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Das Internet als Heilsbringer der Demokratie? | Politik, Medien, Öffentlichkeit | bpb.de

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Das Internet als Heilsbringer der Demokratie?

Daniel Jacob Manuel Thomas

/ 12 Minuten zu lesen

Ob "Twitter-Revolution", Piratenpartei oder Cyberwar – es mangelt nicht an Beispielen dafür, dass das Internet die Politik zu verändern scheint. In diesem Beitrag möchten wir diese Entwicklungen zum Anlass für eine Diskussion darüber nehmen, ob beziehungsweise inwieweit das Internet als Kommunikationsmedium den demokratischen Prozess verändert. Unser zentrales Argument dabei lautet, dass die technischen Möglichkeiten des Internets das Potenzial bergen, die politische Öffentlichkeit inklusiver zu gestalten: Das Internet ermöglicht, mehr Menschen den Zugang zur Öffentlichkeit zu verschaffen und mehr Themen zum Gegenstand des öffentlichen Diskurses zu machen. Die Verwirklichung dieses Potenzials wird jedoch davon abhängen, ob es gelingt, zwei hiermit verbundenen Herausforderungen zu begegnen: zum einen der Beharrungskraft bestehender gesellschaftlicher Ungleichheiten, zum anderen der besonderen Notwendigkeit der Integration einer derart erweiterten Öffentlichkeit.

Demokratisches Potenzial des Internets

Es ist das zentrale Versprechen der Demokratie, alle Mitglieder einer politischen Gemeinschaft in gleicher Weise an Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten zu beteiligen. Die Diskussion darüber, ob die Demokratie dieses Versprechen einlösen kann, ist so alt wie die Idee der Demokratie selbst. Zuletzt hat in diesem Zusammenhang der Politikwissenschaftler Colin Crouch mit seinem viel zitierten Konzept der Postdemokratie Aufmerksamkeit erregt. Er kritisiert, dass trotz formaler Gleichheit in vielen der heutigen Demokratien die Interessen großer Wirtschaftsakteure mehr Beachtung fänden als jene des einfachen Wählers.

Diese Kritik lässt sich genauer fassen, wenn man die verschiedenen Dimensionen der Demokratie präzisiert: Was üblicherweise als "nur formale" Gleichheit beschrieben wird, betrifft zunächst den Prozess demokratischer Entscheidungsfindung durch freie und gleiche Wahlen. Demnach ist es unvereinbar mit den Grundprinzipien der Demokratie, einzelnen Mitgliedern oder gar ganzen Gruppen innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens das Recht auf Teilnahme an Wahlen vorzuenthalten.

Von diesem Kernbegriff der Demokratie lässt sich dann die öffentliche Willensbildung unterscheiden. Im Zentrum steht hier der Austausch von Argumenten, wobei offen gehalten werden kann, ob dieser Austausch im Sinne des Philosophen Jürgen Habermas als rationale Verständigung mit dem Ziel eines wohlbegründeten Konsenses zu deuten ist, oder ob es sich um einen Konflikt zwischen miteinander letztlich unvermittelbaren Interessen handelt, wie es die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe beschreibt. Entscheidend ist vielmehr zunächst, dass es überhaupt gesellschaftliche Foren gibt, in denen sich Bürger über die gemeinschaftlichen Angelegenheiten argumentativ austauschen können – und so die Machtausübung durch staatliche wie nicht-staatliche Akteure in Frage stellen können. Eine so verstandene deliberative Öffentlichkeit erweitert zum einen den politischen Handlungsspielraum von Bürgerinnen und Bürgern eines demokratischen Staats, indem diese über die Teilhabe an Wahlen hinaus die Möglichkeit erlangen, ihre politischen Überzeugungen und Argumente in den politischen Prozess einzuspeisen. Zum anderen dient sie aber auch dazu, die formale Entscheidungsfindung vorzubereiten. Je inklusiver und aktiver der argumentative Austausch im Rahmen der politischen Öffentlichkeit ist, umso begründeter scheint die Hoffnung, dass die formalen Entscheidungsverfahren die jeweils relevanten Informationen und Sichtweisen berücksichtigen.

