Die Renaissance der Nationalen Frage in den 1980er Jahren
Im letzten Jahrzehnt der Bonner Republik hatten sich die Westdeutschen an die Zweistaatlichkeit gewöhnt. Das "Provisorium" war für sie längst keines mehr. Der von dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger ins Spiel gebrachte und von Jürgen Habermas übernommene Begriff des "Verfassungspatriotismus"[1] etablierte sich in der politischen Kultur der 1980er Jahre. Die sogenannte Nationale Frage schien in der Perspektive "normaler" Staatlichkeit im Rahmen westeuropäischer Integration aufgehoben zu sein.[2]Vor dem Hintergrund einer postnationalen Gesellschaft, so das allgemeine Narrativ, konnten die dramatischen Ereignisse 1989/90 nur als "unverhoffte Einheit"[3] in einem historischen Augenblick erscheinen, in dem sich die Öffentlichkeit bereits damit abgefunden hatte, dass die deutsche Einheit auf absehbare Zeit nicht stattfinden würde. Für eine Erosion des gesamtdeutschen Bewusstseins sprachen nicht zuletzt empirische Befunde. 1953 hatten 17 Prozent der Bundesbürger Verwandte ersten Grades in der DDR, 1982 waren es noch 8 Prozent. Die westdeutsche Bevölkerung war überwiegend zufrieden mit der Politik einer pragmatischen Zusammenarbeit mit der DDR bei normativer Abgrenzung, der Kombination von Festhalten an Rechtspositionen und protokollarischer Auflockerung.[4]
Wer erwartet hatte, dass der Regierungswechsel von der sozial- zur christliberalen Koalition in dieser Hinsicht einen Unterschied machen würde oder zumindest neue Töne angeschlagen werden könnten, sah sich getäuscht. Das Postulat der Wiedervereinigung wurde mit der gemeinsamen Verantwortung der beiden deutschen Staaten für den Frieden als "Koalition der Vernunft" beschworen.[5] Die von vielen als peinlich empfundenen Parolen der Vertriebenenverbände – etwa "Schlesien bleibt unser" – führten zwar zu Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und in der Union selbst,[6] konnten den Prozess der "Normalisierung" der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn aber nicht grundlegend stören.
Während die filigranen Verästelungen der Bonner Deutschlandpolitik hinreichend dokumentiert und analysiert worden sind, ist heute weithin vergessen, dass in den 1980er Jahren mit einiger Verwunderung eine "Renaissance der Deutschen Frage"[7] registriert wurde. Die Konjunktur des Nationalen, die in der Erinnerung gemeinhin mit dem Einigungsprozess 1989/90 verbunden wird, setzte bereits 1978/79 ein und ging in den frühen 1990er Jahren, nach vollzogener Einheit, bald wieder zurück.[8]
Dabei handelte es sich zwar in erster Linie um einen Diskurs unter bildungsbürgerlichen Eliten. Aber festzustellen, dass die Nationale Frage weniger die allgemeine Bevölkerung als die Intellektuellen und ihre Medien umtrieb, mindert nicht ihre Bedeutung, gilt diese Diskrepanz doch für nahezu jeden öffentlichen Diskurs um allgemeine politische Themen. Und sicherlich diente die Nationale Frage auch als Projektionsfläche, als "Abladeplatz des kulturkritischen Unbehagens an der Bundesrepublik, mit der unermüdlich gesuchten Identität als Angelpunkt".[9] Aber auch darin erschöpfte sich ihre Bedeutung nicht.
Im Fall der Wiederbelebung des Nationalen handelte es sich vor allem um den Versuch unter jüngeren Akademikern, im Bildungsbereich und in den Medien – der Schock von 1968 lag nur ein Jahrzehnt zurück –, ein alternatives Angebot für die Suche nach "Identität" zu liefern. Insofern blieb die Wiederbelebung des Nationalen nicht in der Sphäre elitärer Selbstverständigung, mit den öffentlich vertretenen Positionen wurde um politisches Terrain gekämpft.
Im Folgenden werden Grundlinien der Diskussion des Nationalen auf der rechten beziehungsweise konservativen und auf der linken Seite des politischen Spektrums skizziert; daran schließen sich knappe Anmerkungen zu Einflüssen der Debatte auf die DDR an.