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Hunger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts | Hunger | bpb.de

Hunger Editorial Der Hunger Welthunger und Welternährung Relevanz einer "neuen Nachhaltigkeit" im Kontext globaler Ernährungskrisen Hunger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Hunger als literarisches Experiment Hungerstreiks. Notizen zur transnationalen Geschichte einer Protestform im 20. Jahrhundert Hungern im Netz

Hunger in der Geschichte des 20. Jahrhunderts

Christian Gerlach

/ 16 Minuten zu lesen

Ausgehend von Theorien zur Entstehung von Hunger skizziert der Beitrag Besonderheiten von Massenhunger und seine politischen Implikationen im 20. Jahrhundert und schlägt aus globalhistorischer Perspektive neue Forschungsfelder vor.

In den Augen vieler Zeitgenossen war das 20. Jahrhundert auch ein Jahrhundert des Hungers. Man denkt dabei an die Hungersnöte in und nach den beiden Weltkriegen, an Hungerkrisen in sozialistischen Ländern oder an das sogenannte Welthungerproblem, das seit den 1970er Jahren vor allem mit Afrika verbunden wird. Doch auch in vorangegangenen Jahrhunderten gab es Zeiten des Hungers. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einigen offenen Fragekomplexen im Zusammenhang mit Hunger in der jüngeren Geschichte und hebt auf einige Besonderheiten der Geschichte des Hungers im 20. Jahrhundert ab.

Drei Erklärungsansätze für Hungersnöte

Wissenschaftliches Denken über Hunger ging in den vergangenen Jahrzehnten vor allem von Hungersnöten aus. Es gibt im Wesentlichen drei Wege, die Ursachen von Hungersnöten zu erklären; sie zu verstehen, eröffnet den Zugang zu vielem anderen, daher beginne ich hier mit ihnen. Der konventionelle Ansatz leitet Hungersnöte aus allgemeiner Nahrungsmittelknappheit in einem Land her. Dementsprechend sollte Hunger etwa durch eine Vergrößerung des Angebots bekämpft werden. Vertreter dieser These beschäftigen sich mit Möglichkeiten, die Lebensmittelproduktion zu erhöhen, sowie mit anderen Arten der Zufuhr wie internationalem Handel und Nahrungsmittelhilfe, der Bekämpfung von Ernteverlusten oder effizienter Essenszubereitung.

In den 1970er Jahren wuchs die Kritik an dieser technokratischen Sichtweise. Sie erkläre nicht, so die Kritiker, wer im Fall einer Hungersnot hungert oder verhungert und wer nicht. Der prominenteste Vertreter eines neuen Erklärungsansatzes war der Wirtschaftswissenschaftler und spätere Nobelpreisträger Amartya Sen. Er argumentierte, dass für das Zustandekommen einer Hungersnot keine Verknappung des Gesamtangebots an Nahrungsmitteln nötig sei. Sen erklärte Hungerkrisen vielmehr dadurch, dass größere Bevölkerungsgruppen ihren Zugang zu beziehungsweise ihr Anrecht auf Lebensmittel verlören, entweder direkt (Lebensmittelproduzenten, die an Ernteausfällen beziehungsweise Viehsterben leiden und dann weder die eigenen Produkte verzehren noch sich Lebensmittel über einen ausreichenden Ersatzverdienst beschaffen können) oder indirekt (Lohnabhängige, deren Verdienstmöglichkeiten durch Arbeitsplatzverlust oder starke Reallohnverluste verfallen). In dieser Sichtweise sind zeitweilige überproportionale Preisanstiege für Grundnahrungsmittel, Phänomene wie Hortung, Spekulation und Schwarzmärkte von besonderer Bedeutung. Ihr zufolge sind verschiedene Bevölkerungsgruppen sehr ungleich von Hungersnöten betroffen (es gibt sogar Gewinner), und Menschen sterben im Grunde hungers durch das Funktionieren von Märkten – und nicht durch deren Nichtfunktionieren. Hunger ist demnach ein Armutsproblem; betroffen sind Gruppen, die im Fall blockierter Zugangsrechte zu Nahrung ohne Eigentumsreserven und ausreichende soziale Bindungen dastehen. Eine Hungersnot erscheint damit nicht mehr als Naturereignis, sondern als ein gesellschaftlich verursachtes.

