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Deutschland postmigrantisch? Rassismus, Fremdheit und die Mitte der Gesellschaft

Fatima El-Tayeb

/ 16 Minuten zu lesen

Die zunehmend ablehnende Haltung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber Geflüchteten ist weniger eine Überforderung denn Ausdruck eines zwanghaft wiederholten Prozesses der Abgrenzung von einem imaginären "Fremden".

Das Thema Migration wird überschattet von der sogenannten Flüchtlingskrise, die ja nun unsere, deutsche Krise ist – für andere hat sie schon vor einiger Zeit begonnen. Aber das interessierte nicht so sehr, solange sie sich hauptsächlich jenseits europäischer Grenzen abspielte oder zumindest nicht nördlich von Lampedusa. Die deutsche Flüchtlingskrise scheint wiederum eine deutsche Identitätskrise auszulösen – pendelnd zwischen Gutmenschen-Willkommenskultur und offenen Grenzen auf der einen Seite, brennenden Flüchtlingsheimen und verschärften Asylgesetzen auf der anderen. Vielleicht am bemerkenswertesten an dieser Entwicklung war für mich allerdings nicht die Zerrissenheit der deutschen Seele, sondern die Amnesie, mit der diese Krise und die Identitätsfragen, die sie hervorrief, behandelt wurden, als seien sie ein völlig unerwartetes Phänomen. Als würden nicht schon seit einem Jahrzehnt jährlich Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken, als hätte es Solingen, Mölln oder Rostock nie gegeben, auch keine herzerwärmenden Lichterketten und "Mach’ meinen Kumpel nicht an!"-Kampagnen. Ganz zu schweigen von den kritischen Interventionen rassifizierter und migrantisierter Gruppen und Individuen, die seit Langem auf strukturelle Probleme hinweisen, die durch steigende Zahlen von Flüchtenden vielleicht aktiviert, jedoch keineswegs ausgelöst wurden, da sie eben nicht von außen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Diese strukturellen Probleme wurden mehr als deutlich etwa in der ein Jahrzehnt währenden Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) und ebenso im öffentlichen und offiziellen Umgang mit ihr, von "Dönermord"-Schlagzeilen bis zu staatlicher Aktenvernichtung.

Rassistische Gewalt wird dennoch noch stets nicht als strukturelles deutsches – und europäisches – Problem ernst genommen, nicht als Terror(ismus) begriffen, sondern als Exzess randständiger Extremisten und gestörter Einzelgänger – im Gegensatz etwa zu der Attacke auf das französische Satiremagazin "Charlie Hebdo" im Januar 2015, die nahtlos in den diskursiven Rahmen des "islamistischen Terrorismus" passte. Dies ist ein Terrorismus wiederum, der sowohl als fundamentale Bedrohung Europas als auch als repräsentativ für den Islam an sich verstanden wird. Die "Je suis Charlie"-Kampagne nach dem Pariser Attentat war als Zeichen der Solidarität gemeint, aber funktionierte auch als Symbol der kollektiven Gefährdung des weißen Europas durch muslimischen Terror. Umgekehrt fehlt jeder Ausdruck einer kollektiven europäischen Verantwortung für den rassistischen Terror gegen Migranten und Europäerinnen of color. Und die ist eben nicht das Gleiche wie die kollektive Abgrenzung vom "fremdenfeindlichen" Pöbel, der mit Vorliebe im Osten und in der Unterschicht ausgemacht wird, also weit weg von den aufgeklärten Räumen des Feuilletons oder der Universität.

Postmigrantisch und postrassistisch: USA als Modell?

Genau hier liegt das Problem und liegt einer der fundamentalen Unterschiede zum Umgang mit Migration und Rassismus in den USA, einem Umgang, der in Europa oft als übertriebene "Political Correctness" wahrgenommen wird. Aber was sich hinter diesem anderen Umgang verbirgt, ist ein schwieriger und unabgeschlossener Prozess, der alle Bereiche der US-amerikanischen Gesellschaft berührt. Auch wenn sich die Charakterisierung der USA als "postracial" oder "postrassistisch" seit Barack Obamas Regierungsantritt ungebrochener Popularität erfreut, befindet sich das Land noch immer und notwendigerweise im Stadium des "racial". Hiermit meine ich hier nicht in erster Linie die offensichtlich noch existierenden rassistischen Strukturen, sondern ihre Benennung, das heißt die anhaltenden öffentlichen Auseinandersetzungen darum, was "racial" am US-System ist. Wie unter anderem die Bewegung "Black Lives Matter" betont, ist dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen. Vielleicht ist er sogar noch stets am Anfang, aber er hat seit den 1960er Jahren elementare gesellschaftliche Veränderungen produziert, Veränderungen, von denen Deutschland noch weit entfernt ist.

