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Die Mitte und die Flüchtlingskrise | Zufluchtsgesellschaft Deutschland | bpb.de

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Die Mitte und die Flüchtlingskrise Über Humanität, Geopolitik und innenpolitische Folgen der Aufnahmeentscheidung

Herfried Münkler

/ 16 Minuten zu lesen

Deutschland als Macht in der Mitte Europas wird genauso herausgefordert durch die Flüchtlingskrise wie die soziopolitische Mitte Deutschlands. Beide Mittepositionen verpflichten zu Verantwortung und Ausgleich.

Der Begriff "Mitte" hat viele Bedeutungen: die soziale Mitte einer Gesellschaft, das mittlere Segment eines sich nach rechts und links erstreckenden Parteienspektrums, die geografische Mitte eines Raumes. Ist von der Mitte die Rede, so ist zunächst selten klar, welche Bedeutung gemeint ist: die soziologische, die politikwissenschaftliche oder die geografische. Semantische Eindeutigkeit ergibt sich fast immer erst aus dem Kontext; nur selten erklärt der Sprechende explizit, in welcher Bedeutung er den Begriff der Mitte verwendet. Er kann sich das leisten, weil alle divergenten Bedeutungen von Mitte einen gemeinsamen Sinn haben: Sie ist die Größe, die etwas zusammenhält, die dafür sorgt, dass es nicht auseinanderfällt oder sich in Einzelteile auflöst, gleichgültig, ob es sich dabei um eine Gesellschaft, das Spektrum parteipolitischer Optionen oder einen soziokulturellen Raum handelt. In welcher Bedeutung oder Funktion auch immer Mitte gedacht wird – sie ist der Ort beziehungsweise die Größe, ohne die ihre wie auch immer bestimmte Umgebung nicht gedacht werden kann.

Offensichtlich ist der Platz in der Mitte beziehungsweise die Verfügung darüber eine privilegierte Position. Entsprechend umkämpft und umstritten ist die Mitte, und deswegen ist sie auch gefährdet, mitunter sogar bedroht: entweder, weil alle in die Mitte hineindrängen, was zu "Überfüllung" führt, oder weil die Zentrifugalkräfte, die von den sozialen, politischen oder räumlichen Rändern auf die Mitte einwirken, so groß werden, dass die Mitte zu zerreißen oder sich zu spalten droht. Entgegen allen nach Ruhe, Gemütlichkeit und Langeweile klingenden Assoziationen ist die Mitte ein umstrittener und umkämpfter Ort. Und nicht nur das: Infolge des den unterschiedlichen Bedeutungen gemeinsam inhärenten Sinns, ein Ganzes zusammenzuhalten und zu organisieren, kommt ihr auch eine Aufgabe zu, die sie erfolgreich zu bewältigen hat, an der sie aber auch scheitern kann. Ein solches Scheitern der Mitte im soziopolitischen Sinn und ebenso ein Scheitern an der Mitte im geopolitischen Sinn durchzieht die deutsche Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; deswegen hat der Begriff der Mitte in Deutschland eine besondere Signalfunktion, durch die er sich von der soziopolitischen Kultur der meisten anderen Länder unterscheidet. In der Regel wird das unter der Überschrift "Weimar als Warnung" verhandelt.