Von anderer Seite wurde seit den 1990er Jahren auch diese Perspektive als unzureichend zurückgewiesen: Sen und andere würden die politische Seite von Hungersnöten vernachlässigen. Eine Gruppe von Forschern, teilweise auch engagierten Aktivisten, sprach von der Existenz von "Hungersnöten neuen Typs" mit politischem Hintergrund. In der globalisierten Welt sei jede Hungersnot vermeidbar und daher ein Verbrechen. Oft sei sie gewollt, zumindest aber müsse schuldhaftes Versagen entweder bei nationalen Regimen oder auch bei internationalen oder transnationalen Akteuren gesucht und untersucht werden. Diese Sichtweise kann sich auf zahlreiche Beobachtungen fragwürdiger, selektiver staatlicher Politiken berufen, zumal der Nahrungsmittelbereich traditionell zu den am stärksten regulierten Wirtschaftssektoren gehört. Nicht erst seit den 1990er Jahren und auch nicht erst seit dem 20. Jahrhundert hat jede Hungersnot eine politische Komponente; das Phänomen ist historisch keineswegs neu. Die Feststellung, dass diese oder jene Hungersnot menschengemacht ist, ist banal, denn das sind sie nach den Erkenntnissen über "Hungersnotverbrechen" und die Bedeutung von Zugangsrechten mehr oder weniger alle. Freilich sitzen die Vertreter der These von den "Hungersnöten neuen Typs" der Fiktion auf, dass politische Akteure namentlich aus den Industriestaaten heutzutage soziale Vorgänge global beherrschen könnten.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Vertreter dieser drei Perspektiven immer wieder mit Ausschließlichkeitsanspruch bekämpft. Besonders die Debatten zwischen Nahrungsangebots- und Zugangsrechtefraktion waren so bitter wie frucht- und haltlos im Bemühen zu zeigen, dass die Parameter der jeweils anderen Seite völlig irrelevant seien. Tatsächlich sollte man die drei Sichtweisen nicht als gegensätzliche Theorien begreifen, sondern als Denkansätze, und Hungersnöte als komplexe, durch soziale Interaktion entstehende Prozesse verstehen, bei denen Gesamtangebot, Marktfunktionieren und -teilnehmer sowie staatliches und sonstiges politisches Handeln zusammenhängen. Anstöße für ein solch komplexes Denken über Hunger existieren, haben allerdings weit weniger öffentliche Resonanz gefunden als eindimensionale Theorien.

Auch die Auslassungen in den skizzierten Debatten sind bezeichnend. Erstens konzentrieren sie sich auf Hungersnöte, obwohl chronische Mangelernährung immer noch jedes Jahr mehr Todesopfer fordert als solche dramatischen Krisen. So führt die Weltgesundheitsorganisation WHO an die drei Millionen Todesfälle von Kleinkindern pro Jahr mit auf Mangelernährung zurück. Die Bestimmung solcher Zahlen ist allerdings wissenschaftlich problematisch, von politischen Absichten beeinflusst und Hunger teilweise nur eine unter mehreren Todesursachen. Akute Hungerkrisen scheinen seit den 1980er Jahren auf Afrika lokalisiert worden zu sein. Zu den Schwächen der auf Hungersnot fokussierten Forschung gehört die mangelnde Berücksichtigung des kumulativen Effekts jahrelangen Mangels auf soziales Gefüge, familiäre Ressourcen und individuelle Physis. Auch aufeinanderfolgende Krisen sollten in dieser Hinsicht verstärkt untersucht werden, wie in einem weiteren Sinne die Folgen von Hungersnöten (neben deren Ursachen) mehr Aufmerksamkeit verdienen, also besonders Verarmungs-, Migrations- und soziale Neuformierungsprozesse.

Zweitens beziehen sich die genannten wissenschaftlichen Denkansätze sehr stark auf den nationalen Rahmen. Gesamtangebotsfetischisten und Zugangsrechtefanatiker haben ihre Fehden jeweils über Ereignisse in einem Land geführt. Dies lässt jedoch die im 20. Jahrhundert nicht unbedeutenden transnationalen Wellen von Hungersnöten außer Acht, auf die ich im Folgenden eingehe.

