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Kulturrevolution in China | Kulturrevolution | bpb.de

Kulturrevolution Editorial Kulturrevolution in China: Ursachen, Verlauf und Folgen Schwierige Erinnerung: 40 Jahre Ringen um gesellschaftlichen Konsens Zur Plakatpropaganda der Kulturrevolution Spuren der Kulturrevolution im heutigen China Die Kulturrevolution und die weltpolitische Dreiecksbeziehung Beijing, Moskau, Washington Die westeuropäische Neue Linke und die chinesische Kulturrevolution

Kulturrevolution in China Ursachen, Verlauf und Folgen

Daniel Leese

/ 20 Minuten zu lesen

Was waren die wichtigsten Ursachen, Phasen und Konsequenzen der chinesischen Kulturrevolution? Auch 50 Jahre nach ihrem Beginn besteht Dissens über die historische Bedeutung der Kampagne.

Die "Große Proletarische Kulturrevolution" ragt wie ein erratischer Fremdkörper aus der Geschichte des Weltkommunismus im 20. Jahrhundert. Kein anderer kommunistischer Parteiführer außer Mao Zedong setzte den Erfolg einer sozialistischen Staatsgründung scheinbar mutwillig aufs Spiel, indem er die Volksmassen zum Widerstand gegen "revisionistische" Tendenzen innerhalb der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) selbst aufrief. Zeitgenössisch wurde die Bewegung von Vertretern der Moskau-treuen Linie als "Kinderkrankheit des Kommunismus" und als Ausdruck eines "wildgewordenen Kleinbürgertums" gebrandmarkt. Heute reicht das Spannungsfeld der Interpretationen der Kulturrevolution in den Extremen von Gleichsetzung mit dem Holocaust bis zur Verteidigung von Maos Absichten als letzten Versuch, alternative Formen politischer Repräsentation jenseits des bürokratischen Parteistaates zu etablieren.

Die enorme Divergenz der Interpretationen auch 50 Jahre nach Beginn der Bewegung verweist auf bis heute bestehende Defizite in der wissenschaftlichen Erforschung und politisch-gesellschaftlichen Aufarbeitung der Epoche. Auch wenn von einer gänzlichen Tabuisierung der Thematik in der Volksrepublik China nicht gesprochen werden kann, so ist der Rahmen offiziell zulässiger Einordnung durch eine im Juni 1981 verabschiedete Resolution zur Parteigeschichte klar vorgegeben. Kritische Diskussionen werden in der Öffentlichkeit unterbunden, und in Schulbüchern wird der Zeitraum so knapp behandelt, dass die Kulturrevolution für die jüngere chinesische Generation ähnlich fremd und von der eigenen Lebenswirklichkeit entrückt erscheint wie die Jungsteinzeit. Dieser Eindruck trügt jedoch: Ob als Schreckensszenario politischen Machtverlusts und bürgerkriegsähnlicher Gewaltorgien oder als nostalgisches Vorbild einer weitgehend egalitären Gesellschaftsordnung – das Erbe der Kulturrevolution prägt die chinesische Gegenwart auf vielfältige Weise.

Hintergründe und Ursachen

Die Hintergründe der Kulturrevolution sind von der Person Mao Zedongs und seiner Wahrnehmung der politischen Geschehnisse der 1950er und 1960er Jahre nicht zu trennen. Im Bereich der Außenpolitik waren es besonders die Entwicklungen in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins 1953, die Maos Argwohn hervorriefen. Nikita Chruschtschows Abrechnung mit der Gewaltherrschaft Stalins in seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) im Februar 1956 wurde von der chinesischen Seite als Vertrauensbruch und als schwerer politischer Fehler betrachtet, da hierdurch das sozialistische Lager als Ganzes in Mitleidenschaft gezogen wurde. Dieses Misstrauen verstärkte sich, nicht zuletzt in Anbetracht der sowjetischen Propagierung der Möglichkeit einer friedlichen Überwindung des Kapitalismus und der scheinbaren Aufgabe des Klassenkampfes. Zum Bruch zwischen den Schwesterparteien kam es 1960, als die Sowjetunion ihre technischen Berater zurückzog, inklusive der Einstellung sowjetischer Unterstützung bei der Entwicklung einer chinesischen Atombombe. Ein offener ideologischer Schlagabtausch in den Jahren 1963/64 breitete die Differenzen vor der Weltöffentlichkeit aus. Die Entwicklungen in der Sowjetunion waren für Mao das alarmierende Beispiel, dass der Erfolg der sozialistischen Revolution mit der Staatsgründung 1949 keineswegs gesichert sei. Ein Rückfall in kapitalistische Denk- und Wirtschaftsweisen, zeitgenössisch als "Revisionismus" bezeichnet, erschien somit auch in der Volksrepublik China als potenzielle Gefahr.