Unbestritten ist nun jedoch, und so lässt sich auch die Kritik von Crouch verstehen, dass die öffentliche Willensbildung heute vielfach von Machtasymmetrien bestimmt wird, die darüber entscheiden, wem der Zugang zur Öffentlichkeit offen steht und welche Themen dort verhandelt werden. Diese Machtasymmetrien lassen sich mit dem Soziologen Pierre Bourdieu als Folge der Ungleichverteilung von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital verstehen. Mit Blick auf den Begriff des kulturellen Kapitals unterscheidet er zwischen der individuellen Aneignung von Wissen im Sinne persönlicher Bildungserfahrungen, der Objektivierung von Wissen in Form von Kulturgütern und der Institutionalisierung in Form von Bildungstiteln. Soziales Kapital schließlich beschreibt Bourdieu als "Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind".

In diesem Kontext nun kommt den Medien eine besondere Bedeutung zu. Einerseits können sie, wie Bourdieu etwa mit Blick auf das Fernsehen beschreibt, dazu dienen, gesellschaftliche Machtasymmetrien zu reproduzieren und dauerhaft zu stabilisieren. Andererseits können Medien aber auch, wie Habermas in seinen stärker historischen Betrachtungen zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" ausführt, bestehende Machtkonstellationen in Frage stellen, indem sie den Zugang zur Öffentlichkeit oder das Spektrum der dort verhandelten Themen erweitern.

Das Internet unterscheidet sich dabei gegenüber "klassischen" Medien wie Fernsehen und Zeitung, Telefon und Brief in mindestens drei Hinsichten: Erstens macht es das Internet möglich, große Datenmengen sehr schnell über weite Entfernungen zu transportieren. Zweitens ist die Kommunikation über das Internet zugleich relativ günstig, insbesondere aus Sicht des Endverbrauchers. Drittens schließlich ermöglicht das Internet den gleichzeitigen Austausch zwischen einer großen Zahl an Kommunikationsteilnehmern. Der Soziologe Manuel Castells spricht daher mit Blick auf das Internet als neues Medium von mass self-communication.

Will man das demokratische Potenzial des Internets beschreiben, so ist insbesondere dieser letzte Punkt entscheidend. Wie Stefan Münker bemerkt, ist "mit dem Web 2.0 zum historisch ersten Mal eine massenhafte Nutzung gemeinschaftlich geteilter, interaktiver Medien nicht nur möglich, sondern wirklich". Im Internet kann jeder Einzelne nicht nur Informationen aufnehmen, sondern zugleich aktiv eigene Informationen und Argumente einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Dies markiert einen deutlichen Unterschied zu anderen Massenmedien wie Rundfunk oder Fernsehen, bei denen es schon technisch ausgeschlossen ist, dass alle Rezipienten zugleich aktive Nutzer des Mediums sind – und bei denen dadurch stets reguliert werden muss, wer sich in welcher Form und zu welchem Thema äußern darf.

Diese potenzielle Ausweitung der Öffentlichkeit geht mit einer Abnahme der Bedeutung ökonomischen Kapitals für den Zugang zur Öffentlichkeit einher. Für Individuen, aber auch für politische Organisationen entfallen durch die technischen Möglichkeiten des Internets eine Vielzahl jener Kosten, die bisher nötig waren, um Zugang zur Öffentlichkeit zu erhalten beziehungsweise um sich in Suböffentlichkeiten zu organisieren. Das Habermas’sche Ideal eines Diskurses, an dem alle Betroffenen sich unabhängig von ihren ökonomischen Ressourcen in gleicher Weise beteiligen können, scheint somit in greifbare Nähe zu rücken.