Transnationale Wellen von Hungersnöten

Zu derartigen Wellen kam es in verschiedenen Kontexten: im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg (in vielen Ländern in Europa, im Nahen Osten und Afrika), im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg 1941 bis 1947, aber auch ohne großen internationalen Konflikt 1972 bis 1975 und, in abgeschwächter Form, 2008 bis 2011.

Zu Hungerkrisen im Zweiten Weltkrieg liegt inzwischen die kluge und umfassende Studie der Historikerin Lizzie Collingham vor. Sie bezieht auch Opfer innerhalb der Streitkräfte ein und schätzt, dass Hunger 15 bis 20 Millionen Menschenleben gefordert hat. Es ist davon auszugehen, dass mindestens jeder vierte Tote des Zweiten Weltkrieges an Mangelernährung starb. Bei Collingham bleiben allerdings zwei wesentliche Dinge, die unmittelbaren Nachkriegsjahre und viele Kolonien in Afrika, unterbelichtet oder unerwähnt. Unter den Ländern mit den höchsten Bevölkerungsverlusten durch Hunger findet sich beispielsweise Burundi, damals unter belgischer Kolonialherrschaft. In der Sowjetunion, in Bengalen (Britisch-Indien), China, Vietnam (unter französischer beziehungsweise japanischer Herrschaft) und Java starben während jener Zeit jeweils mindestens eine Million Nichtkombattanten hungers.

Hungersnöte gab es damals von den Niederlanden bis Mikronesien, von Leningrad bis Britisch-Kenia. Betroffen waren in erster Linie besetzte Gebiete und Kolonien. Doch direkte Zwangsentnahmen von Nahrungsmitteln seitens der herrschenden Macht waren nur ein Teil des Problems. Eine wichtige Rolle spielten auch die miteinander verknüpften Phänomene des Zerreißens herkömmlicher Wirtschaftsbeziehungen durch militärische Fronten; Rückgänge der Produktion an Grundnahrungsmitteln unter anderen wegen fehlender Inputs an Arbeitskraft, Mineral- und Stalldünger, Zugkraft, Transportmitteln und Benzin; staatliche Eingriffe, die geringe Anreize für Überschussproduzenten bieten, wie Preisgestaltung oder Vorschriften zum Anbau von Nichtlebensmitteln; und dies unterlaufende Hortung, Schwarzmärkte und Spekulation sowie erschöpfende Arbeitsbedingungen. In vielen Regionen Afrikas und Asiens wuchsen die zu versorgenden Städte als Zentren von Verwaltung, Bergbau und Industrie; zudem vollzog sich ein sozialer Wandel mit großen Ungleichgewichten, und Migrationsbewegungen verstärkten sich (in vielen Kolonien wirkte sich der Entzug männlicher Arbeitskräfte auf dem Lande fatal aus). Hinzu traten rassistisch oder politisch beeinflusste Politiken der Nichtbelieferung von Regionen in Not sowie andere Zwangsmaßnahmen, von Benachteiligungen bestimmter Gruppen, insbesondere in totalen Institutionen wie Kriegsgefangenenlagern und anderen Formen der Internierung, teilweise auch psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen, bis hin zur gezielten Ermordung von Bevölkerungsgruppen unter anderem mit dem Argument, dadurch Lebensmittel für andere Zwecke einzusparen. Zu erwähnen sind auch Blockaden zu Land (wie die von Leningrad) oder zur See (etwa um Griechenland und Südostasien).

Wer neben den Insassen bestimmter totaler Institutionen am schwersten betroffen war, unterschied sich von Land zu Land. In weiten Teilen Europas waren dies Stadtbewohner mit festen Löhnen oder niedrigen Gehältern. In Griechenland allerdings traf es nach und nach auch ländliche Bevölkerungsgruppen auf Inseln und in Bergregionen, insbesondere wenn sie darauf angewiesen waren, bestimmte Produkte zu vermarkten (Oliven, Fleisch, Fisch), und dies nicht mehr hinreichend konnten. In vielen Kolonien trafen die verheerendsten Folgen die arme ländliche Bevölkerung; dort flüchteten Millionen in Richtung der Städte, während es in Europa oft umgekehrt war.

