte und Kleinanzeigen, die der Presse über Jahrzehnte Gewinne bescherten, sind unwiderruflich ins Internet abgewandert. 2012 verringerten sich die Netto-Werbeeinnahmen der Tageszeitungen in Deutschland um 9,1 Prozent auf 3,23 Milliarden Euro.

Zwar steigen die Online-Erlöse im gleichen Maß an. 2012 überschritten die Internetangebote erstmals die Grenze von einer Milliarde Euro. Doch davon profitierten die Verlage kaum. Unter die Top Ten der reichweitenstärksten Webseiten schafften es – abgesehen von Computer-Fachportalen – nur zwei originäre Nachrichtenseiten: bild.de auf Platz vier und "Focus Online" auf Platz zehn, das erstmals "Spiegel Online" überholte. "Focus Online" sieht den Erfolg darin begründet, dass es "das schnellste Nachrichtenportal Deutschlands" sei.

Für den Axel Springer Verlag aber lohnt sich trotz des "Bild"-Spitzenplatzes der Onlinejournalismus offenbar kaum. Jeder Artikel im Netz kommt demnach auf Produktionskosten von circa 400 Euro, spielt aber bestenfalls 25 bis 40 Euro ein. Wie schwer es ist, selbst mit exklusivem Recherchejournalismus ausreichende Werbeerlöse zu erzielen, zeigt das Beispiel des britischen "Guardian". Die drittgrößte englischsprachige Nachrichtenwebseite der Welt verzeichnete im Zuge der Enthüllungen zur NSA-Affäre seit dem vergangenen Jahr enorme Zugriffe. Dennoch ist die Zeitung notorisch klamm: 2012 betrug das Minus 44,2 Millionen Pfund, 2013 immer noch 31 Millionen, wie das Branchenmagazin "Journalist" ermittelte. Auch 2014 werde die Zeitung wieder Millionen verbrennen.

Konkurrenten.

Der Wettbewerbsdruck im Netz ist enorm. Während die Druckausgaben regionaler Tageszeitungen nur einem begrenzten Wettbewerb in ihrem Gebiet ausgesetzt oder sogar häufig Monopolisten sind, müssen sie online in den überregionalen Ressorts gegen alle anderen Zeitungen antreten. Das hat zur Folge, dass für diese Zeitungen Investitionen in Hauptstadt- oder Auslandskorrespondenten wenig attraktiv geworden sind. Der freie oder Poolkorrespondent, der zuvor parallel für mehrere Zeitungen arbeiten konnte, hat heute Schwierigkeiten, seinen Text mehr als einmal abzusetzen.

Überhaupt gleichen sich viele Onlineangebote wie ein Ei dem anderen: überall dieselben Texte und Fotos der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Die wenigen Möglichkeiten, sich vom Wettbewerber zu unterscheiden, sind Schnelligkeit und Varianz der Überschriften. Besonders wichtig ist die Suchmaschinenoptimierung (search engine optimization, SEO): Wer diese Technik besonders effizient einsetzt, landet bei Google News unter den ersten Suchergebnissen – und erhält viele Klicks.

Public Relations.

Den hauptberuflich in Deutschland arbeitenden Journalisten steht mindestens die gleiche Zahl an professionellen Kommunikatoren gegenüber, schätzt der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Günter Bentele. In den USA beträgt das Verhältnis sogar schon 1 zu 4,6. Ein Großteil der Medienberichterstattung hierzulande wird nach Angaben des Forschers thematisch und inhaltlich von der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit dominiert: Bei Print, Hörfunk und Fernsehen gingen etwa zwei Drittel des redaktionellen Stoffes außerhalb von Krisensituationen auf die Initiative der PR zurück. "Für die Online-Information dürfte dieser Anteil noch deutlich höher sein", schätzt Bentele. Da Recherchezeit in den Redaktionen immer knapper wird, ist dort angesichts des permanenten digitalen Aktualisierungsdrucks die Versuchung, auf schnell verfügbare PR-Informationen zurückzugreifen, wohl besonders groß.

Taktung durch soziale Netzwerke.