Gefahr neuer Elitenbildung

Dem demokratischen Potenzial des Internets steht jedoch die Gefahr gegenüber, dass die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Öffentlichkeit einer kleinen Elite vorbehalten bleiben. Denn die technischen Möglichkeiten zum Austausch von Argumenten über das Internet setzen in dreierlei Hinsicht eine neue Form kulturellen Kapitals voraus: Erstens verlangt die schiere Masse an potenziell verfügbaren Informationen nach Strategien zur Erfassung der jeweils relevanten Informationen und zum Umgang mit großen Datenmengen. Zweitens ist es notwendig, die "Spielregeln" des Internets zu kennen, um der eigenen Stimme im Internet Gehör zu verschaffen. Drittens schließlich ist in vielen Teilen der Welt ein vergleichsweise anspruchsvolles technisches Wissen Voraussetzung, um staatliche Zensurmaßnahmen zu umgehen. Bei diesen drei internetspezifischen Formen kulturellen Kapitals handelt es sich im Sinn der oben eingeführten Unterscheidung von Bourdieu um kulturelles Kapital, das über formelle wie informelle Formen von Bildung angeeignet wird.

Bourdieu selbst betont, dass der Erwerb inkorporierten kulturellen Kapitals in der Regel ein hohes Maß an ökonomischem und/oder kulturellem Kapital voraussetzt. Und in der Tat legen empirische Untersuchungen zur digital divide die Vermutung nahe, dass auch der Erwerb internetspezifischen kulturellen Kapitals jenen leichter fällt, die aufgrund ihres familiären Kontexts bereits privilegierten gesellschaftlichen Schichten angehören.

Doch gibt es auch Indizien dafür, dass sich durch das Internet und das ihm eigene kulturelle Kapital Nischen auftun, die eine zumindest graduelle Verschiebung bestehender Machtverhältnisse ermöglichen. So lässt sich etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia als eine Auseinandersetzung über den gesellschaftlichen Stellenwert klassischer Bildung verstehen. Nicht nur wird hier tagtäglich neu darüber verhandelt, worin der Inhalt "klassischer Bildung" besteht. Darüber hinaus werden hier auch klassische Bildungsinstitutionen und die mit ihnen verbundenen formalen Bildungsabschlüsse in Frage gestellt. Ein weiteres Beispiel liefert die Hacker-Bewegung. Auch wenn über diese kaum zuverlässige sozialwissenschaftliche Daten verfügbar sind, so entspricht es doch zumindest dem öffentlich verbreiteten Selbstbild dieser Bewegung, internetspezifisches Wissen gerade in der Auseinandersetzung mit anerkannten Institutionen zu erwerben, zu nutzen und weiterzugeben.

Diese Beispiele deuten an, dass es durch die Ausbreitung des Internets zu einer Umdeutung und damit einhergehend auch gewissen Umverteilung kulturellen Kapitals kommt. Empirisch noch offen scheint dabei, ob dies lediglich die Ablösung einer Elite durch eine andere Elite bedeutet, oder ob es dabei auch zu einer stärker egalitären Verteilung kulturellen Kapitals kommt. Die Frage ist also, ob das Internet einen Beitrag dazu leisten kann, nicht nur ökonomische Hürden beim Zugang zur politischen Öffentlichkeit zu überwinden, sondern auch jene subtilen und gerade dadurch besonders resistenten Barrieren, die sich aus der Ungleichverteilung kulturellen Kapitals ergeben.

Bourdieus Machtbegriff legt es nahe, zunächst das Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern eines Staates als Individuen in den Blick zu nehmen. Für die Diskussion des demokratischen Potenzials des Internets ist es darüber hinaus aber auch entscheidend, inwiefern es das Verhältnis des Einzelnen gegenüber gesellschaftlichen Machtzentren verändert.