Betrachtet man die deutsche Geschichte zwischen 1890, dem Ende der Bismarck-Ära und dem Anfang des "Wilhelminismus", und dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Großreichsbildung 1945 im Hinblick auf die drei genannten Bedeutungen von Mitte, so fällt auf, dass das soziopolitische Scheitern an den Aufgaben der Mitte und das geopolitische Scheitern an der Mitte fast immer zusammenfallen: So hat das Bürgertum im Kaiserreich weder in sozialer noch in politischer Hinsicht die Rolle gespielt, die ihm als Mitte zugekommen wäre, und entsprechend ist es auch an den Aufgaben der Mitte gescheitert: die soziale Spannweite zwischen oben und unten überschaubar zu halten und die politischen Konflikte zwischen links und rechts zu moderieren. Parallel dazu hat die politisch-militärische Elite des Reichs im Sommer 1914 nicht begriffen, dass dessen Raison in der Separierung und Begrenzung der Konflikte in Europa bestand; stattdessen hat diese Elite darauf gesetzt, alle Konflikte miteinander zu verbinden. Das Ergebnis war der Erste Weltkrieg und an dessen Ende die Niederlage des Deutschen Reichs sowie der Zerfall der Donaumonarchie, die als "Mittelmächte" miteinander verbündet waren. In der Weimarer Republik hatten zunächst die politischen Kräfte der Mitte das Übergewicht, aber diese politische Mitte war starken Erosionsprozessen ausgesetzt. Als diese in der Weltwirtschaftskrise auf die soziale Mitte übergriffen, war die Republik von Weimar am Ende. Die Position der gesellschaftlichen Mitte übernahm in der NS-Ideologie die Vorstellung von der "Volksgemeinschaft", und anstelle eines außenpolitischen Arrangements mit den Nachbarn wurde mehr und mehr eine aggressiv-expansionistische Politik verfolgt, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg führte. Ein weiteres Mal war Deutschland an den Imperativen der Mitte gescheitert.

Die "Bonner Republik" war wie keine Ordnung in Deutschland zuvor ein Staat der soziopolitischen Mitte: Die Parteien am rechten und linken Rand, zunächst noch im Parlament vertreten, verschwanden nach einiger Zeit aus dem Bundestag, und die sozialen Strukturen der Republik sind mit Grund als "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" bezeichnet worden. Aber diese Bundesrepublik war nicht die geopolitische Mitte Europas, sondern ein Frontstaat des westlichen Bündnisses, und diese exponierte Lage hatte großen Einfluss auf die inneren Konstellationen der Republik. So stand von Anfang an die Frage im Raum, ob die "Berliner Republik", die mit dem Ende der Blockkonfrontation und der Osterweiterung der EU in die geopolitische Mitte Europas gerückt war, auch die soziopolitische Mitte werde bewahren können oder ob es mit dem Fortfall des Feindbildes, zumindest der konfrontativen Herausforderung durch den "Osten", zu einer Spreizung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse sowie einer Polarisierung in der politischen Landschaft kommen werde, in deren Verlauf die soziopolitische Mitte ihre hegemoniale Position verlieren werde. Als Kandidaten, die diese Entwicklung forcieren könnten, wurden die Globalisierung und deren soziale Folgen genannt, dazu der Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft und schließlich ein wachsendes Unbehagen an den Großen Koalitionen der Mitte, durch das die Parteien rechts und links der Mitte von ihren jeweiligen Flügeln zu schärferen programmatischen Konturen und damit zum Aufgeben der politischen Mitte gezwungen werden könnten. Das ist nicht – jedenfalls nicht in dem prognostizierten Ausmaß – eingetreten. Es waren vielmehr äußere Herausforderungen, die das Risiko einer Spaltung der Mitte mit sich gebracht haben, und unter diesen Herausforderungen kommt der Flüchtlingskrise eine ausschlaggebende Rolle zu.

Deutschland als Macht in der Mitte Europas

Die EU hat sich nicht so entwickelt, wie sich das die meisten Beobachter zur Jahrtausendwende vorgestellt haben. Erweiterung und Vertiefung der Union, so die damalige Überzeugung, würden Hand in Hand gehen, und gleichzeitig werde es gelingen, das bisherige Elitenprojekt zu demokratisieren, das heißt, den EU-Wahlbürgern eine direkte und unmittelbare Einflussnahme auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission zuzubilligen. Zwar gab es Stimmen, die warnten, dies werde auf eine strukturelle Herausforderung der bestehenden Institutionen hinauslaufen, aber insgesamt dominierte die Zuversicht, dass das aus allen Krisen gestärkt hervorgegangene Europaprojekt auch die mit Vertiefung und Erweiterung verbundenen Herausforderungen bewältigen werde. Die Gefahr eines Anwachsens der Zentrifugalkräfte sah man nicht, und wenn man sie sah, unterschätzte man deren Ausmaß.

