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Der lange Weg des ANC: Aus dem Widerstand zur Staatspartei

Christoph Marx

/ 18 Minuten zu lesen

Im Januar 2012 feierte der Afrikanische Nationalkongress (ANC), die Regierungspartei der Republik Südafrika, mit großem Pomp sein hundertjähriges Bestehen. Der ANC ist die älteste Organisation des afrikanischen Nationalismus nicht nur in Südafrika, sondern auf dem Kontinent – und war lange Zeit die erfolgloseste. Während politische Parteien in Westafrika wie Kwame Nkrumahs Convention Peoples Party (Ghana) bereits zwei Jahre nach ihrer Gründung die Regierungsgeschäfte übernahmen und in anderen Beherrschungskolonien die Entkolonialisierung ähnlich schnell verlief, konnte der ANC erst 82 Jahre nach seiner Gründung die Regierung stellen.

Die Ursachen für diesen lang währenden Prozess liegen in der Machtkonstellation Südafrikas. Südafrika wurde 1910 aus den beiden älteren Kolonien Kapkolonie (seit 1652) und Natal (seit 1843) sowie den im Burenkrieg (1899–1902) von Großbritannien unterworfenen ehemaligen Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal vereinigt und erhielt damit seine noch heute gültige territoriale Gestalt. Es hatte einige Gemeinsamkeiten mit anderen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent, insbesondere mit Siedlerkolonien. Dies waren Kolonialgebiete, in denen sich eine so große Zahl europäischer Siedler niedergelassen hatte, dass sie formell oder informell Einfluss auf die politischen Zustände nehmen konnten. Neben den südafrikanischen Kolonien waren dies in erster Linie Algerien, Kenia, Rhodesien (heute Simbabwe), Angola, Mosambik und Südwestafrika (heute Namibia). Die Siedler eigneten sich das fruchtbarste Land an und sorgten dafür, dass Afrikaner als billige Arbeitskräfte auf ihren Farmen und im Bergbau arbeiten mussten. Durch ihren politischen Einfluss verhinderte die weiße Minderheit eine Beteiligung der afrikanischen Bevölkerung am politischen Leben, am Zugang zu Bildung und Wohlstand. Deshalb verlief die Entkolonialisierung in allen Siedlerkolonien auf afrikanischem Boden blutig, oft in Form langer Kriege. Der achtjährige Algerienkrieg (1954–1962) ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, doch unterscheidet sich Südafrika von dieser größten anderen Siedlerkolonie dadurch, dass es das einzige Land auf dem Kontinent ist, das bereits seit dem späten 19. Jahrhundert eine wirkliche Industrialisierung durchlaufen hat.

Was in afrikanischen Kolonien der Mehrheit widerfuhr, erlebten in Siedlerkolonien außerhalb Afrikas Minderheiten, die nicht europäischer Abstammung waren und damit nicht zum Staatsvolk gehörten, wie etwa die Afroamerikaner in den USA. Diese organisierten sich seit dem frühen 20. Jahrhundert gemeinsam mit den Nachkommen afrikanischer Sklaven aus der Karibik und Vertretern der afrikanischen Bildungseliten in der panafrikanischen Bewegung, an deren Konferenzen (1900) und Kongressen (1919, 1921, 1923, 1927 und 1945) der ANC eher zufällig nicht beteiligt war. Nicht zuletzt, weil einzelne Südafrikaner in den USA oder in Europa studierten, blieben das Interesse und der Austausch gerade mit Schwarzen aus den USA intensiv. So orientierte sich der erste Präsident des ANC, John Dube, an den pädagogischen Konzepten des ehemaligen amerikanischen Sklaven Booker T. Washington, als er an seinem Ohlange-Institut berufspraktische Ausbildung mit westlicher Bildung kombinierte. Aber auch die radikaleren Vertreter des Panafrikanismus, wie der US-Amerikaner W.E.B. Du Bois oder der Jamaikaner Marcus Garvey, erzeugten in Südafrika einige Resonanz.