Um diese Frage zu beantworten, schlagen wir vor, Staaten wie auch Unternehmen als Organisationen zu verstehen, deren Macht sich ähnlich wie im Fall von Individuen aus ihrer Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital ergibt. Die institutionalisierte Form dieser Organisationen macht es dabei möglich, diesen Kapitalbestand auch dann zu bewahren, wenn das konkrete Personal, das in und durch diese Institutionen handelt, sich wandelt. Die ökonomischen Ressourcen des Staates hängen in diesem Sinne ebenso wenig an der Person des Staatsoberhaupts wie das kulturelle Kapital eines Unternehmens an einzelnen Managern. Offenkundig ist nun, dass das Verhältnis des Einzelnen gegenüber Staaten und Unternehmen durch massive Asymmetrien gekennzeichnet ist.

Daher ist es besonders problematisch, wenn Staaten und Unternehmen Einfluss auf den Zugang zu eben jener Öffentlichkeit nehmen, die sie kontrollieren soll. Von Staaten geht dabei die Gefahr aus, dass sie durch mehr oder weniger explizite Zensurmaßnahmen regulieren, wer Zugang zur Öffentlichkeit erhält und welche Informationen dort ausgetauscht werden dürfen. Im Fall von Unternehmen hingegen droht die Zurückdrängung politischer Debatten zugunsten von entpolitisierter Unterhaltung. Zwar muss dafür Unternehmen keine politische Absicht im engeren Sinne unterstellt werden, doch ist es eben in ihrem Sinne, wenn die Internetnutzer konsumieren, statt sich über politische Fragen auszutauschen.

Wie schon zuvor scheint auch hier auf den ersten Blick das Internet einen vielversprechenden Ausweg anzubieten. Die dezentrale, offene Struktur des Internets macht es dem Einzelnen in bisher ungekannter Weise möglich, sich dem Zugriff staatlicher Zensurmaßnahmen zu entziehen. Das wohl prominenteste Beispiel für die Umgehung von Zensurmaßnahmen eines demokratischen Staats ist die Veröffentlichung geheimer Unterlagen der US-Regierung durch die Enthüllungsplattform Wikileaks. Darüber hinaus zeigt sich gerade in autoritären Staaten, dass Journalisten und politische Aktivisten das Internet zunehmend geschickt nutzen, um staatlicher Zensur zu entgehen. Ähnlich positive Tendenzen deuten sich mit Blick auf den Einfluss von Unternehmen an. Wie bereits ausgeführt bietet das Internet vielfältige und dabei kostengünstige Möglichkeiten des Austauschs und der Vernetzung – und so im Prinzip die Möglichkeit eines öffentlichen Diskurses jenseits der "klassischen", vom Marktdenken bestimmten Medien.

Das Problem ist jedoch, dass diese Möglichkeiten nur für jene eine reale Option darstellen, die über ein hinreichendes Maß an internetspezifischem kulturellen Kapital verfügen. Wird so der freie und gleiche Zugang zur Öffentlichkeit zum Privileg einer kleinen Elite, steht jedoch letztlich das normative Ideal gleicher politischer Teilhabe auf dem Spiel – und damit auch die kritische Hinterfragung der Macht von Staaten und Unternehmen durch eine demokratische und inklusive Öffentlichkeit.

Gefahr des Zerfalls der Öffentlichkeit

In dem Maß, in dem sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger aktiv in die öffentliche Debatte einbringen, stellt sich mit besonderer Nachdrücklichkeit die Frage, wie es gelingen kann, die derart erweiterte Öffentlichkeit wieder auf eine Weise zusammenzuführen, die es den Bürgern eines demokratischen Gemeinwesens ermöglicht, sich gemeinsam über die öffentlichen Angelegenheiten auszutauschen.