Schon vor dem Wendepunkt der EU-Geschichte um 2010 war erkennbar, dass Deutschland in der Union ein Gewicht gewonnen hatte, das dem eines jeden anderen Einzelstaates weit überlegen war und das für den bis dahin den Rhythmus der EU bestimmenden "deutsch-französischen Motor" Folgen haben musste. Diese Entwicklung wurde durch Veränderungen im Portfolio der Machtsorten noch verstärkt: Militärische Macht hatte nach dem Ende der Blockkonfrontation an politischer Bedeutung verloren, wirtschaftliche Macht dagegen an Gewicht gewonnen. Dass diese Veränderungen zunächst nicht weiter zu Buche schlugen, lag am weitgehenden Verzicht der deutschen Politik, wirtschaftliche Macht für offene politische Einflussnahme zu nutzen. Die Bundesregierung begnügte sich mit einer Politik des leading from behind, und das hatte zur Folge, dass in der europäischen Politik eine "deutsche Handschrift" nicht erkennbar war. Im Gegenteil: Die europäische Politik bestand weitgehend im Finden von Kompromissen, und fast immer war die Bundesrepublik dabei behilflich, diese Kompromisse zu finanzieren.

Das änderte sich mit der Eurokrise beziehungsweise der Politik zu deren Eindämmung. Mit einem Mal wurde Deutschland nicht mehr als Finanzier von Kompromissen, sondern als Hüter der Verträge wahrgenommen; bei der Redewendung, das Land sei vom "Zahlmeister zum Zuchtmeister" der EU geworden, wurde freilich übersehen, dass es nach wie vor der europäische Zahlmeister war, nur dass es dies mit Erwartungen an andere verband und diese Erwartungen nicht länger im Unverbindlichen beließ. Das war erforderlich, weil die deutsche Rolle in Europa von der eigenen Bürgerschaft zunehmend kritisch gesehen wurde und das Vertrauen in die prinzipielle Nutznießerrolle Deutschlands zu schwinden begann. Die Bundesregierung musste ihre Politik der Mitte damit zweifach verteidigen: nach innen, wo sie den Nutzen der EU für die politische Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität Deutschlands herausstellte, und nach außen, wo es darum ging, die Entstehung einer europäischen Transferunion zu verhindern und das Prinzip "Hilfeleistung gegen Reformen" bei den Empfängern von Krediten durchzusetzen. Die wiederum wehrten sich dagegen, indem sie das Bild des freundlichen Deutschen mit dem des hässlichen Deutschen übermalten, also die NS-Zeit, die deutsche Eroberungspolitik und die mit ihr verbundenen Kriegsverbrechen herauskehrten. Das wiederum führte in der deutschen Bevölkerung zu wachsender Distanz gegenüber Hilfszusagen für Mitgliedsländer, was die Regierung zu einer härteren Haltung bei den Verhandlungen zwang. Die Überschuldungskrise Griechenlands war die erste Krise, die die EU an den Rand des Scheiterns brachte. Die Kompromisse, die schließlich gefunden wurden, haben diese Krise nicht beendet, sondern nur "Zeit gekauft", um die strukturellen Probleme Griechenlands zu bearbeiten. Ob das der Fall ist und zum Erfolg führt, wird sich noch zeigen müssen. In der Eurokrise hat Deutschland jedenfalls seine europäische Führungsrolle offen gezeigt und dabei seine fortbestehende Verwundbarkeit durch den Verweis auf die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 erfahren müssen.

Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam es zur zweiten Krise der EU. Die Kommission hatte bei den Assoziierungsverhandlungen mit der Ukraine mit einer derart massiven russischen Reaktion nicht gerechnet und war danach mit einer entschlossenen Antwort darauf überfordert – nicht zuletzt auch deswegen, weil sich die 28 Mitgliedsländer entsprechend ihrer geografischen Lage unterschiedlich bedroht fühlten und bei wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland ihre jeweiligen Interessen berücksichtigt wissen wollten. In dieser Krise zeigte sich zweierlei: zunächst die überaus begrenzte außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der EU und sodann abermals die Führungsrolle Deutschlands, unter anderem bei den Verhandlungen in Minsk. Der Schwäche der EU korrespondierte die neue Stärke Deutschlands, und das wurde ebenso wie die deutsche Verhandlungsposition bei der "Griechenlandrettung" von den Regierungen einiger EU-Länder mit Misstrauen beobachtet. Immerhin nahm Frankreich an den Minsker Verhandlungen teil, sodass nicht der Eindruck entstehen konnte, Berlin und Moskau würden alleine über die politische Ordnung Ostmitteleuropas miteinander verhandeln. Das deutsche Agieren in beiden Krisen spielte eine erhebliche Rolle im Umgang mit der dritten Krise, der sich die EU seit dem Sommer 2015 ausgesetzt sieht: der Flüchtlingskrise.