Der 1912 aus mehreren regionalen Vorläuferorganisationen hervorgegangene ANC durchlief in seiner Geschichte mehrere tief greifende Strukturwandel, woraus sich eine Periodisierung seiner Geschichte ableiten lässt. Während der ANC zunächst lange ein Honoratiorenverein der afrikanischen Bildungselite war, wandelte er sich seit den 1940er Jahren unter dem Einfluss der 1944 gegründeten Jugendliga zu einer Massenbewegung während der großen Widerstandskampagnen gegen die Apartheid in den 1950er Jahren. Nach seinem Verbot wandelte er sich in eine Exilorganisation einerseits und eine im Untergrund wirkende Zellenstruktur andererseits. Nach 1990 erfolgte schließlich ein erneuter Strukturwandel von einer sozialrevolutionären Befreiungsbewegung in eine politische Partei.

Erste Jahrzehnte: Protest gegen Diskriminierung

Der ANC bestand in den ersten drei Jahrzehnten seiner Existenz im Wesentlichen aus Angehörigen der Bildungselite, die christliche Missionsschulen besucht hatten und häufig selbst als Lehrer, Pfarrer, Missionare oder als Rechtsanwälte und Ärzte tätig waren. In seinen Anfangsjahren umwarb er auch die traditionellen Chiefs, für die sogar ursprünglich ein eigenes "Oberhaus" innerhalb des ANC vorgesehen war. Die Bildungselite hatte die Maßstäbe der europäischen Missionare für Zivilisiertheit verinnerlicht und sich zu eigen gemacht; das betraf unter anderem westliche Kleidung, monogame Ehe und klassische Bildung. Darum hofften ihre Vertreter, von den Weißen Südafrikas als ebenbürtig anerkannt und am politischen Leben beteiligt zu werden. Trotz einiger durchaus ernst gemeinter, aber kurzlebiger Versuche, den Kontakt zur schwarzen Bevölkerungsmehrheit herzustellen und dem ANC damit eine größere politische Schlagkraft zu verschaffen, blieb er eine elitäre Organisation. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass viele der Gebildeten sich selbst nicht sicher waren, ob die ländlich-bäuerliche und städtisch-proletarisierte Mehrheit der schwarzen Bevölkerung die Voraussetzungen für die Ausübung politischer Rechte erfüllen könnte. Wegen ihrer Lebensweise und Religion galten sie nach westlich-christlichen Maßstäben noch nicht als zivilisiert.

Die Aktivitäten des ANC beschränkten sich lange auf "zivilisierte" Formen der britischen Protestkultur, nämlich Petitionen und Delegationen. Da die ANC-Vertreter in das bestehende System aufgenommen werden wollten, sahen sie keine Veranlassung, es grundsätzlich infrage zu stellen. Angesichts dieser konservativen Zurückhaltung war es wenig erstaunlich, dass in den 1920er Jahren eine Gewerkschaft wie die Industrial and Commercial Workers Union (ICU) dem ANC den Rang ablief. Gegründet von dem charismatischen Clements Kadalie entwickelte sich die ICU innerhalb kurzer Zeit zu einer Massenbewegung mit schätzungsweise 100.000 Mitgliedern, die allerdings nach internen, gegen Kommunisten gerichtete Säuberungen bald wieder zerfiel. Eine Wende des ANC nach links, die der vom Sozialismus begeisterte ANC-Präsident Josia Gumede anstrebte, blieb Episode, da er alsbald von der alten Garde entmachtet wurde. Diese führte den ANC in den 1930er Jahren in die fast völlige Bedeutungslosigkeit. Darum wurde die Organisation auch nicht aktiv, als die weiße Regierung 1936 den schwarzen Wählern in der Kapprovinz das allgemeine Wahlrecht entzog. Die Proteste dagegen übernahm stattdessen eine ad hoc gegründete All-African Convention (AAC), die ebenfalls unter Führung von Intellektuellen stand und bald in sich zusammenbrach.

Übergang zur Massenbewegung und Kampf gegen Apartheid

Erst in den 1940er Jahren änderte sich der ANC grundlegend. Dies hatte mit zweierlei Entwicklungen zu tun. Auf der einen Seite übernahm 1940 für neun Jahre der Arzt Alfred Xuma die Führung der Organisation. Obwohl er selbst politisch konservativ und in seinem Protestverhalten gemäßigt war, gelang es ihm in unermüdlicher Arbeit, die veralteten Organisationsstrukturen der ANC-Basis zu erneuern und damit die Voraussetzung für den Aufstieg zur Massenbewegung zu schaffen. Noch bedeutsamer aber war die 1944 gegründete ANC-Jugendliga, die von dem jungen Rechtsanwalt Anton Lembede zusammen mit anderen jüngeren Männern – Frauen spielten bis in die 1950er Jahre im ANC praktisch keine Rolle – ins Leben gerufen wurde. Lembede vertrat einen afrikanischen Nationalismus, der die Kultur der Schwarzen als wertvolles Gut propagierte und sich keineswegs mehr an den Werten der "weißen Zivilisation" orientierte.