Vor diesem Hintergrund verfolgte Mao Zedong die innenpolitischen Entwicklungen im Gefolge des desaströsen "Großen Sprungs nach vorne" (1958 bis 1961) zunehmend kritisch. Die zeitweilige Wiedereinführung von Marktprinzipien war ihm ebenso suspekt wie die Ansicht seines Nachfolgers Liu Shaoqi, dass vorwiegend politische Fehler zur Hungerskatastrophe geführt hätten und nicht widrige Wetterbedingungen. Auch Fragen des revolutionären Erbes und der politischen Loyalität beeinflussten Mao Zedongs Wahrnehmung eines zunehmend krisenhaften Zustandes der Partei. Die in der älteren Literatur vertretene Annahme, dass ein offener "Zwei-Linien-Kampf" innerhalb der KPCh die primäre Ursache der Kulturrevolution gewesen sei, muss als überholt gelten. Weder Staatspräsident Liu Shaoqi noch der einflussreiche Parteisekretär Deng Xiaoping stellten für Mao eine machtpolitische Gefahr dar. Trotz des Scheiterns des Großen Sprungs war Mao der unumstrittene Führer der KPCh.

Die Bedeutung ideologischer Motive für Maos Entscheidung, die Kulturrevolution zu entfachen, ist nicht zu unterschätzen. Er lieferte indessen keine Blaupause für die Bewegung und ließ auch engste Vertraute im Unklaren über seine eigentlichen Absichten. Ab 1962 betonte Mao öffentlich die fortdauernde Bedeutung des Klassenkampfes und sprach vage von "neuen bourgeoisen Elementen", die auch nach der sozialistischen Revolution bekämpft werden müssten. Er ließ allerdings offen, inwiefern es sich hierbei nur um Vertreter alter Eliten handelte, die bei bisherigen Säuberungen nicht entdeckt worden seien. 1965 stieß er erstmals eine ungleich radikalere Deutung an, als er feststellte, dass in einigen Regionen Chinas eine "Bürokratenklasse" dem Volk feindselig gegenüberstehe. Dieses Postulat der Parteibürokratie als Nährboden einer neuen, "funktionalen" Bourgeoisie, die ihre Privilegien nicht länger aus Grundbesitz, sondern mittels der Verfügung über staatliche Ressourcen sicherte, wies eine gänzlich andere Stoßrichtung auf. Gegenüber Kadern aus ländlichen Regionen betonte Mao gar die Notwendigkeit der Rebellion gegen die Parteizentrale, wenn dort Revisionismus aufkommen sollte. Mao löste die Frage nach den Ursachen für die Entstehung des Revisionismus im Verlauf der Bewegung nicht auf. Aus der daraus resultierenden Ambiguität speiste sich ein Deutungskonflikt hinsichtlich der Ziele der Bewegung, den Mao Zedong in der Folgezeit in die eine oder andere Richtung zu lenken verstand und der gleichzeitig die Bewertung der Periode bis heute prägt.