Die nach der irischen Hauptstadt Dublin benannten Verträge sehen vor, dass Migranten dort um Asyl ersuchen müssen, wo sie erstmals das Territorium eines EU-Lands betreten, also an deren Außengrenzen. Als "Macht in der Mitte" wäre bei Einhaltung der Verträge Deutschland für Asylsuchende nur per Flugzeug erreichbar gewesen, und das hätte dem Zuzug von Migranten enge Grenzen gesetzt. Tatsächlich hat sich aber schon bald eine Praxis entwickelt, bei der Italien Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kamen, unregistriert nach Norden (Schweiz, Österreich, Deutschland) weiterreisen ließ und bei der Migranten nicht nach Griechenland "zurückgeschoben" wurden, weil die Lage in den dortigen Flüchtlingslagern menschenrechtlichen Standards nicht entsprach. In der Folge entwickelte sich eine Praxis im Umgang mit Flüchtlingen, bei der Dublin III zwar offiziell Geltung besaß, praktisch aber nicht durchgesetzt wurde. Solange die Menge der Flüchtlinge überschaubar blieb, wurde das hingenommen, ebenso wie der Umstand, dass die Außengrenzen der EU zunehmend durchlässiger wurden.

Dann aber wuchs im Sommer 2015 der Flüchtlingszuzug dramatisch an, als sich dessen Zentrum vom Mittelmeer auf die Balkanroute verlagerte. Ende August stand die Bundesregierung vor der Frage, ob sie auf der Einhaltung des Dublin-Abkommens bestehen und gegebenenfalls die deutschen Grenzen schließen oder die Flüchtlinge aufnehmen sollte, was darauf hinauslief, dass Deutschland zu deren Hauptzielland wurde. Bei der Entscheidung für letzteres dürften die Aufgaben einer "Macht in der Mitte" eine zentrale Rolle gespielt haben. Hätte sich die Regierung nämlich dazu entschlossen, die Grenzen zu schließen, dann wäre dies das Ende des Schengenraums gewesen – und das sollte unter keinen Umständen durch eine deutsche Entscheidung herbeigeführt werden. Deutschland, so der zu erwartende Tenor, habe in seiner privilegierten Mitteposition die größte Errungenschaft der EU zerstört. Und das in einer Situation, da hierzulande Asylunterkünfte in Brand gesteckt wurden. Die Schließung der Grenzen wäre somit auch auf eine Kapitulation vor den Brandstiftern hinausgelaufen oder hätte jedenfalls so dargestellt werden können. Noch mehr aber ging es darum, den Zerfall des Schengenraums zu verhindern, da zu befürchten war (und ist), dass dies der Anfang vom Ende der EU sein würde.

Auch die Folgen eines strikteren, an den Vorgaben von Dublin III orientierten Grenzregimes der Bundesrepublik mussten bedacht werden. Es war absehbar, dass es dann einen Rückstau nach Österreich geben würde, auf den Österreich mit der Schließung seiner Grenzen reagieren würde, woraufhin Ungarn (was es ohnehin getan hat, was aber folgenlos blieb), Slowenien und Kroatien ihre Grenzen geschlossen hätten. Legt man die heutigen Zahlen zugrunde, so wären dann Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Griechenland, dazu Albanien und Montenegro, zum "Stauraum" für eine halbe Million Flüchtlinge geworden, was dort mit großer Wahrscheinlichkeit zum Zerfall der staatlichen Ordnung und zu gewaltsamen Unruhen geführt hätte. Fast alle diese Staaten sind schwache Staaten und weisen ein brüchiges ethnisches und religiöses Gleichgewicht auf, das durch die Flüchtlinge aus der Balance gebracht worden wäre. – So jedenfalls stellte sich die Lage Ende August 2015 in Berlin dar, und auf der Grundlage dessen wurde der Entschluss gefasst, die Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen, um einen Rückstau in den Balkan hinein zu vermeiden. Die Kanzlerin wollte der deutschen Verantwortung als "Macht in der Mitte" gerecht werden.