Mit ihrer Botschaft, dass die schwarze Bevölkerung die eigentliche Nation Südafrikas darstelle, stellte die Jugendliga die weiße Herrschaft offen infrage. Denn der ANC zielte fortan nicht mehr darauf ab, sich in das existierende politische System als Juniorpartner einzufügen, sondern strebte einen Systemwechsel an. Zwar starb Lembede 1947 unerwartet, aber mit einer Reihe zentraler Manifeste hatte er dem Strukturwandel des ANC den Boden bereitet. Seine Anhänger, zu denen unter anderem Walter Sisulu, Nelson Mandela und Oliver Tambo zählten, rückten in den folgenden Jahren in die Führungsämter des ANC auf und konnten innerhalb weniger Jahre den bisherigen Honoratiorenverein in eine breite Massenbewegung umwandeln. Dies wurde ihnen erleichtert, weil sie nicht mehr in den ländlichen Missionsstationen und Internaten lebten, sondern in den Städten, wo sie wie die übrige schwarze Stadtbevölkerung den rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Dies reduzierte die soziale Distanz und schuf einen gemeinsamen Erfahrungsraum, ermöglichte die politische Verbindung der Bildungselite mit der breiten Masse der Afrikaner.

Zwar praktizierten die weißen Regierungen Südafrikas seit dem Beginn des Jahrhunderts Rassentrennung, doch führte die Apartheidpolitik nach 1948 zu einer immensen Verschärfung. Sie regulierte mit einer Vielzahl von Gesetzen und einer immer stärker werdenden Repression das Alltagsleben der schwarzen Mehrheit, drangsalierte die Menschen und beraubte sie in jeder Hinsicht ihrer Entfaltungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund dieser erheblichen Verhärtung der Regierungspolitik begann der ANC Anfang der 1950er Jahre mit seinen großen Kampagnen des bürgerlichen Ungehorsams, bei denen das Vorbild Mahatma Gandhis Pate stand, der um die Jahrhundertwende seine eigene politische Lehrzeit in Südafrika absolviert hatte. Während der Kampagne zur Missachtung ungerechter Gesetze, der Defiance Campaign, verstießen ANC-Anhänger, darunter viele Frauen, demonstrativ gegen die Apartheidgesetze und ließen sich widerstandslos von der Polizei verhaften. In ANC-Präsident Albert Luthuli hatte die Organisation einen überzeugten Pazifisten von großer persönlicher Integrität an ihrer Spitze, dessen Würde und Charme ihn wie die Personifikation eines anderen Südafrika erscheinen ließen und der 1961 als erster Südafrikaner den Friedensnobelpreis erhielt. Weil die ANC-Führer sich aktiv an der Kampagne beteiligten und als erste verhaftet wurden, stieg ihre Glaubwürdigkeit. Innerhalb kürzester Zeit schnellten die Mitgliederzahlen von einigen Tausend auf über Hunderttausend.

Gleichzeitig zeichnete sich eine politische Kurskorrektur bei den jungen afrikanistischen Heißspornen um Mandela ab. Denn bis dahin hatte er sowohl die Zusammenarbeit mit der von weißen Intellektuellen dominierten Kommunistischen Partei (KP) abgelehnt als auch die Kooperation mit den indischstämmigen Südafrikanern. Letztere waren ihrerseits zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt, gegen die sie sich seit Mitte der 1940er Jahre öffentlich zur Wehr setzten. Indische Südafrikaner beteiligten sich aber auch an Protesten gegen Gesetze, die nur für Schwarze galten. Diese Erfahrung der Solidarität veranlasste Mandela und andere zum Umdenken und zur Kooperation mit den Indischstämmigen. Der Kurswechsel ermöglichte die Gründung der Congress Alliance, in der sich neben dem ANC Kongresse der Inder, der "Coloureds" und der wenigen weißen Apartheidgegner zusammenschlossen. Der Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit war der Congress of the People 1955, als Delegierte aus dem ganzen Land und aus allen Bevölkerungsgruppen mit der Freedom Charter das zentrale Dokument des Widerstands verabschiedeten. Dieses Grundsatzprogramm der Antiapartheidbewegung forderte die Staatsmacht schon in den ersten Sätzen offen heraus: "Südafrika gehört allen, die hier leben, schwarz und weiß." Die Freedom Charter enthielt den direkten Gegenentwurf zur Politik der Apartheid, sie war – abgesehen von Verstaatlichungsforderungen der Schlüsselindustrien – ein Bekenntnis zur westlichen Demokratie und eine Absage an oktroyierte Gruppenidentitäten. Freilich bedeutete sie auch eine Abkehr von Lembedes exklusivem Afrikanismus.