Wenn wir "postmigrantisch" analog zu "postracial" als eine Zustandsbeschreibung betrachten oder als die Postulierung einer Überwindung, des Fortschritts zur nächsten Stufe in einem beständigen Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung, dann lässt sich feststellen, dass Deutschland bestenfalls den ersten Schritt zur Auseinandersetzung mit dem Migrantischen getan hat, von "postmigrantisch" kann gar keine Rede sein. Sicher, seit fast 60 Jahren, also seit zwei Generationen, ist Migration (wieder) ein fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft, aber gerade die Begeisterung, mit der die sogenannte Flüchtlingskrise und der angeblich beispiellose Zustrom "Fremder" als neues Phänomen dargestellt wird, zeigt etwas Anderes: Die Krise wird benutzt, um die zögerlichen Schritte zur Migrantisierung der Gesellschaft beziehungsweise der gesellschaftlichen Debatten seit den 1980er Jahren ungetan zu machen. Auf einmal ist alles wieder ganz einfach: Hier die weißen deutschen Helfer(innen), die sich ihre Privilegien wohl verdient haben und nicht daran denken, sie aufzugeben, die aber voller Sympathie für die weniger Glücklichen sind – und dort eben jene braunen Opfer legitimer Gewalt (das heißt vor allem Opfer US-amerikanischer militärischer Aggression, nicht europäischer ökonomischer Ausbeutung wie die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge).

Ebenfalls präsent, aber punktuell in den Hintergrund gedrängt (zumindest in der populären Imagination) ist der Gegenpart der guten Lichtgestalten, die bezeichnenderweise sogenannten Dunkeldeutschen – deren erwiesenes Gewaltpotenzial dennoch nicht als fundamentale Bedrohung wahrgenommen wird, zumindest nicht als eine, die nicht durch Willkommensgeschenke an Flüchtlinge neutralisiert werden kann. Und das funktioniert so gut, weil die anderen dunklen Deutschen inzwischen wieder ganz aus der Imagination gefallen sind: Rassifizierte und migrantisierte Deutsche sind in den öffentlichen Debatten fast gänzlich unsichtbar. Wenn sie eine Fluchtgeschichte im direkten Familienhintergrund haben, dürfen sie manchmal erzählen, wie das für sie war mit der Integration, aber ansonsten wird deutsch wieder weiß und christlich (beziehungsweise christlich sozialisiert) gedacht. Was immer sich verschoben und verkompliziert hatte über die vergangenen Jahre, ist im Zuge dieser Krise wieder auf die altgewohnten Kategorien eingenordet worden.

"Fremdenfeindlichkeit" und Rassismusamnesie

Die Not der Geflüchteten hat etwas erschreckend Stabilisierendes für die deutsche Identität. Die Welle rassistischer Gewalt um die sogenannte Asylkrise in den 1990er Jahren, der politische Ruck nach rechts, um den "Sorgen der Bürger" entgegenzukommen, die Verschärfung eines vormals relativ großzügigen Asylrechts, das zum ersten Mal auf die Probe gestellt worden war – all das scheint ebenso vergessen wie die Diskussionen um die Notwendigkeit, Rassismus als solchen zu benennen. Stattdessen geht es nun wieder um "Fremdenfeindlichkeit" – und um die Gefühlslage der guten Deutschen, die Flüchtlinge unterstützen, und dafür von fremdenfeindlichen Dunkeldeutschen bedroht werden.