Es waren also keineswegs nur humanitäre, sondern auch geopolitische Argumente, die ausschlaggebend waren. Man hat der Bundesregierung, namentlich der Kanzlerin, schon bald danach vorgeworfen, sie habe diese Entscheidung ohne Konsultationen mit den europäischen Partnern getroffen; außerdem habe sie keinen Plan für eine auf längere Sicht angelegte Bearbeitung der Flüchtlingskrise gehabt. Ersteres dürfte, im Nachhinein betrachtet, ein Fehler gewesen sein, wobei freilich für langwierige Konsultationen nicht die Zeit zur Verfügung stand. Einen Plan zur Bearbeitung der Flüchtlingskrise gab es allenfalls in rudimentärer Form: Wie bei den vorherigen Formen der Krisenbearbeitung sollte zunächst "Zeit gekauft" werden, um eine bessere Sicherung der EU-Außengrenzen zu gewährleisten, Fluchtursachen im Vorfeld dieser Außengrenzen zu vermindern und gleichzeitig eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitgliedsländer der EU durchzusetzen. Die Länder an den Außengrenzen der EU, namentlich Griechenland, waren überfordert, und Deutschland sollte seiner Position als zusammenhaltende Macht der EU entsprechend als Puffer dienen, bis eine gesamteuropäische Lösung gefunden war. – Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Die meisten EU-Mitgliedstaaten haben einen effektiven Beitrag zur Lösung der Flüchtlingskrise verweigert, wobei die Višegrad-Länder Mitteleuropas so weit gegangen sind, die Flüchtlinge als ein rein deutsches Problem zu bezeichnen. Bei der Sicherung der EU-Außengrenzen und der Einrichtung von dort angesiedelten Zentren, in denen über Aufnahme oder Abweisung entschieden wird, ist man nicht weitergekommen, und die Staaten unmittelbar jenseits der EU-Außengrenzen haben die politischen und finanziellen Kosten einer durch sie bewerkstelligten Drosselung des Flüchtlingszuzugs kontinuierlich erhöht. Sie hatten sehr schnell begriffen, dass die EU in dieser Frage politisch erpressbar war.

Drohende Spaltung der soziopolitischen Mitte in Deutschland

Bereits vor der Grenzöffnung hatte in Deutschland der politische Kampf um die Mitte begonnen, und er wurde nicht nur mit Brandstiftungen gegen Asylbewerberheime auf der einen und demonstrativen Willkommensbekundungen auf der anderen Seite geführt, sondern auch mit neurechten Texten und Stellungnahmen linksliberaler Provenienz; erstere klar offensiv, wobei kulturelle, ethnische und religiöse Identitätsbehauptungen sich wechselseitig ergänzten; letztere dagegen eher in einer Verteidigungshaltung, bei der rechtliche Selbstverpflichtungen und humanitäre Werte ins Feld geführt wurden. Solange die in dem Merkelschen Satz "Wir schaffen das" zusammengefasste Zuversicht vorherrschend war, neigte die Stimmungslage der Mitte der liberalen Sichtweise zu; sie begann sich im Spätherbst 2015 zu verändern, als die Zahl der Flüchtlinge entgegen den jahreszeitlich begründeten Erwartungen nicht kleiner wurde, und sie kippte, als die Übergriffe in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof bekannt wurden. Sie wurden zum Indiz dafür, dass der Prozess der Integration der Neuankömmlinge nicht so leicht vonstattengehen und auch nicht so schnell erfolgen würde, wie manche sich das vorgestellt hatten, und dass dabei erhebliche soziokulturelle Unterschiede zu überwinden waren. Hinzu traten Prognosen, dass die vorhandenen freien Stellen für die Integration der Flüchtlinge in den deutschen Arbeitsmarkt nicht ausreichen würden.