Der Staat nahm die Herausforderung an und stellte ein Jahr später die gesamte Führung der Opposition wegen Hochverrats vor Gericht. Zwar scheiterte das Verfahren, da sämtliche Angeklagten freigesprochen wurden, doch erkannte man im ANC die Zeichen der Zeit und stellte sich auf ein Verbot der Organisation ein. Eine Gruppe um Mandela bereitete den bewaffneten Kampf vor, während Luthuli zwar Verständnis für die Beweggründe hatte, für seine Person aber jede Beteiligung an einem gewaltsamen Vorgehen ablehnte.

Doch bevor es zu einem erneuten Wandel des ANC kommen konnte, diesmal von einer Massenbewegung mit Orts- und Regionalverbänden zu einer im Untergrund operierenden Bewegung mit Zellenstruktur, flammte ein schon länger schwelender interner Konflikt auf. Einige jüngere Aktivisten waren nicht bereit, die Abkehr vom Afrikanismus mitzutragen, die Mandela, Sisulu und andere vollzogen hatten, und sie lehnten die Freedom Charter sowie die Zusammenarbeit mit Weißen und Indern ab. 1958 gründete die Gruppe unter Führung des Universitätsdozenten Robert Sobukwe den Pan Africanist Congress (PAC). In den folgenden Jahren entbrannte ein harter Konkurrenzkampf zwischen beiden Organisationen, der vor allem auf Seiten des PAC zu vorschnellen, schlecht geplanten Aktionen führte. Der PAC hatte in einigen schwarzen Vorstädten (townships) seine Hochburgen, zu denen Sharpeville südlich von Johannesburg zählte. Hier kam es am 21. März 1960 zu einem Massaker mit 69 Toten und fast 200 Verletzten, als einige Polizisten das Feuer auf eine friedlich gegen die Passgesetze demonstrierende Menschenmenge eröffneten. Die Regierung reagierte in der für sie typischen Art, indem sie nicht etwa eine Untersuchung gegen die Polizisten einleitete, sondern den ANC und den PAC verbot.

Bewaffneter Kampf: Elite von Berufsrevolutionären

Der ANC nahm nun unverzüglich seine Untergrundaktivitäten auf. Damit wurde der Wandel von einer offen agierenden breiten Bewegung in eine klandestin operierende Organisation eingeleitet, die wieder stärker elitär war, wenn auch nicht mehr am Bildungsstand gemessen, sondern an der Ausschließlichkeit und der Opferbereitschaft ihrer Aktivisten. Sicherheitshalber wurde 1959, schon vor dem Verbot des ANC, Oliver Tambo, ein enger Vertrauter Mandelas und Sisulus, ins Ausland geschickt, um den Aufbau einer Exilorganisation in die Wege zu leiten. Am 16. Dezember 1961 explodierte die erste vom ANC gelegte Bombe, die nur kleineren Sachschaden anrichtete. Bei solchen eher symbolischen Akten blieb es zunächst, weil der ANC die Strategie verfolgte, so lange wie möglich Menschenleben zu verschonen und Gewalt ausschließlich gegen symbolische Ziele zu richten. Viel Zeit blieb der Organisation aber nicht, ein schlagkräftiges Netz von Untergrundstrukturen aufzubauen, da es der Polizei am 11. Juli 1963 gelang, die gesamte Untergrundführung des ANC zu verhaften und einschließlich des bereits inhaftierten Mandela wegen Sabotage vor Gericht zu stellen. Der Richter war von der Schuld der Angeklagten jedoch nicht restlos überzeugt, weswegen er sie zu lebenslangen Haftstrafen und nicht zum Tod verurteilte. Mandela hinterließ mit seiner Abschlussrede tiefen Eindruck, als er bekannte, für sein Ideal einer freien Gesellschaft auch den Tod in Kauf zu nehmen. Nach dem Prozess begann die sogenannte Sicherheitspolizei, in südafrikanischen Untersuchungsgefängnissen systematisch zu foltern. Auf diese Weise – und nicht aufgrund guter Ermittlungsmethoden – gelang es ihr, die gesamten Untergrundstrukturen des ANC innerhalb weniger Jahre weitgehend zu zerschlagen.