Skeptisch ließe sich an dieser Stelle vermuten, das Internet selbst stehe aufgrund seiner technischen Eigenschaften einer Verständigung im Sinne des aufrichtigen und offenen Austausches von Argumenten im Wege. Die Begrenzung von Tweets auf 140 Zeichen beim Kurznachrichtendienst Twitter wäre demnach symptomatisch für eine Verkürzung und Verflachung politischer Argumente, die einen ernsthaften argumentativen Austausch nahezu unmöglich machen. Es gibt jedoch bisher keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Internet als Technik eine solche Entwicklung vorgibt. Um beim Beispiel der Verkürzung von Argumenten zu bleiben: Anders als im Fall von Fernsehen und Printjournalismus bietet das Internet die Möglichkeit, Argumente in epischer Länge auszubreiten und zu diskutieren. Selbst der 140-Zeichen-Tweet muss dann nicht zu einer Verflachung von Argumenten führen, wenn ein Teil der Zeichen dafür genutzt wird, auf umfangreichere Ausführungen jenseits von Twitter zu verweisen.

Eine weitere, in diesem Kontext vielfach geäußerte Befürchtung betrifft die Gefahr der Desintegration der Öffentlichkeit durch die vermeintlich atomistischen Tendenzen des Internets. In dieser Diskussion, wie sie etwa der Rechtswissenschaftler Cass Sunstein oder der Polit-Aktivist Eli Pariser angestoßen haben, wird darauf hingewiesen, dass die Öffentlichkeit des Internets zunehmend in hoch personalisierte Wahrnehmungssphären zerfällt. Dabei kommen zwei Mechanismen zusammen. Zum einen verwenden wir als Internetnutzer mehr oder weniger technisch ausgefeilte Filter, um aus der Masse der im Internet verfügbaren Informationen jene herauszusuchen, die uns als relevant erscheinen. Zum anderen wird diese im Wesentlichen bewusste Auswahl verstärkt durch die automatisierten Filter von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken. Es entsteht die Gefahr, dass das Internet zu einer Atomisierung der Öffentlichkeit in viele "private Öffentlichkeiten" – in unsere ganz eigene filter bubble (Pariser)führt.

Vielfach zitiert werden in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Habermas über das neue Medium Internet. Zwar schreibt er diesem das Potenzial zu, die Zensur autoritärer Regime zu unterlaufen, und erahnt auch die "historisch versunkene Gestalt eines egalitären Publikums von schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern". Dennoch fürchtet er, dass es durch das Internet letztlich zu einer Fragmentierung und damit weiteren Schwächung der Öffentlichkeit kommen wird. Vorerst, so Habermas, "fehlen im virtuellen Raum die funktionalen Äquivalente für die Öffentlichkeitsstrukturen, die die dezentralisierten Botschaften wieder auffangen, selegieren und in redigierter Form synthetisieren".

Weiter zugespitzt werden diese Überlegungen vom Kommunikationsphilosophen Byung-Chul Han, der mit Blick auf die jüngere Entwicklung des Internets gar das "Ende des kommunikativen Handelns" prophezeit. Andererseits bietet das Internet selbst im Prinzip eine besonders geeignete technische Infrastruktur, um "Knotenpunkte" für eine demokratische Öffentlichkeit zu bilden. Der Hyperlink als zentraler Baustein des Internets ist schließlich geradezu darauf ausgelegt, Verbindungen zu ermöglichen. Aggregatoren-Dienste wie Google News oder auch die Hashtags (Schlagworte) bei Twitter bieten weitere Möglichkeiten, die politische Öffentlichkeit bei aller wünschenswerten Diversität zusammenzuhalten.

Nimmt man die Überlegungen aus dem vorherigen Abschnitt zur Bedeutung internetspezifischen kulturellen Kapitals ernst, so wird jedoch schnell deutlich, dass die Nutzung dieser Möglichkeiten wiederum nur einer vergleichsweise kleinen Gruppe vorbehalten ist, die über das hierfür notwendige Kapital verfügt. Es droht mithin nicht ein allgemeiner Zerfall der Öffentlichkeit, sondern die weitergehende Aristokratisierung des politischen Diskurses.