Neben der Partei stand insbesondere die chinesische Jugend im Zentrum von Mao Zedongs Aufmerksamkeit. Mithilfe der Kulturrevolution erhoffte er sich eine "Immunisierung" der jungen, zumeist ohne Kriegs- oder Revolutionserfahrung aufgewachsenen Generation, die seine Ideale auch nach seinem Tod aufrechterhalten sollten. Die später als Rotgardisten bekannt gewordenen Zusammenschlüsse von Jugendlichen hatten aber auch andere Gründe, gegen die bestehende Gesellschaftsordnung zu rebellieren. Die Kategorisierung jedes Einzelnen auf Basis der vorrevolutionären Besitzstandsverhältnisse beziehungsweise in den Städten nach Erwerbsart in vorwiegend sozial definierte Klassen, von denen einige als vorteilhaft ("rote Klassen"), andere als negativ ("schwarze Klassen") gewertet wurden, perpetuierte sich durch Übertragung der Kategorien auf die Folgegenerationen. Der sogenannte Familien- oder Klassenhintergrund spielte eine entscheidende Rolle bei Fragen des Zugangs zu Schulen und Universitäten, bei der Wohnungszuteilung oder auch bei der Frage der Wahl eines geeigneten Ehepartners. Anders als in der oft nostalgischen Rückschau wahrgenommen, war die frühe Volksrepublik ein Staat mit ausgeprägten Sozialhierarchien. Bei Nachkommen vormaliger Feindesklassen führte diese Stigmatisierung zu erheblichem Rebellionspotenzial. Auch in den Fabriken hatte sich Unmut über die zunehmenden Differenzierungen zwischen festbeschäftigten Facharbeitern mit sozialer Absicherung und temporär Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen aufgestaut, vom großen Stadt-Land-Gefälle nicht zu sprechen. Soziale Konflikte bestanden somit in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft fort und traten nach Schwächung der Parteidiktatur zu Beginn der Kulturrevolution offen zutage.

Wenngleich die Kulturrevolution ohne die Person Mao Zedongs nicht denkbar ist, so hätte die Bewegung ohne die Existenz grundlegender Konflikte in der chinesischen Gesellschaft wohl kaum ihre gewaltsame Eigendynamik entwickelt. In der Kulturrevolution vermischten sich politische Machtfragen und Visionen alternativer Herrschaftsmodelle an der Spitze des Staates mit Protesten gegen strukturelle gesellschaftliche Ungerechtigkeiten von unten, was die explosive Gemengelage und den oft anarchisch erscheinenden Charakter der Bewegung erklärt.

Destabilisierung der Parteielite

Als Anlass der Kulturrevolution gilt gemeinhin die Kritik an einem Theaterstück im November 1965. In "Hai Rui wird aus seinem Amt entlassen" hatte der Beijinger stellvertretende Bürgermeister Wu Han einem aufrechten Beamten des Kaiserreichs ein literarisches Denkmal gesetzt, der es gewagt hatte, dem Kaiser unerschrocken über die wahren Zustände im Lande zu berichten. Ursprünglich auf Mao Zedongs expliziten Wunsch zur Kritik an geschönten Statistikmeldungen während des Großen Sprungs verfasst, ließ Mao das Stück nun von loyalen Propagandisten kritisieren, zunächst aufgrund der angeblichen Verneinung der unterdrückten Klassen als treibende Kraft der Geschichte, später aufgrund einer vermeintlich allegorischen Kritik. So wurde die Figur des Hai Rui im Nachhinein zum Symbol für den 1959 aufgrund seiner Kritik am Großen Sprung geschassten vormaligen Verteidigungsminister Peng Dehuai uminterpretiert. Ziel dieser Attacke war in erster Linie Wu Hans Vorgesetzter, der mächtige Beijinger Bürgermeister Peng Zhen.

Trotz aller ideologischen Motive Mao Zedongs für die Entfesselung der Kulturrevolution kann kein Zweifel darüber bestehen, dass er die Bewegung durch taktische Winkelzüge gegen potenzielle Kritiker seiner Pläne gewissenhaft vorbereitete. Zwischen November 1965 und Mai 1966 wurden neben Peng Zhen und seinen Untergebenen auch zentrale Führungsfiguren in den Bereichen Propaganda, Organisation und Militär aus fadenscheinigen Gründen entmachtet und durch loyale Paladine Maos ersetzt. Neben die offiziellen Parteiinstitutionen traten zunehmend ad hoc gebildete Kommissionen und Führungsgruppen, deren Machtbasis einzig auf der Unterstützung durch Mao beruhte.