Die 13 Jahre zwischen der Verurteilung der ANC-Führung und dem blutig niedergeschlagenen Schüleraufstand von Soweto 1976 wird als die triumphale Zeit des Apartheidstaates gesehen, doch die Sicherheit, in der sich die weißen Politiker in dieser Phase wähnten, trog. Schon Ende der 1960er Jahre entstand unter jungen schwarzen Intellektuellen eine neue Opposition, die mit dem ANC wenig zu schaffen hatte, sondern eher auf dem afrikanistischen Erbe Lembedes und des PAC aufbaute. Eine Gruppe um den Medizinstudenten Steve Biko entwickelte die Philosophie des schwarzen Selbstbewusstseins, wobei sie ideologische Anleihen bei der gleichzeitigen US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, beim Panafrikanismus sowie den Schriften des radikalen antikolonialen Intellektuellen Frantz Fanon machte. Ihr Einfluss auf die Schüler von Soweto war beträchtlich, wie sich allein an der Ausbreitung der Black-Consciousness-Symbole (etwa der geballten Faust für Black Power) erkennen lässt. Vom Schüleraufstand wurde der weiße Staat ebenso überrascht wie der ANC im Exil, der seit Jahren mit unzureichenden Mitteln, geringer personeller Ausstattung und der weiten Entfernung von Südafrika zu kämpfen hatte.

Das änderte sich Mitte der 1970er Jahre, als eine Reihe weiß dominierter Siedlerkolonien wie Angola und Mosambik nach der Nelkenrevolution in Portugal 1974 unabhängig wurden und der nördliche Nachbar Rhodesien in einen zunehmend blutigen Unabhängigkeitskrieg verwickelt wurde, an dessen Ende 1980 nach britisch vermittelten Verhandlungen der neue Staat Simbabwe entstand. In den portugiesischen Kolonien setzten sich militante Unabhängigkeitsbewegungen nach jahrelangen Guerillakriegen durch, wobei in Angola zwei nichtmarxistische Organisationen der regierenden linken MPLA (Movimento Popular de Libertação de Angola) jahrelangen bewaffneten Widerstand entgegensetzten. In Mosambik dagegen konnte die ebenfalls sozialistische FRELIMO (Frente de Libertação de Moçambique) 1975 unangefochten die Macht übernehmen. Damit konnte der Exil-ANC dem Territorium Südafrikas operativ zwar näher rücken, doch reagierte das Regime in Pretoria mit militärischen Mitteln, indem es die Nachbarländer systematisch destabilisierte, ANC-Aktivisten im In- und Ausland verfolgte und teilweise ermorden ließ. Die harte Repression gegen die aufständischen Schüler von Soweto änderte auch insofern die Situation für den ANC, als eine große Zahl junger Leute ins Exil floh und sich dort der Oppositionsbewegung gegen die Apartheid anschloss.