Kaum ein Faktor allerdings hat so zur Beschleunigung des Journalismus beigetragen wie die sozialen Netzwerke. Diese digitalen Beteiligungsmöglichkeiten, die in Autokratien bereits ungeahnte politische Dynamiken verursacht haben, bieten auch in demokratischen Öffentlichkeiten neue Möglichkeiten. Nutzer können in Echtzeit mit politischen Repräsentanten oder Autoren in Kontakt treten. Journalisten sehen sich in der Folge nicht nur einer stärkeren Kritik und Kontrolle durch die Rezipienten ausgesetzt, auch ihr Berufsbild verschiebt sich. Der CitJo – citizen journalist – und zunehmend auch der MoJo – mobile journalist – sind längst am Ort des Geschehens und twittern. Der Redakteur filtert die Nachrichtenströme; er managt die Informationsflut.

Mithin treiben die sozialen Netzwerke die klassischen Medien sogar vor sich her. Während der Terroranschläge des Boston Marathons beschwerte sich etwa ein Twitter-Nutzer über das langsame Tempo von "Zeit Online": Er lese live bei CNN mit. Die Redaktion entgegnete, sie brauche Zeit, die Informationen zu prüfen. Am Tag des Terroranschlags liefen unzählige Falschmeldungen über die sozialen Netzwerke. Auch seriöse Medien verbreiteten die Spekulationen. CNN meldete zu früh die Festnahme eines Verdächtigen. Ein Irrtum, den auch n-tv.de verbreitete: In seiner Push-App-Eilmeldung berief sich der Nachrichtensender auf CNN als Quelle. Die Festnahme wurde kurz darauf von der Bostoner Polizei dementiert.

Welches dieser beiden Onlinemedien reagierte richtig? "Zeit Online", das auf journalistische Sorgfaltspflicht setzte, obwohl es am Tag des Terroranschlags nahezu unmöglich war, die Fakten von Deutschland aus zu prüfen? Oder n-tv.de, das sich für Schnelligkeit entschied?

Veränderungen, die nicht mehr aufzuhalten sind

Der kanadische Medienjournalist Mathew Ingram ist überzeugt, Fehler im Echtzeitjournalismus seien unvermeidbar: "Das ist nun einmal die Art, wie Nachrichten heute funktionieren." Noch verkehrter sei es, die sozialen Netzwerke für derartige Falschmeldungen verantwortlich zu machen. Ingrams These wurde in den US-Medien heftig diskutiert. Einige Journalisten waren der Meinung, Fehler während solcher Breaking-news-Situationen zu akzeptieren, sei der allergrößte Fehler.

Tatsächlich sind mit dieser Art der Berichterstattung Risiken verbunden. Insbesondere drohen die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen verletzt zu werden. Nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Grundschule in Newtown, Connecticut, zeigten diverse US-Medien für eine Stunde das Facebook-Foto des mutmaßlichen Täters. Tatsächlich handelte es sich bei dem Gezeigten um seinen Bruder.

Besonders verheerend ist diese Entwicklung für Personen der Zeitgeschichte, die in Skandale verwickelt werden. Zahlreiche Onlineportale richteten voyeuristische Live-Ticker ein, als die "Stern"-Reporterin Laura Himmelreich auf Rainer Brüderle traf, den sie des Sexismus bezichtigt hatte, oder als die ersten Kinderporno-Vorwürfe gegen Sebastian Edathy durch Berlin kreisten. Angetrieben von Häme bei Facebook, Twitter und diversen Foren bauen sich so brutale Erregungswellen auf, bei denen die Betroffenen "gnadenlos durch den Wolf gedreht" werden, wie es die frühere Kieler Oberbürgermeisterin Susanne Gaschke im "Cicero" formulierte. Onlinemedien freut es: Die Erregung lässt sich in lukrative Klicks verwandeln.