Unter anderen Bedingungen, weitgehend zu Friedenszeiten, ereignete sich von 1972 bis 1975 eine weitere sogenannte Welternährungskrise. Akute Hungerkrisen gab es im westafrikanischen Sahel, in Nordnigeria, Äthiopien, in Teilen Indiens und in Bangladesch mit bis zu zwei Millionen Toten. In weiteren Ländern herrschte zumindest Knappheit. Am Ende eines langen Wirtschaftsbooms und in einer beginnenden weltweiten Wirtschaftskrise (ähnlich wie 2008 bis 2011) verdreifachten sich die Preise für international gehandelten Weizen, Reis und Mais binnen etwa 20 Monaten. Die Krise von 1972 bis 1975 kann als Umbruch des Weltmarkts für Getreide betrachtet werden. Dazu gehörten eine Kommerzialisierung und die partielle Abkehr von der (verbilligten) internationalen Lebensmittelhilfe, die Entstehung neuer großer Importregionen (nichtindustrialisierte und sozialistische Länder) und der Versuch, in Ländern des Globalen Südens die Landwirtschaft zu kapitalisieren.

Wie im und um den Zweiten Weltkrieg war jedoch die allgemeine Verknappung des Angebots auf dem Getreideweltmarkt, nun auch beeinflusst durch die Auswirkungen eines Klimaereignisses (El Niño) sowie durch steigenden Fleischkonsum in neuen Weltregionen, keineswegs die einzige Ursache der Krise. Betroffene Länder schotteten sich mithilfe von Lebensmittelrationierungen, Preisregulierungen und Subventionen, Suppen- oder Reisküchen, Aufkaufkampagnen und Exportverboten vom Weltmarkt ab. Zu den am stärksten betroffenen Opfergruppen zählten arme Landarbeiter, angestellte Hirten, marginale Berufe wie Dorfhandwerker und ländliche Prostituierte sowie Kleinbauern und manche kleinere Viehbesitzer. Städter waren weitgehend geschützt. Neben der Weltmarktentwicklung waren damit auch länderübergreifend ähnliche soziale Trends ursächlich, die bestimmte soziale Gruppen besonders anfällig machten. Auch dies ist nicht spezifisch für das 20. Jahrhundert. Vergleichbares ist schon für die 1870er und 1890er Jahre beschrieben worden, nachdem sich ein Weltmarkt für Getreide um die 1860er/1870er Jahre herausgebildet hatte, auch damals schon mit Verflechtungen von Markt, Klimaphänomenen, Herrschaft und sozialem Wandel. In diesen Hungersnöten kamen ebenfalls mehrere Millionen Menschen zu Tode.

Politisierung im 20. Jahrhundert

Was ist dann das Besondere am Hunger im 20. Jahrhundert? Zu den wichtigsten Unterschieden im Vergleich zu früheren Hungerkrisen zählen die politischen Auswirkungen der schon etwas älteren Skandalisierung des Hungers, der meist nicht mehr (wie bei Religiösen) als gottgegebenes Schicksal oder (wie bei Liberalen) selbstverschuldetes Unglück angesehen wird. Nahrung erscheint vielen als alltäglich und banal, aber sie ist politisch. Die Französische Revolution 1789, die russische Februarrevolution 1917 und die deutsche Novemberrevolution 1918 entstanden unter anderem aus Lebensmittelunruhen.

Essen ist die Grundlage des Lebens und ein gebräuchliches Mittel, um soziale Hierarchien und kulturelle und ethnische Differenz auszudrücken. Es hat somit einen bedeutenden symbolischen Gehalt. Symbolisch aufgeladen sind auch politische Maßnahmen, die den Nahrungskonsum regeln. Das ist zwar keine Neuheit des 20. Jahrhunderts, doch haben sich die politischen Implikationen in Zeiten des Massenwahlrechts und der politischen Partizipation von Bürgern und gerade auch Bürgerinnen im Allgemeinen geändert. Keine Regierung kommt heute mehr ohne Sozialpolitik aus.