Gleichzeitig herrscht ein merkwürdiges Desinteresse daran, wie sich dieser Konflikt auf Nicht-Mehrheitsdeutsche auswirkt. Der Grund scheint recht deutlich: Es wurde wieder einmal vergessen, dass diese Gruppe existiert und ein Alltagsrassismus, der nicht erst mit der Ankunft der Geflüchteten aktiviert wurde (und der weiterexistieren würde, könnte kein einziger Flüchtender Deutschland erreichen). Rassismus trifft und traf auch rassifizierte Deutsche – eben weil er mitten in der deutschen Gesellschaft zuhause ist und nicht von "Fremden" in sie hineingetragen wurde. Rassismus braucht keine Fremden, um zu existieren, er produziert sie. Die Sympathiekundgebungen für Flüchtende haben dagegen einen einfacheren, aufbauenden Kontext: Flüchtende sind bedürftig, brauchen Hilfe, die großzügig von Mehrheitsdeutschen geleistet wird (die wiederum als Gegenleistung verständlicherweise Dankbarkeit erwarten) – es ist klar, wer zuhause, wer "Gast" ist, es gibt notwendigerweise keine Gleichwertigkeit.

In den zunehmend breit geführten Diskussionen über Rassismus seit den 1980er Jahren äußerte sich auch Kritik an progressiven Gruppen. Diese reagierten verunsichert bis aggressiv auf den Verlust der absoluten Diskurshoheit. Die Debatte um Rassismus in Kinderbüchern 2013 etwa zeigte deutlich, wie schwer vorstellbar es noch immer für weiße Deutsche ist, dass ihre Positionalität nicht neutral und objektiv ist, sondern subjektiv und limitiert, dass rassifizierte Deutsche aufgrund ihrer Positionierung andere Erfahrungen machen, die weder ignoriert noch unter die dominante weiße Sichtweise subsummiert werden können. Die gefährdete diskursive und territoriale Hoheit wird in der Flüchtlingsdebatte wiederhergestellt, zunächst durch die Trennung zwischen "echten" Kriegs- und "falschen" Wirtschaftsflüchtlingen. Die dankbaren und unbestreitbar fremden, nicht deutschen Flüchtlinge sind ein angenehmeres Gegenüber als schwierige, aggressive, anspruchsvolle, ewig beleidigte Migrantisierte. So ist schon abzusehen, dass die Willkommenskultur sich für die zweite Generation der migrantisierten Deutschen erledigt haben wird. Wie gehabt wird ihr eine Assimilation abverlangt werden, die unmöglich bleibt, weil gleichzeitig von ihr erwartet wird, dass sie den Part des Fremden weiterspielt – nichts ist für die Mehrheit irritierender an Migrantisierten als das Deutschsein, das sie verkörpern –, daran ändert auch die Willkommenskultur nichts, ganz im Gegenteil: Was sich hinter ihr verbirgt, die zwanghafte ewige Wiederholung der ersten Begegnung mit dem Fremden, ist ein Prozess, den ich als "Rassismusamnesie" bezeichnet habe: die anhaltende Dialektik von rassistischer moralischer Panik und der Verdrängung der historischen Präsenz rassifizierter Bevölkerungen.

In diesem aktiven Prozess des Vergessens können sich regelmäßig wiederholende Zyklen von Medienkampagnen gegen rassifizierte Gruppen und von rassistischen Gewaltausbrüchen ebenso ignoriert werden wie Widerstandsbewegungen, etwa das seit mehr als 20 Jahren bestehende Flüchtlingsforum "The Voice", indem sie nie zusammengedacht werden. Ohne Ursache und Wirkung, ohne Bezug, bleiben sie ohne Ort im kollektiven Gedächtnis. Die Erklärung von Rassismus als Reaktion auf das plötzliche Auftauchen des Fremden verlangt, dass jede Anerkennung einer nicht-weißen Präsenz immer scheinbar zum allerersten Mal geschieht. Das kennzeichnet sie als Ausnahmezustand, entleert sie aber zugleich jeder bleibenden Konsequenz: Aufstände in den französischen Vorstädten erzeugen Debatten über das Ende Europas, aber keine Strategieänderungen, stattdessen wird dem nächsten "Ausnahmezustand" erneut mit äußerster Überraschung begegnet – wie aktuell dem angeblichen "Flüchtlingsstrom" und vorher der multikulturellen Gesellschaft. Die lange zurückreichende, aber unterdrückte Geschichte von "Rasse" und Rassismus in Europa lässt den gegenwärtigen kontinentalen "Multikulturalismus", festgemacht an Markern des Nicht-Europäischseins wie Kopftuch oder dunkle Haut, als etwas nie Dagewesenes erscheinen; eine überraschende und dramatische Entwicklung, die im besten Fall gesellschaftliche Anpassung, im schlimmsten Ablehnung hervorruft und die vor allem bei Bedarf als "gescheitert" erklärt werden kann. Die Ursachen dieses Scheiterns liegen natürlich bei den Vertreterinnen und Vertretern der Minderheiten im Multikulti-Mix, da die Kultur der Mehrheit weitgehend unhinterfragt bleibt.