Mit der Kölner Silvesternacht wurden "die Mühen der Ebene" (Bertolt Brecht) sichtbar, und vor deren langer Dauer, dem unabsehbaren Ende sowie den unüberschaubaren Kosten scheute ein Teil der soziopolitischen Mitte in Deutschland zurück. Unter dem Sammelbegriff "Angst" zusammengefasste Affekte und Emotionen wurden zum Katalysator des Stimmungsumschwungs. Die sich ausbreitende Angst wurde verstärkt, als klar wurde, dass die Regierung mit dem Minimalplan einer Sicherung der EU-Außengrenzen und einer Europäisierung des Zuzugs von Flüchtlingen nicht weiter gekommen war. Was sich zunächst als zeitlich begrenzte Zwischenlösung ausgenommen hatte, drohte zum Dauerzustand zu werden.

Angst ist eine diffuse Empfindung, die von Furcht zu unterscheiden ist: Furcht ist objektbezogen und enthält eine Vorstellung davon, womit man es zu tun hat und worin die Ursachen der Furcht bestehen. Angst dagegen ist eine fluide Disposition, die entweder keine genauen Ursachen anzugeben vermag oder bei der die ängstigenden Ursachen ständig wechseln. Furcht ist an eine Veränderung von Konstellationen zurückgebunden; Angst dagegen ist ansteckend; sie verbreitet sich von selbst, sobald sie begonnen hat, um sich zu greifen. Furcht lässt sich mit Wissen, Aufklärung und konkreten Maßnahmen bearbeiten; Angst nicht. Als Katalysator politischer Prozesse tritt Angst vor allem in der Mitte der Gesellschaft auf.

Furcht vor einer massenhaften Zuwanderung von Flüchtlingen müssen die sozialstatistisch unteren 20 Prozent der deutschen Gesellschaft haben: erstens, weil es sich dabei um Konkurrenten um Arbeitsplätze für Un- und Angelernte handelt, die als Lohndrücker dienen können; zweitens, weil die Flüchtlinge den Druck auf genau jenes Segment des Wohnungsmarkts erhöhen, in dem sich auch dieser Teil der Gesellschaft bewegt; und drittens, weil der Anteil, den der Sozialstaat an Hilfeleistungen zu vergeben hat, bei einem kontinuierlichen Zuzug von Flüchtlingen zwangsläufig auf mehr Anspruchsberechtigte entfällt. Diesen Befürchtungen kann die Politik mit entsprechenden Maßnahmepaketen entgegenwirken, etwa indem sie für die Einhaltung von Mindestlöhnen sorgt (was freilich die Integration der Migranten in den Arbeitsmarkt erschwert) und Programme des sozialen Wohnungsbaus auflegt, die für bezahlbaren Wohnraum in den großen Städten sorgen. Bei der Bearbeitung von Furcht ist die Politik operativ gefordert.

Davon unterscheidet sich die Bekämpfung von Angst, deren man nicht operativ, sondern allenfalls kommunikativ Herr werden kann. Die für die Unterschicht relevanten Furchtursachen gibt es für die Mittelschicht nicht, weder im Hinblick auf den Arbeits- noch auf den Wohnungsmarkt. Eher ist sie mittelfristig ein Nutznießer von Zuwanderung, insofern etwa aus deren Reihen bezahlbare Altenpfleger und Hilfskräfte im Sozialbereich erwachsen, auf die gerade Mittelschichtangehörige angewiesen sind. Auch die mit der Zuwanderung verbundene wirtschaftliche Stimulation kommt zu einem Teil Mittelschichtangehörigen zugute. Aber die Angst in der gesellschaftlichen Mitte fällt nicht in den Bereich politisch und wirtschaftlich kontrollierbarer Prozesse; will man sie bekämpfen, muss man das argumentativ tun, doch das ist schwierig, weil es keinen Punkt gibt, an dem man strukturell ansetzen könnte. Angst kontinuiert sich, indem sie ständig den Referenzbereich wechselt. Die Kölner Silvesternacht war darum so verhängnisvoll, weil sie einen durchaus realen, imaginativ freilich überzeichneten Begründungsrahmen der Angst geschaffen hat, gegen den sich mit Zahlen und Statistiken nicht ankommen lässt. Ein entschlossenes Auftreten der Staatsmacht, von verstärkter Polizeipräsenz auf öffentlichen Plätzen bis zu demonstrativen Abschiebungen straffällig gewordener Flüchtlinge, ist die vorerst einzige Reaktion auf die um sich greifende Angst in der gesellschaftlichen Mitte.