Der Echtzeitjournalismus setzt öffentliche Repräsentanten aber auch in Normalsituationen unter Druck. Das Tempo, mit dem von Politikern Statements zu aktuellen Ereignissen abverlangt wird, lässt keinerlei Spielraum für innerparteiliche Abstimmungsprozesse. Wer da nicht mithält, wird vom Mediensystem mit Nichtbeachtung gestraft. Das System setzt auch Anreize, gezielte Rezipientengruppen zu bedienen. Digital affine Stakeholder, die über Blogs und soziale Netzwerke eng vernetzt sind, können binnen kürzester Zeit in ihrer Community für eine enorme Verbreitung sie betreffender Inhalte sorgen. Beispiele für solche Gruppen sind die Piratenpartei kurz nach ihrem Einzug in den Berliner Landtag oder aktuell die Partei Alternative für Deutschland. Demokratietheoretisch ist es durchaus bedenklich, wenn aufgrund dieser Logik deren Lobbyinteressen eine größere Gewichtung erhalten als Themen wie Pflege oder Altern.

Andererseits birgt der Echtzeitjournalismus auch enorme Chancen. Er versorgte das Publikum etwa während der Reaktorkatastrophe in Fukushima mit sekundengenauer Information und diente sogar Politikentscheidern: Bundeskanzlerin Angela Merkel soll den schwarz-gelben Atomausstieg noch am selben Tag beschlossen haben, als sie die Bilder des zerstörten Kraftwerks sah.

Der Umbruch in der Medienwelt ermöglicht zudem völlig neue Formen der demokratischen Partizipation und Nischenbildung. Als herausragendes Beispiel ist der NSU-Watchblog zu nennen, ein Bündnis antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen. Mit ihren Protokollen, Echtzeit-Tweets und deutsch-türkischen Berichten vom NSU-Prozess in München hat die Initiative mehr Atem gezeigt als die meisten klassischen Medien, die sich zu Beginn eher auf Nebensächliches wie die Platzfrage im Gerichtssaal oder das Aussehen Beate Zschäpes konzentrierten. Die Otto-Brenner-Stiftung zeichnete den Watchblog 2013 mit dem Medienprojektpreis aus, das "Medium Magazin" mit einem Sonderpreis.

Tatsächlich gibt es Hoffnung, dass auch die Onlineleser selbst anspruchsvoller geworden sind. Das zeigt einerseits der Erfolg opulenter Multimediaformate wie "NSA Files: Decoded" über die Snowden-Enthüllungen beim "Guardian" oder geheimerkrieg.de, ein Rechercheprojekt von "Süddeutscher Zeitung" und NDR über nachrichtendienstliche Aktivitäten in Deutschland. Andererseits spricht auch die gestiegene Bereitschaft, für wertvollen Qualitätsjournalismus Geld auszugeben, für sich: Derzeit setzen laut Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) bereits 76 Titel im Internet auf Bezahlschranken, sogenannte paywalls. Ganz neue Erlösmöglichkeiten eröffnet den Verlagen auch der Tabletjournalismus. "Der Spiegel" hat für seine digitale Ausgabe bereits 50.000 Abonnenten, jährlich kommen 10.000 neue hinzu.

Schließlich sind die Trends, die den Journalismus unter Druck setzen, nicht alle auf die Digitalisierung zurückzuführen. Bereits Mitte der 1990er Jahre waren Auflagenzahlen und Anzeigenumsätze bei Tageszeitungen rückläufig. Die Forschung beschäftigte sich schon seit Jahrzehnten mit dem Niedergang des Qualitätsjournalismus, dem Relevanzverlust des Politischen und der Verflachung der Berichterstattung hin zum "Infotainment".

Wie sollten Medien und Politik reagieren?

Die Echtzeitberichterstattung zu verdammen oder ihr die Berechtigung abzusprechen, Teil des Journalismus zu sein, bringt die Debatte daher nicht voran. Tagesaktueller Nachrichtenjournalismus war auch vor der Digitalisierung schon immer ein hektisches, fehleranfälliges Geschäft, an dessen Ende ein in sich abgeschlossenes Produkt – ein Artikel oder Beitrag – stand. Nur agierten die Medienhäuser damals weitgehend im Verborgenen, undurchsichtig für Außenstehende. Das Netz hat diese Blackbox in ein gläsernes Gehäuse verwandelt: Der Echtzeitjournalismus macht das redaktionelle Chaos für alle sichtbar.