Neoliberaler Multikulturalismus und koloniale Altlasten

Die Mehrheitsposition wird kaum hinterfragt, und das verbindet das heutige, "postmigrantische" Deutschland wieder mit US-Debatten um die "postracial society", zeigt aber gleichzeitig auch deutlich, wo die Unterschiede liegen. Im US-Gebrauch impliziert "postracial", dass Rassismus zwar nicht gänzlich überwunden, aber nicht mehr systemisch ist, dass die institutionelle Diskriminierung rassifizierter Gruppen in der Vergangenheit liegt und ein "farbenblinder" Ansatz den Weg in eine gleichberechtigte Zukunft weist. Das bedeutet nicht nur eine Abgrenzung gegenüber dem explizit rassistischen System, das bis in die 1960er Jahre Gesetz war, sondern auch gegenüber der konzertierten Infragestellung der weißen Vorherrschaft durch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung – und in der Folge durch Black und Brown Power-Aktivismus, inspiriert auch von antikolonialen Befreiungsbewegungen gegen die rassistische Herrschaft Europas über kolonisierte Völker. Die Phase des – nötigen – Widerstands gegen dieses ungerechte System gilt nun als erfolgreich abgeschlossen, ein Festhalten an ihm als kontraproduktiv oder gar als "umgekehrter Rassismus", da wir uns inzwischen im Stadium des farbenblinden liberalen Multikulturalismus befinden. – So zumindest das amerikanische "postracial" Narrativ.

In Europa dagegen wird zumeist angenommen, dass hier keine derartige Nachkriegstransformation stattfand, da sie nicht notwendig war – weil es kein rassistisches innereuropäisches Herrschaftssystem gegeben habe, das ersetzt werden musste. Diese Annahme schließt notwendigerweise die Überzeugung ein, dass der europäische Kolonialismus langfristige und fundamentale Auswirkungen nur auf die Kolonisierten hatte, nicht auf die Kolonialisatoren (zumindest keine Auswirkungen, die es zu problematisieren gilt) und dass der nationalsozialistische Rassenstaat eine atypische Ausnahme, kein Ausdruck europäischer Tiefenstrukturen war. So wurde die umfassende Analyse des globalen Systems, das von dem Politikwissenschaftler Cedric Robinson und anderen als "racial capitalism" benannt wurde, vornehmlich von Postcolonial Theory und Critical Race Studies geleistet, einschließlich des Women of Color-Feminismus – was Sinn macht, da Frauen of color sowohl in den USA als auch global überproportional mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen konfrontiert sind. Women of Color-Feminismus liest den Aufstieg der USA zur Weltmacht unter dem Vorzeichen des neoliberalen Multikulturalismus daher als Teil, nicht als Überwindung dieser Herrschaftsform des rassifizierten Kapitalismus.