Exil-ANC

Damit wurde der ANC aber mit neuen Problemen konfrontiert, auf die er nur unzureichend vorbereitet war. Einerseits mussten die vielen neuen Anhänger und Rekruten versorgt und ausgebildet werden, andererseits ergaben sich Sicherheitsprobleme, da unter den Flüchtlingen auch Spitzel des südafrikanischen Geheimdienstes waren. Hier wirkte sich nun ein Strukturwandel selbstverstärkend aus, der sich seit den 1960er Jahren abgezeichnet hatte. Der ANC wurde im Exil vor allem von den Ländern des Ostblocks finanziell und politisch unterstützt, wodurch sich geradezu zwangsläufig eine besonders enge Kooperation mit der moskautreuen KP ergab. Diese Zusammenarbeit war so eng, dass die Kommunisten die Führungsstrukturen des Exil-ANC über Doppelmitgliedschaften weitgehend beherrschten. Wer im ANC etwas werden wollte, musste sich auch in der KP eine entsprechende Stellung sichern. Selbst wenn das eher widerwillig und nicht aus ideologischer Überzeugung geschah – wie bei Thabo Mbeki, der rechten Hand Tambos und Chefdiplomat der Exilorganisation –, übertrugen sich doch die leninistischen Führungsstrukturen des "demokratischen Zentralismus" auf das politische Denken dieser Aktivisten. Viele waren jung ins Exil gegangen, weshalb sie keine Alternativen zu den Top-down-Befehlskanälen kannten, was sich nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in fataler Weise auf die politische Kultur im Nach-Apartheid-Südafrika auswirken sollte. Hinzu kam eine ausgewachsene Paranoia vor Regierungsspitzeln und Saboteuren, was teilweise zu massiven Übergriffen und zur Verfolgung Unschuldiger führte. Gleichzeitig konnte unter dem Deckmantel der Spionageabwehr gegen Andersdenkende und "Abweichler" vorgegangen werden.

Der Bedeutungsgewinn des ANC schlug sich in zweierlei Form nieder. Seit 1980 war er im Land selbst wieder präsent, was er mit einer Reihe von Bombenanschlägen auf strategisch wichtige Einrichtungen wie die Kohleverflüssigungsanlage in Sasolburg dramatisch unter Beweis stellte. Gleichzeitig erhöhte er seine Aktivitäten auch propagandistisch, als die Exilführung die Entscheidung traf, den Antiapartheidkampf zu personalisieren. Der inhaftierte Mandela wurde im Rahmen einer "Free Mandela"-Kampagne zu einer geradezu mythischen Figur aufgebaut. Die Strategie zahlte sich aus, denn mehr als politische Programme, ideologische Bekenntnisse oder Bomben konnte die Zuspitzung des Kampfes gegen ein ungerechtes System auf eine Person eine Breitenwirkung in der internationalen Öffentlichkeit erzielen, die im Lauf der 1980er Jahre immer stärker wurde. Vor allem die Unterstützung durch Kräfte der Bürgerrechtsbewegung, die in den USA in den 1960er Jahren die Abschaffung der Rassentrennung durchgesetzt hatte, erwies sich als entscheidend. Denn durch gezielte Protestaktionen und Boykotte konnte sie die Öffentlichkeit in den USA bis in den Kongress hinein mobilisieren und schließlich einen Abzug amerikanischer Investitionen aus Südafrika einleiten, der dem Apartheidregime wirtschaftlich, vor allem aber politisch schwer schadete.

Das Regime geriet in den 1980er Jahren international in die Isolation und innenpolitisch in die Defensive, zumal die eskalierende Repression zeigte, dass die Regierung über keine politischen Konzepte zur Überwindung der Krise verfügte. Als Premierminister Pieter Willem Botha 1983 ein Dreikammerparlament einführte, durch das die Minderheiten der Inder und der "Coloureds" zu Juniorpartnern eines reformierten Apartheidsystems werden sollten, organisierte sich der interne Widerstand neu. Neben den Gewerkschaften, die seit den frühen 1970er Jahren zugelassen worden waren, entstand mit der United Democratic Front (UDF) im August 1983 eine Dachorganisation, die mehrere Hundert Verbände verschiedenster Art zu einer schlagkräftigen Bewegung zusammenführte. Im Lauf weniger Jahre näherte sich die UDF den Positionen des Exil-ANC, insbesondere der Freedom Charter an. Der Staat reagierte wie gewohnt mit Härte, doch allmählich setzte sich bei einsichtigeren Politikern im Regierungslager die Erkenntnis durch, dass ein Ende der Gewalt nur mit der Abschaffung der Apartheid zu erreichen sei, was angesichts der sich ständig verschlechternden Wirtschaftslage immer dringlicher wurde.