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde den meisten Regimen das revolutionäre Potenzial von Massenhunger bewusst. Dabei geht umstürzlerische Gefahr weniger von den Betroffenen und Sterbenden selbst aus; in Hungersnöten herrscht nach anfänglichen politischen Akten der Auflehnung (Proteste, Massenplünderungen, Attacken auf Amtsgebäude) meist Apathie, doch werden Überlebende und vor allem Zeugen politisiert. Das ist vor allem in Städten von politischer Tragweite. Entsprechend schreiten Behörden im Notfall zu Lebensmittelrationierungen und anderen Maßnahmen vor allem für Bevölkerungsgruppen, deren politische Loyalität wichtig ist: Versorgt werden in erster Linie Militär, Polizei, Beamte und dann die übrigen Stadtbewohner. Ob ländliche Bewohner in abgelegenen Gegenden verhungern, ist dagegen politisch weit weniger relevant.

Allerdings kann das Schicksal von Landbewohnern, wie schon erwähnt, durch in den Städten eintreffende und dahinsiechende Flüchtlinge sehr wohl politischen Sprengstoff bergen. Daher versuchten politische Führungsschichten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend, akute Hungersnöte mit ihren politisch desaströsen Folgen zu vermeiden – und dies keineswegs nur in Demokratien und unter der Bedingung von Pressefreiheit, die das staatliche Leugnen von Hungersnöten erschwert. Während der Welternährungskrise 1972 bis 1975 bemühten sich auch einige autoritäre Regime rasch um internationale Hilfe und gaben der Notlage mehr Publizität, als es beispielsweise im demokratisch verfassten Indien geschah, und es wurden mehrere autoritäre Regime gestürzt, meist von anderen Juntas, die die Bekämpfung der Hungersnot zu einer ihrer Hauptaufgaben und zu einem Grund für ihren Putsch erklärten.

Dagegen ist die politische Relevanz chronischer Mangelernährung – die das heutige Welthungerproblem weitgehend bestimmt – für Regierungen viel geringer. Sie betraf in den vergangenen Jahrzehnten vor allem ländliche Regionen, die Hungernden sind (trotz ihrer großen Zahl) marginalisiert und vereinzelt, der Hunger ist alltäglich. Während sich die internationale Entwicklungspolitik und viele transnational tätige Nichtregierungsorganisationen diesem Problem seit den 1960er Jahren intensiv zugewandt haben, gilt das für die Regierungen betroffener Länder nicht in gleichem Maße. Sie stehen vielfach unter dem Einfluss nationalökonomischer Vorstellungen, nach denen die Akkumulation von Industriekapital auf Kosten einer rücksichtslosen Ausbeutung des flachen Landes erreicht werden soll, so, wie es in den heutigen kapitalistischen Industrieländern – und auch in sozialistischen Ländern – einst geschah. Gemessen an der über die vergangenen Jahrzehnte nur langsam reduzierten Zahl der an Unterernährung Leidenden (meist um die 800 Millionen Menschen), die die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO nennt, sind die Erfolge auf diesem Gebiet gering, wobei die politischen Aspekte des Zustandekommens solcher Zahlen wiederum mitbedacht werden sollten.

Hunger und Massengewalt

Im 20. Jahrhundert war Massenhunger oft eng mit Massengewalt verbunden. Etwa zwei Millionen von drei Millionen verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand im Zweiten Weltkrieg starben mehr oder weniger hungers in Lagern der Wehrmacht, Hunderttausende Häftlinge in Konzentrationslagern der SS – zusätzlich zu den direkten Morden. Ähnliches gilt für sowjetische Arbeitslager (GULags) und Kriegsgefangenenlager. Die Mehrzahl der bis zu 1,5 Millionen Armenier, die vor allem 1915/16 im Osmanischen Reich der Verfolgung zum Opfer fielen, starb an Hunger und Schwäche; gleiches galt für Angehörige anderer Minderheiten wie Griechen, Assyrer oder Kurden im selben Staat. Die meisten Opfer der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha (1975 bis 1979) kamen durch Unterernährung und Zwangsarbeit ums Leben. Weitere Beispiele finden sich in der deutschen Kolonie Südwestafrika zurzeit der Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama (1904 bis 1908), im französischen Krieg gegen die Unabhängigkeit Algeriens (1954 bis 1962) oder im indonesisch besetzten Osttimor (vor allem 1975 bis 1980).