Neoliberaler Multikulturalismus verspricht, vormals ausgeschlossene Gruppen einzuschließen – sofern sie sich als einschlussfähig erweisen. So wird nicht nur die Disziplinierung marginalisierter Communities auf diese selbst abgewälzt – die Beweislast, dass sie nicht minderwertig oder bedrohlich sind, liegt bei ihnen –, sie werden auch gegeneinander ausgespielt, während die Mehrheitsgesellschaft die Rolle des Vermittlers und Wahrers von Grundrechten einnimmt, aber gleichzeitig weiter normbestimmend bleibt. Der Erfolg dieser Strategie zeigt sich etwa in der Mobilisierung feministischer Argumente für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan oder in der Pathologisierung muslimischer Communities in Deutschland als strukturell homophob, frauenverachtend und antisemitisch. Diese Eigenschaften als repräsentativ zu setzen, bedeutet wiederum, dass trotz Aufforderungen an "moderate Muslime", sich von den Extremisten zu distanzieren, Ausnahmen immer die Regel bestätigen. Zugrunde liegt der feste Glaube an die Überlegenheit "westlicher Werte", die angeblich denen des Feindes/Fremden diametral entgegengesetzt sind. Der Feind der freiheitlichen Ordnung, für die nun der Neoliberalismus steht, wird nicht mehr im sozialistischen Osten verortet, sondern wieder im Globalen Süden, und dieser wird traditionell als demokratiefern, wenn nicht gar demokratiefeindlich rezipiert. Gleiches gilt für die Wahrnehmung derjenigen Bürgerinnen und Bürger, deren "migrantischer Hintergrund" im Süden, insbesondere in der islamischen Welt, liegt. Für die Krise des (neo)liberalen Multikulturalismus werden so global wie national Bevölkerungsgruppen verantwortlich gemacht, deren Position bereits durch ökonomische und politische Marginalisierung geschwächt ist. Eine Auseinandersetzung mit den anhaltenden Auswirkungen (neo)kolonialer europäischer Herrschaft findet dagegen nicht statt.

Grenzen hegemonialer Selbstkritik

Zur Analyse dieses Systems des rassifizierten Kapitalismus, in das Europa zentral eingebunden ist, trugen kontinentaleuropäische Intellektuelle nicht nur wenig bei, sie sperrten sich überwiegend aktiv gegen eine Öffnung europäischer Theorie für die so wichtigen Einflüsse von postkolonialer und Critical Race-Theorie. Auch die kontinentale Linke hat es versäumt, diese Strukturen effektiv infrage zu stellen – oder sie auch nur systematisch zu analysieren. Sie bleibt verhaftet in ihnen, von einem universalistischen Aufklärungshumanismus, der den weißen europäischen Mann als den paradigmatischen Menschen setzt, hin zu einer kontinentalen marxistischen Theorie, die "Rasse" als fundamentale Herrschaftskategorie noch stets ignoriert, sie stattdessen als partikularistische Ablenkung von der universal relevanten Kategorie "Klasse" einschätzt – ironischerweise, da Klasse auch in Europa eine extrem rassifizierte Kategorie ist. Bei Rassismus geht es so scheinbar immer um etwas anderes: Angst vor der Zukunft, wirtschaftliche Unsicherheit oder sozialistische Altlast. Als Konsequenz der fehlenden Rassismusanalyse ist die mehrheitsdeutsche Debatte zunehmend isolationistisch, im eigenen Saft kochend, immer weniger fähig, an einem transnationalen Dialog teilzunehmen, in dem Europa nicht mehr automatisch Dominanz zugestanden wird.

Die US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen erzwangen eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Rassismus, die unter anderem dazu führte, dass Black und Ethnic Studies sich etablierten, noch immer umstrittene akademische Disziplinen, die dennoch, ebenso wie Women’s und Queer Studies, den unumkehrbaren Einzug derjenigen manifestierten, die zuvor in Theorie und Praxis aus der Universität – und anderen Entscheidungs- und Meinungszentren – ausgeschlossen worden waren. In Europa, Deutschland eingeschlossen, hat eine derartige Öffnung nach Holocaust und Kolonialismus nicht stattgefunden, stattdessen übte man sich in hegemonialer Selbstkritik – ausgehend von der Annahme, dass die europäische intellektuelle Tradition genug Handhabe biete, das System, wenn nötig, von innen heraus zu korrigieren. Problematisch hierbei ist unter anderem, dass bestehende Definitionen von Europas "Außen" und "Innen" weitgehend unhinterfragt übernommen wurden, sodass etwa Kritik von rassifizierten Europäerinnen und Europäern als von außen kommend wahrgenommen wird, eben weil ihnen kein Platz innerhalb dieser Tradition zugestanden wird.