Politiker suchten das Gespräch mit dem inhaftierten Mandela, und Vertreter der Wirtschaft sowie burische Intellektuelle trafen sich ab Mitte der 1980er Jahre mit dem Exil-ANC, um Möglichkeiten für eine Verhandlungslösung auszuloten. Während sich innerhalb des weißen Establishments die Einsicht durchsetzte, dass nur Verhandlungen den Ausweg aus einer immer problematischeren Situation bieten könnten, war dies innerhalb des ANC wesentlich schwerer zu vermitteln. Hier gab man sich Illusionen hin, dass der bewaffnete Kampf zu einem Sieg führen könnte und hatte sich so sehr auf das sozialrevolutionäre Ziel eines vollständigen Systemwechsels in Richtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung versteift, dass Verhandlungen geradezu tabuisiert waren. Als jedoch führende Kommunisten und bekannte Hardliner wie der Generalsekretär der KP, Joe Slovo, sich für Gespräche mit der Regierung stark machten, wurde eine Annäherung möglich. Nachdem Botha im August 1989 aus dem Amt gedrängt worden war, konnte sein Nachfolger, Frederik Willem de Klerk, den gordischen Knoten durchschlagen, indem er Anfang Februar 1990 das Verbot des ANC, des PAC und der KP aufhob, Nelson Mandela freiließ und kurz darauf zu offiziellen Verhandlungen schritt. Deren Verlauf soll hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden, doch konnte der ANC die meisten seiner Forderungen durchsetzen und musste nur im Hinblick auf den föderalen Charakter der neuen Verfassung Kompromisse eingehen.

Politische Partei

Erneut war der ANC mit der Herausforderung konfrontiert, seine gesamte Struktur umzustellen. Diesmal musste er sich von einer Exilorganisation mit einer stark militärischen Ausrichtung und einer autoritären und elitären Führungsstruktur in eine politische Partei mit Massenbasis transformieren. Er tat sich damit ausgesprochen schwer, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass er als Regierungspartei im Wesentlichen von ehemaligen Exilpolitikern wie Thabo Mbeki und Jacob Zuma dominiert wurde. Die Vertreter des internen, demokratischen Widerstands mussten sich entweder an die straff von oben geführte Partei anpassen oder wurden ins Abseits gedrängt. Die UDF hatte sich nach der Legalisierung des ANC aufgelöst, dadurch konnte ihre basisorientierte politische Kultur keinen Eingang in die neue Regierungspartei finden. Während sich Mandela als erster schwarzer Präsident vor allem auf die innergesellschaftliche Versöhnung und die Repräsentation des neuen demokratischen Südafrika nach außen konzentrierte, konnte Mbeki derweil seine Macht ausbauen. Zwar konnte der ANC seine Top-down-Strukturen, insbesondere das leninistische Prinzip des "demokratischen Zentralismus" erhalten, aber gleichzeitig wurden zentrale Zielvorgaben aus der Zeit des Exils über Bord geworfen, beispielsweise die bis dahin lautstark geforderte Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und das Ziel, eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen.

Südafrika stand nach 1994 vor einem ähnlichen Problem wie andere ehemalige Siedlerkolonien. Die "Befreiungsbewegung", die sich jetzt in der Staatsapparatur einrichtete, hatte als angeblicher "Sieger" im Befreiungskampf eine dermaßen starke Stellung in großen Teilen der Bevölkerung, dass sie für längere Zeit auf demokratisch-parlamentarischem Weg nicht mehr von der Macht verdrängt werden konnte. Der ANC hat sich nach 1994 tief greifend verändert, als er seine Ambitionen, die Gesellschaft zu transformieren, aufgab, und sich stattdessen in eine Staatspartei verwandelte, ähnlich wie andere schwarze Unabhängigkeitsbewegungen in Namibia, Simbabwe, Mosambik oder Angola. Er wurde dadurch zu einer Machtmaschine für die neue Elite und zeigte sich bald wegen der chronischen Schwäche der parlamentarischen Opposition und der weitgehend ausgeschalteten innerparteilichen Demokratie für Korruption anfällig.

Trotz des politischen Wandels in Südafrika erweisen sich 20 Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen die Kontinuitäten als erstaunlich stark. Der Verzicht auf einen weitergehenden sozialen und ökonomischen Umbau im Sinn einer Umverteilung des nationalen Reichtums zugunsten der bislang benachteiligten Bevölkerungsmehrheit ist jedoch nur eine Seite. Ausgebliebene Reformen, insbesondere der Polizei, zeigen ihre deprimierenden Folgen in anhaltenden Gewaltübergriffen und kulminierten im August 2012 in dem Massaker an streikenden Bergarbeitern in der Platinmine von Marikana. Die Regierungspartei ANC begann, ähnlich wie die SWAPO in Namibia oder die ZANU-PF in Simbabwe, sich zunehmend intolerant gegenüber abweichenden Meinungen in den eigenen Reihen wie in der Öffentlichkeit zu zeigen. Eine repressive Pressegesetzgebung und eine von Präsident Jacob Zuma angestrebte Verfassungsänderung sowie die Verunglimpfung von Regierungskritikern als Rassisten und Verräter am Befreiungskampf sollen sicherstellen, dass trotz wachsender Unzufriedenheit auch später kein Machtwechsel mehr möglich sein wird.