Schlussüberlegungen

Kann das Internet dabei helfen, das Ideal politischer Gleichheit zu verwirklichen? Das Internet birgt das technische Potenzial, ökonomische Hürden beim Zugang zur politischen Öffentlichkeit zu überwinden. Diesem demokratischen Potenzial stehen jedoch Gefahren gegenüber: zum einen die Gefahr einer neuen Elitenbildung, die im schlimmsten Fall sogar schlicht eine Reproduktion bestehender Machtasymmetrien bedeutet; zum anderen die Gefahr des Zerfalls beziehungsweise der Desintegration der neuen Öffentlichkeit Internet. Demokratietheoretisch stellt sich so die Frage, wie unser Verständnis von Demokratie und insbesondere demokratischer Öffentlichkeit mit Blick auf diese Herausforderungen erneuert oder auch erweitert werden muss. Für die Praxis wird entscheidend sein, welche Akteure sich in den politischen Auseinandersetzungen über die Ausgestaltung des Internets durchsetzen – oder genauer, ob es den demokratischen Kräften gelingt, das Internet als "Befreiungsinstrument" zu nutzen. Im Internet als Kommunikationsmedium selbst ist keine bestimmte Entwicklung angelegt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Colin Crouch, Post-Democracy, Malden, MA 2004.

  2. Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992.

  3. Vgl. Chantal Mouffe, Über das Politische, Frankfurt/M. 2007.

  4. Vgl. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und symbolische Macht, in: ders. (Hrsg.), Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992, S. 135–154.

  5. Vgl. ders., Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel, Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198, hier: S. 185–190.

  6. Ebd., S. 190f.

  7. Vgl. ders., Über das Fernsehen, Frankfurt/M. 1998.

  8. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/M. 1990 (1962).

  9. Vgl. Manuel Castells, Communication Power, Oxford 2009, S. 63–71.

  10. Stefan Münker, Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt/M. 2009, S. 10.

  11. Vgl. Alexander Siedschlag, Digitale Demokratie, in: Peter Kemper/Alf Mentzer/Julika Tillmanns (Hrsg.), Wirklichkeit 2.0. Medienkultur im digitalen Zeitalter, Stuttgart 2012, S. 272–276.

  12. Für einen Überblick zu dieser Debatte siehe M. Castells (Anm. 9), S. 57. Zur Idee eines second-level digital divide vgl. u.a. Seong-Jae Min, From the Digital Divide to the Democratic Divide: Internet Skills, Political Interest, and the Second-Level Digital Divide in Political Internet Use, in: Journal of Information Technology & Politics, 7 (2010) 1, S. 22–35; Pippa Norris, Digital Divide: Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide, New York 2001; Neil Selwyn, Reconsidering Political and Popular Understandings of the Digital Divide, in: New Media Society, 6 (2004) 3, S. 341–362.

  13. Vgl. Axel Bruns, Blogs, Wikipedia, Second Life, and Beyond. From Production to Produsage, New York 2008, Kap. 5; Christian Stegbauer, Wikipedia. Das Rätsel der Kooperation, Wiesbaden 2009.

  14. Vgl. Carsten Görig, Gemeinsam einsam. Wie Facebook, Google & Co. unser Leben verändern, Zürich 2011.

  15. Vgl. Cass Sunstein, Republic.com 2.0, Princeton, NJ 2009; Eli Pariser, Filter Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden, München 2011.

  16. Jürgen Habermas, Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt/M. 2008, S. 161.

  17. Ebd., S. 162.

  18. Vgl. Byung-Chul Han, Digitale Rationalität und das Ende des kommunikativen Handelns, Berlin 2013.

  19. Vgl. Manuel Castells, Das Informationszeitalter, Bd. 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2003, S. 406–415.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Daniel Jacob, Manuel Thomas für bpb.de

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Dr. phil., geb. 1982; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit", Freie Universität Berlin, Binger Straße 40, 14197 Berlin. E-Mail Link: daniel.jacob@fu-berlin.de

M.A., geb. 1986; Social Media Berater bei Aperto Schweiz, Falkenstraße 26, 4001 Basel/Schweiz. E-Mail Link: manuel.thomas@apertoschweiz.ch