Anstatt zu einem pluralistischen Modell zu gelangen, reproduzieren Deutschland und Europa so, was Stuart Hall 1991, am Vorabend des Vertrags von Maastricht (und der 500-Jahrfeiern zur "Entdeckung" Amerikas), das "internalistische Narrativ" des Kontinents nannte: eine narzisstische Geschichtsauffassung, in der komplexe historische Interaktionen einem insularen Modell untergeordnet werden, in dem ein essentialistisch definiertes, weißes, christliches Europa immer und zwangsläufig die Norm bleibt. Kritik üben dürfen wiederum nur diejenigen, die zumindest annähernd der Norm entsprechen, was bequemerweise noch stets die überwältigende Mehrheit postkolonialer, dekolonialer und intersektionaler Ansätze ausschließt. Deren Analyse des rassifizierten Kapitalismus hat schon längst Rassismus als globales – und damit auch deutsches – Herrschaftsprinzip dekonstruiert. Das Resultat ist die Weißwaschung von Theorie – zum Teil getragen von der Behauptung, dass die Gemengelage von Rassifizierung und Migrantisierung hierzulande zu komplex sei, um sie mit aus den USA importierten Konzepten zu analysieren – als ob die Lage dort weniger kompliziert sei. Women of Color-Feminismus arbeitet schon seit Jahrzehnten mit statt gegen Differenz als einer Kategorie, mit der diese Komplexitäten und Widersprüche gefasst, aber nicht aufgelöst werden können. Dies ist ein Ansatz, der etwa in der Debatte um die Kölner Silvesternacht bitter nötig wäre.

Weiße Wissenschaft und gesellschaftlicher Rassismus

Der Ausschluss derjenigen Theorien, die keine hegemoniale, sondern eine subalterne und subversive Herrschaftskritik vermitteln, führt logischerweise zum Ausschluss rassifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch wenn das nicht explizit intendiert ist. Zur Illustration hier kurz ein Beispiel von sehr vielen: 2015 erhielt ich eine Einladung als Referentin für eine Konferenz zur Geschichte des "Rasse"-Begriffs in Deutschland. Die Veranstaltung schien außerordentlich zeitgemäß, hat die Forschung zu diesem Thema doch in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen, auch wenn sie akademisch noch stets marginal bleibt. Zudem hatten die Mordserie des NSU und die zu diesem Zeitpunkt ihren Zenit erreichenden Pegida-Demonstrationen mehr als deutlich gemacht, dass das erklärte Ziel der Veranstaltung – eine interdisziplinäre Debatte zur zeitgenössischen Wirkung von Rassismus in Deutschland – von zentraler gesellschaftspolitscher Bedeutung war.

Mein Enthusiasmus ließ allerdings schlagartig nach, als ich die Liste der eingeladenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sah, die so aussah wie fast jede Liste akademischer Veranstaltungen in Deutschland – dass es sich bei den Eingeladenen fast ausschließlich um weiße Männer handelte, schien angesichts des erklärten Ziels der Konferenz besonders kontraproduktiv, eine seriöse Veranstaltung zu "Rasse" und Rassismus in dieser Besetzung nahezu unmöglich. Es ging mir dabei weniger darum, wer vertreten, als wer nicht vertreten war, nämlich die zahlreichen Forscherinnen und Aktivisten aus rassifizierten Gruppen, die wichtige Arbeiten zu diesem Thema leisten, innerhalb und außerhalb der Universitäten. Methodisch, pädagogisch und politisch ist ein "farbenblinder" Ansatz, der die durch rassistische Strukturen produzierten Ausschlüsse und Hierarchien ignoriert, dazu verdammt, sie zu reproduzieren; unter anderem dadurch, dass Rassifizierte Objekte der Debatte bleiben, statt teilhabende Subjekte zu sein – während weiße Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unmarkiert und "neutral" bleiben können. Dies geschieht auch und gerade dann, wenn es nicht weiße, sondern überwiegend markierte, rassifizierte Akademiker und Aktivistinnen waren, die durch ihre langjährige Arbeit die Mehrheitsgesellschaft zur Auseinandersetzung mit diesem Thema gezwungen haben.