Der Ausgang der Parlamentswahl im Mai 2014 (62,1 Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen auf den ANC) hat gezeigt, dass es auf absehbare Zeit keine politische Alternative zum ANC geben wird, dessen Prestige als Widerstandsbewegung auch den umstrittenen Präsidenten Zuma politisch gerettet hat. Allerdings klafft zwischen den sozialrevolutionären Zielen des Exil-ANC, ja selbst dem politischen Aufbruch der Freedom Charter von 1955 und dem politischen Handeln der Staatspartei ein Abgrund. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich, die extremer sind als selbst in Brasilien, wurden in den vergangenen 20 Jahren kaum abgemildert; Südafrika scheint sich unter der Regierung des ANC von einer Rassengesellschaft in eine Klassengesellschaft zu wandeln.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christoph Marx, Geschichte Afrikas. Von 1800 bis zur Gegenwart, Paderborn 2004, S. 173ff.

  2. Vgl. die Darstellung internationaler Verflechtungen des Rassismus bei Marilyn Lake/Henry Reynolds, Drawing the Global Colour Line. White Men’s Countries and the International Challenge of Racial Equality, Cambridge 2008.

  3. Vgl. Heather Hughes, First President. A Life of John L. Dube, Founding President of the ANC, Johannesburg 2011.

  4. Zur ANC-Geschichte vgl. Saul Dubow, The African National Congress, Johannesburg 2000; Thomas Karis et al. (Hrsg.), From Protest to Challenge. A Documentary History of African Politics in South Africa, 6 Bde., Stanford u.a. 1987ff.; Peter Walshe, The Rise of African Nationalism in South Africa. The African National Congress 1912–1952, Berkeley–Los Angeles 1971; Tom Lodge, Black Politics in South Africa since 1945, London–New York 1983; ders., Resistance and Reform. 1973–1994, in: Robert Ross/Anne Kelk Mager/Bill Nasson (Hrsg.), Cambridge History of South Africa, Bd. 2: 1885–1994, Cambridge 2011, S. 409–491; South African Democracy Education Trust (Hrsg.), The Road to Democracy in South Africa, 4 Bde., Pretoria 2008ff.; Christoph Marx, Südafrika. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2012, Kap. 8ff.

  5. Vgl. Helen Bradford, A Taste of Freedom. The ICU in Rural South Africa, 1924–1930, New Haven–London 1987.

  6. Vgl. Robert R. Edgar/Luyanda ka Msumza (Hrsg.), Freedom in Our Lifetime. The Collected Writings of Anton Muziwakhe Lembede, Athens u.a. 1996.

  7. Zur Defiance Campaign vgl. Albert Luthuli, Let My People Go. An Autobiography, London 1962, S. 104ff.

  8. Vgl. Nelson Mandela, Der lange Weg zur Freiheit, Frankfurt/M. 1994, S. 145ff.

  9. Vgl. Stephen Ellis/Tsepo Sechaba, Comrades Against Apartheid. The ANC and the South African Communist Party in Exile, London 1992.

  10. Vgl. Mark Gevisser, Thabo Mbeki. The Dream Deferred, Johannesburg–Cape Town 2009.

  11. Vgl. Tom Lodge, Politics in South Africa. From Mandela to Mbeki, Cape Town–Oxford 2002.

  12. Vgl. Jeremy Seekings/Nicoli Nattrass, Class, Race, and Inequality in South Africa, Scottsville 2006.

  13. Vgl. Felix Dlangamandla et al., We Are Going to Kill Each Other Today. The Marikana Story, Cape Town 2013.

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Dr. phil., geb. 1957; Professor für Außereuropäische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen, Historisches Institut, 45117 Essen. E-Mail Link: christoph.marx@uni-due.de