Trotz dieser vielen Fälle gibt es noch keine systematische Forschung darüber, wie Hunger und Massengewalt zusammenhängen. Die vergleichende Genozidforschung hat bisher nur einfache Logiken ausgemacht: Genozid verursache eine Hungersnot durch sozioökonomisches Chaos; oder Hunger sei ein billiges, archaisches Instrument für Völkermord; oder eine Hungersnot (beziehungsweise der Versuch, sie zu verhindern) führe zu Genozid; oder eine Hungersnot sei per se als Genozid anzusehen. Letztere Version ist in populärwissenschaftlichen Geschichtsschreibungen aus Irland, der Ukraine, Indien oder nordamerikanischer Indigener vertreten.

Der politische Charakter solcher Deutungen wird auch dadurch unterstrichen, dass die Erklärungsversuche entlang verschiedener Grade von Intentionalität funktionieren. Damit konzentrieren sie sich auf staatliche Politik und deren Verurteilung. Auch demokratische, nicht nur autoritäre Systeme, das zeigt die Aufzählung der Länder, sind betroffen.

Gewiss ist es wichtig, Politiken des Hungers zu erforschen. Doch tendiert dies zur Vereinfachung, die kein volles Verständnis der Ursachen und Zusammenhänge erlaubt. Stattdessen scheinen die Übergänge zwischen Massenhunger und Massengewalt fließend und sie weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. Beide sind soziale Prozesse. Sie gehen aus der komplexen Interaktion vieler Akteure hervor. Beide sind Formen von Gesellschaftskrisen. Sie verursachen Panik und führen meist zu großangelegten Flucht- oder Migrationsbewegungen, in denen die Migrierenden nicht nur ihr Eigentum einbüßen, sondern auch Arbeitsplätze, Heim, Familien- und Freundeskreise und lokales Wissen. Hungersnot und Massengewalt sind Umverteilungsvorgänge mit Gewinnern und Verlierern. Für die Betroffenen sind sie traumatisch, aber üblicherweise sind bei Weitem nicht alle in einer Gesellschaft betroffen, oder doch in unterschiedlicher Intensität. Dadurch schaffen oder verstärken beide Prozesse Ungleichheit; Massenhunger und Massengewalt gehen mit sozialer Mobilität einher und können langfristig zu Polarisierungen in der Gesellschaft führen. Soziale Bindungen bis in Familien hinein lockern sich, und hergebrachte moralische Werte, keineswegs nur bei "Tätern", erodieren. Hier wird deutlich, warum nicht nur die Ursachen, sondern auch die Folgen von Hungersnöten vermehrt Interesse verdienen.

Hunger und Ernährung sind im 20. Jahrhundert nicht zufällig verstärkt zum Gegenstand staatlichen Handelns mit Tendenz zum Gewaltsamen geworden. Dafür spielte auch Druck aus der Bevölkerung eine Rolle. Zentral für staatliche Reaktionen waren Rationierungssysteme, oft aufgeschlüsselt nach Arbeitsleistung, Geschlecht und Alter, aber eben auch nach sozialer Position. Lebensmittelrationierung sollte idealerweise soziale Benachteiligung in unkontrollierten Märkten verhindern oder mildern. Doch spielen für die Rationszuweisung, ihre Abstufung oder gar Ausgrenzungen oft auch politische oder rassistische Motive eine Rolle. Um 1941/42 erhielten Deutsche im deutsch besetzten "Generalgouvernement" Polen pro Kopf ausreichende Zuweisungen von 2500 bis 3000 Kalorien täglich, nichtjüdische Polen bekamen etwa 600 auf Ration und konsumierten mithilfe oft für illegal erklärter Transaktionen insgesamt etwa 2000 Kalorien, und Juden im Warschauer Getto erhielten per offizieller Ration 200 bis 300 Kalorien und konsumierten insgesamt Nahrung mit durchschnittlich etwa 1000 Kalorien (bei großen individuellen Unterschieden), wodurch Zehntausende verhungerten. Durch die Rationierung erfolgte also nicht nur eine Zuweisung unterschiedlicher Lebenschancen, sondern auch verschiedener Grade von Sicherheit, Ansehen und Lebensqualität.