Ich teilte meine Bedenken dem Veranstalter mit und nannte ihnen eine Reihe nicht-weißer Expertinnen und Experten zum Thema. In der durchaus freundlichen Antwort wurde mir erklärt, es gehe bei der Konferenz um die wissenschaftliche, nicht die politische Aufarbeitung des "Rasse"-Begriffs, sonst hätte man natürlich auch Interessenvertreterinnen und -vertreter betroffener Gruppen eingeladen (die Liste der Eingeladenen wurde nicht geändert). Die implizite Annahme, dass rassifizierte Menschen nie Analyse, sondern nur "Betroffenheit" produzieren können, ist hier noch weniger problematisch als die dazugehörige Überzeugung: dass weiße, heteronormative Wissenschaft nicht politisch und subjektiv sei. Nochmals, diese Konferenz wurde nicht von besonders ignoranten weißen Menschen organisiert. Ansatz und Begründung des Ausschlusses rassifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – denn es handelt sich hier um einen aktiven Prozess des Ausschlusses, nicht um ein passives Ignorieren –, sind vielmehr symptomatisch für den wissenschaftlichen Umgang mit (der Geschichte von) "Rasse" und Rassismus in Deutschland: Was vor allem fehlt, ist eine Wissenschaftskritik, die Forschung nicht als ausschließlich neutral beschreibend, sondern auch diskursbestimmend begreift – wenn es um die Positionalität weiß rassifizierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geht, fehlt diese Fähigkeit zur Selbstkritik gänzlich, sogar wenn "Rasse" das explizite Thema ist.

Deutschland postmigrantisch?

So setzt sich das unproduktive Selbstgespräch fort, in das gelegentlich Menschen of color eingeladen werden, ohne dass sich jemals ein wirklicher Dialog entwickeln kann, da die gemeinsame Wissensbasis fehlt. Die Arbeiten von Sylvia Winter, Grace Hong, Lisa Lowe und unzähligen anderen – bis zurück zu W.E.B. DuBois und Aimé Césaire –, zum allergrößten Teil nicht ins Deutsche übersetzt, müssen Teil politscher und akademischer Debatten werden, soll "postmigrantisch" nicht ebenso herrschaftsstabilisierend funktionieren wie "postracial" es schon tut. Stattdessen wird die Arbeit rassifizierter Wissenschaftler und Aktivistinnen oft noch als Rohmaterial behandelt, das von Mehrheitsdeutschen dann in eine akzeptable Form gebracht wird. Die zögerliche, verspätete und unfreiwillige Auseinandersetzung mit Rassismus(forschung) erscheint so als selbstgewählt und originell, während ihre eigentlichen Initiatorinnen und Initiatoren ausgeschlossen bleiben. Dies ist nötig, da die Hegemonie der internalistischen Geschichte die Unterdrückung alternativer Weltsichten verlangt, stellen letztere doch die mühsam normalisierten Grenzziehungen zwischen Innen und Außen wieder infrage. Das wiederum bedeutet, dass rassifizierte Gruppen, einschließlich der Geflüchteten, permanent "außen vor" bleiben.

Allen scheinbaren – und realen – Fortschritten zum Trotz: Die fortwährende Unfähigkeit oder vielmehr Unwilligkeit, dem eklatanten Weißsein ins Auge zu sehen, das Europas Selbstbild zugrunde liegt, hat drastische Konsequenzen für Migrantinnen, Migranten und migrantisierte Gemeinschaften, die routinemäßig ignoriert, marginalisiert und als Bedrohung für eben jenes Europa definiert werden, dessen Teil sie sind. Ihre Anwesenheit wird üblicherweise nur als Zeichen einer Krise anerkannt und in der fortwährenden Konstruktion einer neuen europäischen Identität wieder vergessen.

Es gibt bisher keinen Grund anzunehmen, dass dieser Prozess im Umgang mit Geflüchteten anders ablaufen wird. Im Gegenteil, es scheint deutlich, dass die kurze Phase des "Wir schaffen das" abgelöst wurde, nicht durch ein "Wir schaffen das nicht", sondern ein "Wir wollen das nicht schaffen". Wie üblich in der Reaktion auf Strukturen, die durch die anhaltende, eklatante globale Ungleichheit produziert werden, positionieren sich diejenigen, die am meisten (zu verlieren) haben, als bedroht durch diejenigen, die schon jetzt für die Folgen dieser Ungleichheit bezahlen müssen. Ein nicht nur rhetorisch postmigrantischer Zustand wäre für mich einer, der diesen Kreislauf durchbricht.

