Wahrnehmung sozialer Ausgrenzung
Die Frage nach der Aufrechterhaltung gesellschaftlichen Zusammenhalts gehört zum Kern soziologischer Gegenwartsdiagnosen: Armut hat sich trotz gestiegener Erwerbsquoten nicht verringert,[1] und die steigende Anzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse bringt Verunsicherung mit sich, sowohl materiell als auch für eine langfristige Lebensplanung.[2] Konsumchancen von Arbeitslosen verschlechtern sich;[3] die Vermögenskonzentration hingegen hat sich intensiviert.[4] Das Risiko, dauerhaft in einer von Armut gekennzeichneten Lebenslage zu verbleiben, ist nach wie vor groß und wird bis in die nächste Generation hineingetragen.[5]Nach offizieller EU-Statistik war 2013 in Deutschland jeder Fünfte von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen.[6] Damit sind nach Definition von Eurostat, dem Statistikamt der EU, Menschen gemeint, auf die mindestens eins der drei folgenden Kriterien zutrifft: Armutsgefährdung, erhebliche materielle Entbehrungen und die Zugehörigkeit zu einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung. Aus Sicht der betroffenen Menschen stellen sich Armut und Arbeitslosigkeit als ein Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe dar. Wer ist besonders von einem daraus resultierenden Gefühl der sozialen Ausgrenzung betroffen, welche Folgen lassen sich absehen – für das Individuum und für die Gesellschaft – und welche wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen fördern gesellschaftliche Teilhabe?
Soziale Ausgrenzung und gesellschaftliche Teilhabe
Unterversorgung und Armut sind nicht hinreichend erfasst, wenn man lediglich materielle Ressourcendefizite im Blick hat. Mit der seit Ende der 1990er Jahre geführten Debatte um soziale Ausgrenzung wurde der Blick deshalb auf Teilhabeaspekte gerichtet, die zwar mit Einkommensarmut in Verbindung stehen, aber darüber hinaus die Integration in weitere relevante Gesellschaftsbereiche thematisieren, allen voran die Einbindung in den Arbeitsmarkt und daraus abgeleitete Partizipation sozialer, politischer und kultureller Art.[7] Im Mittelpunkt steht, soziale Grundrechte zu gewährleisten und ein soziokulturelles Existenzminimum sicherzustellen. Soziale Ausgrenzung kann vor diesem Hintergrund als kumulativer und interdependenter Prozess der Benachteiligung in einer Vielzahl unterschiedlicher, für die Lebensführung relevanter Funktionsbereiche der Gesellschaft definiert werden. Welche Bereiche das sind, ihre Konkretisierung und Bedeutung für soziale Ausgrenzung, variiert mit dem gesellschaftlichen Kontext: Jede Gesellschaft bietet spezifische Vergleichsmaßstäbe für die Definition kultureller, ökonomischer, sozialer und politischer Zugehörigkeiten an.[8] In Europa wird der dominante Integrationsmodus von der Arbeitsmarktbeteiligung abgeleitet, sodass sich Zugehörigkeit und Ausschluss wesentlich über die Integration in das Erwerbsleben und das soziale Sicherungssystem definieren.Insbesondere die mit dem Ausgrenzungsbegriff suggerierte simple Gegenüberstellung eines Drinnen und Draußen wird mitunter kritisiert, weil damit die vielfältigen Beziehungen zwischen den In- und Exkludierten aus dem Blickfeld gerieten und eine Stigmatisierung der Ex- und eine Idealisierung der Inkludierten einherginge.[9] Stattdessen schaut man auf Prekarisierungstendenzen und Verunsicherung als Folge von Veränderungen am Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherungssysteme. Auch in dieser Debatte werden Teilhabechancen als unmittelbar abhängig von der materiellen Lage und von der Arbeitsmarktintegration gedacht.[10]
Gestützt durch das Sozialberichterstattungssystem der EU wohnt dem Begriff der sozialen Ausgrenzung aber nach wie vor politische Schlagkraft inne. Soziale Benachteiligungen unterliegen dabei einem spezifischen Deutungsmuster – sie werden mehrdimensional und prozesshaft gedacht und mit Rahmenbedingungen verknüpft, die gesellschaftliche Teilhabechancen ermöglichen sollen. Auch der Teilhabebegriff hat keine klar zu umreißende theoretische Heimat und umschreibt vor allem eine politische Handlungsperspektive.[11] Wie die Armutsforschung ist auch die Ausgrenzungs- und Teilhabeperspektive nur normativ und innerhalb gesellschaftlicher Kontexte mit Inhalt zu füllen.
Wie wird soziale Ausgrenzung gemessen?
Bisherige Versuche, soziale Ausgrenzung empirisch zu messen, konzentrieren sich in der Hauptsache auf Einkommen, Erwerbstätigkeit und Lebensstandard. Entsprechende Indikatoren, die aufsummiert auf ein Ausgrenzungsrisiko hindeuten sollen, sind zumeist relative Einkommensarmut, (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und ein geringes Konsumpotenzial, gemessen daran, ob man sich bestimmte Dinge leisten kann, etwa die Beheizung der Wohnung, eine warme Mahlzeit am Tag, eine Waschmaschine oder eine Urlaubsreise. Es werden relativ willkürlich Schwellenwerte definiert, ab denen soziale Benachteiligung in Ausgrenzung umschlägt. Operationalisierungen dieser Art markieren keinen Ort außerhalb der Gesellschaft, sondern kennzeichnen soziale Benachteiligung in einer extremen Form. Dass vor allem Armut und Arbeitslosigkeit für eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe stehen, ist insofern plausibel, als dass sich aus der Arbeitsmarktanbindung sozialversicherungsrechtliche sowie lebensstandardsichernde und identitätsstiftende Momente ableiten lassen. Das Verständnis von benachteiligten Lebenslagen erfährt eine Erweiterung, wenn auch subjektive Indikatoren, in diesem Fall das subjektive Teilhabe- oder Ausgrenzungsempfinden, erhoben werden, beispielsweise durch die Frage nach der Zufriedenheit mit der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben oder ob man sich ausgeschlossen fühlt.Integration und Ausgrenzung werden individuell erfahren und spiegeln nicht ohne Weiteres die nach objektiven Kriterien gute oder schlechte Lebenslage wider. Die Messung gesellschaftlicher Teilhabe über subjektive Indikatoren gewährleistet deshalb ein tiefer gehendes Verständnis von Unterversorgungslagen. So lassen sich Dissonanzen freilegen, zum Beispiel, ob und warum Ausgrenzungsempfinden trotz objektiv guter Lebenslage vorherrscht oder umgekehrt, wie es zu der positiven Wahrnehmung ausgeprägter Teilhabechancen trotz einer Unterversorgung in zentralen Lebensbereichen kommt. Die eigene Sicht auf individuelle Teilhabechancen sagt etwas darüber aus, wie Handlungsmöglichkeiten eingeschätzt werden und wie mit zur Verfügung stehenden Ressourcen umgegangen wird. Daraus kann auch auf Schutzmechanismen geschlossen werden.