Doch dieses Beispiel deutet auch darauf hin, dass keine Regierung eine Hungersnot völlig kontrollieren kann. Durch inkriminierte Markt- und Sozialbeziehungen wie Schwarzmärkte, Schwarzschlachtungen, Schmuggel, Hamstern, Felderablesen, Diebstahl, Betteln und das Mobilisieren von Verwandtschaftsbeziehungen versuchen sich Hungernde zu helfen und vermögen dies oft auch. Besonders problematisch ist dies allerdings für Insassen totaler Institutionen wie Lager, deren Mobilität, Erwerbsmöglichkeiten und soziale Kontakte stark eingeschränkt sind und die oft von der Familie getrennt sind. Doch auch im Lager existieren Märkte für Waren und Dienstleistungen, und damit Übervorteilung und Ungleichheit, insbesondere ungleiche Überlebenschancen. Was István Örkeny für das ungarische "Lagervolk" in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1943 bis 1947 beschrieben hat, könnte in ähnlicher Weise auch für Gefangene in deutschen Konzentrationslagern oder politisch verfolgte Indonesier in der Internierung nach 1965 gezeigt werden.

Marktbeziehungen und Ungleichheit haben auch Hungersnöte in sozialistischen Staaten und Gesellschaften mitgeprägt. Dort sind schwere Hungersnöte, außer im Zusammenhang mit Kriegen, in erster Linie bei dem Versuch entstanden, mittels einer radikalen Ausbeutung der Landbevölkerung die Industrialisierung zu forcieren, wobei diese Umverteilung, die vorherige relativ geringe Produktivität vieler kleiner Bauernhöfe, organisatorische Probleme bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, Widerstand von Bauern und Zwang ineinandergriffen. Jedoch zeigen anekdotische Beobachtungen wie auch sehr ungleiche Todesraten, dass mehr als nur natürliche und politische Faktoren eine Rolle für die verschiedenen Zugangsmöglichkeiten zu Nahrung spielten.

Fazit

In diesem Beitrag wurde Hunger im 20. Jahrhundert als Geschichte komplexer und konfliktreicher sozialer Interaktionen beschrieben. Trotz aller Akte von Nächstenliebe, Solidarität und Hilfe: Hunger ist eher korrumpierend und dreckig, nicht zuletzt in moralischer Hinsicht. Diese unheroische Realität hat auch Auswirkungen darauf, wie man sich an Hunger erinnert. In historischen Darstellungen ist Hunger wegen der von ihm unter Zeitgenossen hervorgebrachten Konflikte relativ selten vertreten und kaum Gegenstand eingehender Untersuchungen. Nach wie vor ist die Geschichtsschreibung stark durch die Nationalgeschichte geprägt, die nationale Identität (einschließlich Einheit) produzieren soll, wofür Geschichten des Hungers wenig funktional erscheinen. Allenfalls wird versucht, durch historische Darstellungen von Hungersnöten Opfernarrative zu schaffen oder zu stärken und damit Fremdherrschaft zu brandmarken; dafür muss man jedoch viele Phänomene, die die Hungersnöte mitverursacht haben oder mit ihnen einhergingen, ausblenden.

Demgegenüber birgt eine Geschichte des Hungers, die Agrarproduktion, Märkte und Politik vorurteilslos miteinander in Verbindung bringt, noch viel Potenzial. Solche Ansätze sollten interdisziplinär angelegt sein; transnationale – darunter vergleichende – Geschichten des Hungers fehlen bisher weitgehend und erscheinen besonders vielversprechend. Und schließlich wären Geschichten vonnöten, die Hunger in langfristiger Perspektive betrachten, von der Untersuchung chronischer Mangelernährung, angefangen bei der Ebene der Familie, bis hin zu den Folgen von Hungersnöten und rapider sozialer Mobilität.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. etwa Peter von Blanckenburg, Welternährung, München 1986.

  2. Vgl. Amartya Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford–New York 1981.

  3. Siehe fürs Mittelalter bereits Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, Hamburg 19783.

  4. Dazu zählen beispielsweise größere Nahrungsmittelproduzenten, die von den hohen Preisen profitieren, Händler sowie lokale Eliten, die das Land von in Not geratenen Bauern billig aufkaufen.

  5. Vgl. Stephen Devereux (Hrsg.), The New Famines. Why Famines Persist in an Era of Globalization, London 2007.

  6. So auch Siddiq Osmani, The Entitlement Approach to Famine. An Assessment, in: Kaushik Basu et al. (Hrsg.), Choice, Welfare, and Development, Oxford 1995, S. 253–294.