Dieser Text beruht auf einem im November 2015 im Rahmen der Konferenz „Postmigrantische Gesell-schaft?! Kontroversen zu Rassismus, Minderheiten und Pluralisierung“ im Jüdischen Museum Berlin ge-haltenen Vortrag und erscheint in leicht abgeänderter Form in: Fatima El-Tayeb, Undeutsch. Die Konstruk-tion des Anderen in der postmigrantischen Gesell-schaft, Bielefeld 2016 (i. E.).

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Rassifiziert" meint hier die Zuschreibung kollektiver quasi-biologischer und/oder kultureller Eigenschaften, die die Wahrnehmung bestimmter Gruppen als nicht zugehörig erlaubt, auch wenn sie bereits Teil der Gesellschaft sind. Da diese Eigenschaften sowohl als der dominanten Identität entgegengesetzt und mit ihr nicht kompatibel definiert werden als auch den rassifizierten Subjekten notwendigerweise anhaftend, ist die oft verlangte Assimilierung oder Integration faktisch unmöglich beziehungsweise kann nur stattfinden, wenn die dominante Gruppe, die die alleinige Definitionsmacht besitzt, die Kompatibilitätskriterien ändert. "Migrantisiert" referiert die Funktion der Kategorie "Migrant/in der x-ten Generation", die die Klassifizierung Deutscher mit bestimmtem, nämlich rassifiziertem, Migrationshintergrund als ewige Neuankömmlinge, als nicht "wirklich" deutsch reflektiert. Vgl. Fatima El-Tayeb, Anders Europäisch. Rassismus und Widerstand im vereinten Europa, Münster 2015.

  2. Wie der Sozialwissenschaftler Robin Schroeder zeigt, spiegelt rassistische Gewalt tatsächlich alle "Kernelemente wissenschaftlicher Terrorismusdefinitionen" wider: Sie wird gegen eine Gruppe verübt, "die etwas repräsentiert, was die Täter aus politischen Gründen ablehnen", und "ist gleichsam eine gewaltsame Einschüchterung der sozialen Gruppe, zu denen die Opfer des Anschlags zählen; eine mit einer Drohung verbundene Aufforderung an den Staat (oder mehrere Staaten) ein bestimmtes Verhalten zu ändern; sowie auch ein an Sympathisanten der eigenen Sache gerichteter Aufruf zur politischen Mobilisierung". Robin Schroeder, Alles, bloß kein Terrorismus, 17.12.2015, Externer Link: http://www.migazin.de/2015/12/17/rechtsextremismus-alles-bloss-kein-terrorismus (3.3.2016).

  3. "Black Lives Matter" ist eine antirassistische US-amerikanische Graswurzelbewegung, initiiert von drei schwarzen, queeren Aktivistinnen, um gegen die wiederholte Erschießung unbewaffneter schwarzer Jugendlicher durch die Polizei zu mobilisieren. Vgl. Externer Link: http://blacklivesmatter.com.

  4. Vgl. F. El-Tayeb (Anm. 1).

  5. Vgl. etwa Cedric Robinson, Black Marxism. The Making of the Black Radical Tradition, Chapel Hill 1983; Jodi Melamed, Represent and Destroy. Rationalizing Violence in the New Racial Capitalism, Minneapolis 2011.

  6. Stuart Hall, Europe’s Other Self, in: Marxism Today, 18 (1991), S. 18f.

  7. Vgl. etwa Cathy Gelbin/Kader Konuk/Peggy Piesche (Hrsg.), AufBrüche: Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland, Königstein 1999.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Fatima El-Tayeb für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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Dr. phil., geb. 1966; Professorin für Literatur, Ethnic Studies und Critical Gender Studies, Department of Literature, University of California San Diego, 9500 Gilman Drive La Jolla, CA 92093-0410/USA. E-Mail Link: feltayeb@ucsd.edu