Medienmacher müssen sich daher darauf einstellen, das Publikum an ihren Rechercheschritten teilhaben zu lassen. Die veränderten Arbeitsprozesse erfordern noch mehr Sorgfalt; der Pressekodex muss unter Echtzeitbedingungen genauso gelten. Persönlichkeitsrechte dürfen nicht mit Füßen getreten werden: Wo die Staatsanwaltschaft ermittelt, gilt bis zum Richterspruch die Unschuldsvermutung; wer die Politikerwohnung – wie im Fall Edathy geschehen – von innen zeigt, verletzt die Intimsphäre und trägt nichts zur Aufklärung eines Sachverhalts bei.

Moralappelle wie jene von Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle an einzelne Journalisten, "gegen die Anreize eines systemkonformen Verhaltens" zu handeln, nützen dennoch nur begrenzt. Einerseits sorgt die Prekarisierung des Journalismus bei gleichbleibend hoher Attraktivität des Berufsbilds dafür, dass ein Überangebot an günstigen Medienarbeitern im Markt derartige Ausfälle kompensieren kann. Andererseits vermögen die Handlungen Einzelner auch nicht mehr den Trend zur Beschleunigung des gesamten Systems aufzuhalten.

Sinnvoller wäre es deshalb, den Arbeitsprozess im Echtzeitjournalismus insgesamt transparenter zu gestalten. Fehler in Online-Artikeln müssen nicht nur korrigiert werden, diese Änderungen sollten auch protokolliert werden. Das erfordert allerdings eine offenere Kritikkultur in Redaktionen, an der es in Deutschland vielfach mangelt.

US-Journalismusforscher Craig Silverman ist überzeugt, Zurückhaltung könne in Breaking-news-Situationen ein Wettbewerbsvorteil sein. Auf Gerüchte in den sozialen Netzwerken sollten Redaktionen allenfalls vorsichtig eingehen, ohne sie selbst zu übernehmen. Beispielhaft macht das Andy Carvin, Nahostreporter des US-Senders National Public Radio: Wenn er Tweets weiterverbreitet, deren Wahrheitsgehalt er nicht auf die Schnelle überprüfen kann, kennzeichnet er diese etwa mit dem Hinweis "Not confirmed". Redaktionen sollten laut Silverman auch erklären, warum sie über etwas nicht berichten. Zwar riskierten sie in diesem Moment Reichweite. Doch in Erinnerung blieben nur jene Medien, die Falschmeldungen verbreiten, nicht jene, die richtig lagen.

An Amts- und Mandatsträger stellt die beschleunigte Medienrealität ganz andere Anforderungen. So entsteht laut dem Politikwissenschaftler Ulrich Sarcinelli ein neuer Typus des politischen Repräsentanten: der Politikvermittler. Dieser muss "kommunikative – vor allem auch medienspezifische – Fähigkeiten" besitzen. Das Personal muss aber auch stärker für Krisensituationen gewappnet sein, die sich im Echtzeitjournalismus rasant zu Proteststürmen aufschrauben können. Hinzu kommen Fähigkeiten im Umgang mit sozialen Netzwerken. Nur wer auf diesen Kanälen schon langfristig Unterstützer gesammelt hat und die richtige, humorvoll-selbstironische Ansprache dort beherrscht, ist für drohende Shitstorms gewappnet. Oder er weiß sie – wie CDU-Twitter-Pionier Peter Altmaier es bei Anwürfen gegen sein Privatleben gelang – sogar gleich im Keim zu ersticken.

Ausblick

2007 prophezeiten Steffen Range und Roland Schweins dem Onlinejournalismus ein baldiges Ende. "(N)och drei, fünf oder acht Jahre", schrieben sie, und spätestens dann "werden sich etliche Leser ermattet abwenden von den aufgeregten, hyperventilierenden, sensationsgeilen Sites". 2014 ist davon nichts eingetreten. Die Nutzerzahlen sind sogar noch gewachsen. Das muss nicht unbedingt für den Onlinejournalismus sprechen. Aber gegen die Leser spricht es ganz gewiss nicht.

Dipl.-Journalistin und Politikwissenschaftlerin, geb. 1984; Redakteurin bei "Cicero Online", Friedrichstraße 140, 10117 Berlin. E-Mail Link: sorge@cicero.de