Es gibt freilich auch einen Modus von Angstbewältigung, der wesentlich in der Zivilgesellschaft angesiedelt ist und auf den die Politik einen allenfalls randständigen Einfluss hat: das "Wegarbeiten" von Angst durch Engagement in Betreuungs- und Hilfsprojekten für Flüchtlinge. Wenn Angst ein Zustand ist, der nicht zuletzt aus Untätigkeit und dem damit verbundenen Gefühl des Ausgeliefertseins resultiert, dann ist die Arbeit mit Flüchtlingen etwas, das solchen Empfindungen entgegenwirkt. Wenn es gut läuft, gewinnen dabei alle: die Flüchtlinge durch den frühen Beginn der Integration, die Einheimischen, indem sie die Erfahrung von Aktivität und Problembearbeitung machen, und schließlich Gesellschaft und Politik, insofern die Probleme angegangen werden und die Angst in der Mitte schwindet. Das ist sicherlich nicht die Lösung des Problems, aber doch ein Element bei der Arbeit an dieser Lösung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, Berlin 2010.

  2. Götz Aly hat die soziopolitische Konstellation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Kollektivmerkmal der Deutschen erklärt. Das ist unhistorisch gedacht und darum zurückzuweisen. Vgl. ders., Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus, Frankfurt/M. 2015.

  3. Dieser Hinweis auf die spezifische politische Verantwortung Deutschlands als Macht in der geopolitischen Mitte Europas ist nicht zu verwechseln mit der These von einer Allein- oder Hauptschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg. Vgl. Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013.

  4. So Helmut Schelsky, Gesellschaftlicher Wandel (1956/61), in: ders., Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf–Köln 1965, S. 337–351.

  5. Die deutsche Position in Europa lässt sich als semihegemonial charakterisieren, wobei hinzuzufügen ist, dass es sich dabei um einen geschichtspolitisch hochgradig verwundbaren Hegemon handelt. Vgl. Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015, S. 137ff.

  6. Vgl. Miltiades Oulios, Die Grenzen der Menschlichkeit; in: Kursbuch, 183 (2015), S. 75–88; Gabriele Gillen, Wo beginnt die Festung Europa? Eine Reise durch Köpfe und Kontinente, in: Anja Reschke (Hrsg.), Und das ist erst der Anfang. Deutschland und die Flüchtlinge, Reinbek 2015, S. 166–183; Peter Müller, Organisierte Verantwortungslosigkeit. Die EU und die Flüchtlinge, in: ebd., S. 262–274.

  7. Eine Zusammenstellung dessen findet sich bei Liane Bednarz/Christoph Giesa, Gefährliche Bürger. Die neue Rechte greift nach der Mitte, München 2015, insb. S. 39–55.

  8. Die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht geht auf den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard zurück und spielt auch bei Sigmund Freud eine Rolle.

  9. Als historische Studie über die politischen Effekte von Angst vgl. Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985.

  10. Vgl. Michael Hüther/Wido Geis, Offenheit und Bindung: Ökonomische Aspekte des Flüchtlingszustroms nach Deutschland, in: Jens Spahn (Hrsg.), Ins Offene. Deutschland, Europa und die Flüchtlinge, Freiburg/Br. 2015, S. 155–162; Markus Kerber, Flucht, Wanderung und Wirtschaft, in: ebd., S. 163–170.

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Dr. phil., geb. 1951; Professor für Theorie der Politik am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin. E-Mail Link: herfried.muenkler@sowi.hu-berlin.de