  7. Etwa Mohiuddin Alamgir, Famine in South Asia. Political Economy of Mass Starvation, Cambridge MA 1980, im Vergleich zu A. Sen (Anm. 2).

  8. Zum Thema chronische Mangelernährung beschränke ich mich hier auf wenige Hinweise. Siehe hierzu den Beitrag von Michael Brüntrup.

  9. Vgl. UN-Bericht: Kindersterblichkeit seit 1990 halbiert, 9.9.2015, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/un-bericht-kindersterblichkeit-seit-halbiert-1.2639423 (2.11.2015).

  10. Siehe hierzu David Grigg, The World Food Problem, Oxford–New York 1986, S. 5–30.

  11. Vgl. Lizzie Collingham, The Taste of War. World War II and the Battle for Food, New York 2012.

  12. Vgl. Gaëtan Feltz/Jean-Étienne Bidou, La famine Manori au Burundi, in: Revue française d’histoire d’outre-mer, 81 (1994), S. 265–304.

  13. Vgl. L. Collingham (Anm. 11); deutsche Politik betreffend Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord, Hamburg 1998; zu den psychiatrischen Anstalten Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949, Freiburg/Br. 1998.

  14. Siehe Violetta Hionidou, Famine and Death in Occupied Greece, Cambridge u.a. 2006.

  15. Vgl. Christian Gerlach, Die Welternährungskrise 1972 bis 1975, in: Geschichte und Gesellschaft, 31 (2005) 4, S. 546–585.

  16. Das komplexe Verhältnis zwischen transnationalen und nationalen Märkten scheint mir insgesamt noch nicht systematisch erforscht.

  17. Vgl. A. Sen (Anm. 2), S. 96–111, S. 120–122, S. 141–150.

  18. Siehe Dan Morgan, Merchants of Grain, New York 1980, S. 53–101.

  19. Vgl. Mike Davis, Die Geburt der Dritten Welt. Hunger und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter, Berlin 2005.

  20. Eine anglozentrische Sicht liefert James Vernon, Hunger. A Modern History, Cambridge–London 2007, S. 17–40.

  21. Vgl. Hans Bass, Natürliche und sozioökonomische Ursachen der Subsistenzkrise Mitte des 19. Jahrhunderts – eine Diskussion am Beispiel Preußens, in: Bernd Herrmann (Hrsg.), Beiträge zum Göttinger Umwelthistorischen Kolloquium 2009–2010, Göttingen 2010, S. 147ff.

  22. Diese These vertritt Amartya Sen, Development as Freedom, Oxford 1999, S. 16.

  23. Siehe Christian Gerlach, Famine Responses in the World Food Crisis 1972–5 and the World Food Conference of 1974, in: European Review of History, 2015, S. 6, Externer Link: http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13507486.2015.1048191 (2.11.2015).

  24. Siehe zu Datenlage und Berechnungsmethoden auch den Beitrag von Michael Brüntrup in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  25. Vgl. etwa Roger Smith, Scarcity and Genocide, in: Michael Dobkowski/Isidor Walliman (Hrsg.), The Coming Age of Scarcity. Preventing Mass Death and Genocide in the Twenty-first Century, Syracuse 1998, S. 198–219.

  26. Vgl. auch Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften, München 2011, S. 361–364.

  27. Siehe das literarische Soziogramm von István Örkeny, Das Lagervolk, Frankfurt/M. 2010 (1947), S. 44–115, das komplexe Zusammenhänge zwischen Hunger im Lager, Arbeit außerhalb der Lager und Marktbeziehungen unter den Gefangenen aus eigenen Beobachtungen beschreibt, wenn auch etwas verharmlosend.

  28. Vgl. Matthias Middell/Felix Wemheuer (Hrsg.), Hunger, Ernährung und Rationssysteme unter dem Staatssozialismus (1917–2006), Frankfurt/M. u.a. 2011.

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Dr. phil., geb. 1963; Professor am Historischen Institut der Universität Bern, Unitobler, Länggassstraße 49, 3000 Bern 9/Schweiz. E-Mail Link: christian.gerlach@hist.unibe.ch