Formell wurden die Putsche auf einer erweiterten Politbürositzung im Mai 1966 bestätigt, die häufig als Beginn der eigentlichen Kulturrevolution gewertet wird, da hier ein programmatisches Dokument, die "Mitteilung des 16. Mai", verabschiedet wurde. Öffentlich gemacht wurde die Mitteilung allerdings erst ein Jahr später. Das Dokument zeichnete ein düsteres Bild der aktuellen Situation. In einer von Mao persönlich eingefügten Passage wird von "bourgeoisen Elementen" gesprochen, die bestrebt seien, die Diktatur des Proletariats umzustürzen: "Einige von ihnen haben wir bereits erkannt, andere noch nicht." Wachsamkeit und Misstrauen dienten demzufolge als Garanten für die Enttarnung revisionistischer Schläfer in den kommunistischen Reihen.

In angespannter Atmosphäre präsidierte der gerade erst von einer Auslandsreise zurückgekehrte Liu Shaoqi in Abwesenheit Maos über die aus der Luft gegriffenen Vorwürfe gegen die angeblichen Putschisten um Peng Zhen. Den Ton prägte Verteidigungsminister Lin Biao mit einer Rede, in der er die Schriften und Aussprüche Mao Zedongs zum einzigen Wahrheitskriterium erhob: "Jeder Satz Mao Zedongs ist die Wahrheit. Ein Satz von ihm übertrifft zehntausend Sätze von uns." Überdies zog er eine Parallele zur Entstalinisierungspolitik Chruschtschows und warnte eindringlich vor ähnlichen Versuchen. Jeder Kritiker Maos müsse von der gesamten Nation zur Rechenschaft gezogen und hingerichtet werden.

Zeitgleich mobilisierte Mao Zedong die Jugend gegen "reaktionäre akademische Autoritäten", indem er in Zeitungsartikeln zur Kritik an altem Denken, alten Sitten und Gebräuchen und alter Kultur aufrufen ließ. Die im Frühsommer 1966 einsetzenden tumultartigen Konflikte an Schulen und Universitäten warfen zahllose Fragen über die Ziele und die Richtung der Bewegung auf, aber Mao zog es bewusst vor, die Parteiführung im Unklaren über seine Pläne zu belassen. Die Führung entschied sich daraufhin, die Bildungseinrichtungen durch die Entsendung von Arbeitsgruppen zu befrieden, eine Maßnahme, die Mao später zum Anlass nahm, um Liu und Deng der Unterdrückung der Studentenbewegung zu bezichtigen. Schon bald machten sich chaotische Zustände in Chinas Bildungseinrichtungen breit, als je nach Lokalität die Arbeitsgruppen die zentralen Vorgaben mehr oder minder konsequent umsetzten.

Im Sommer 1966 zog sich Mao Zedong zunächst weiter aus der Tagespolitik zurück und plante seine nächsten Schritte. In einem berühmten Brief an seine Frau Jiang Qing beschrieb er die Gefahr, dass nach seinem Tod in China die Wiedereinführung des Kapitalismus drohe und die Kulturrevolution daher als "Übungsmanöver" gegen den drohenden Umsturz dienen und alle sieben bis acht Jahre wiederholt werden solle. Der Kult um seine Person, der insbesondere von Lin Biao im Militär aufgebaut worden sei, entspreche zwar nicht seinen eigenen Überzeugungen und habe auch nicht seine Billigung erfahren, aber wenn er der Abwehr des Gespensts des Kapitalismus diene, wie er mit Rückgriff auf den mythischen Dämonenbändiger Zhong Kui argumentierte, so füge er sich dieser Instrumentalisierung seines öffentlichen Bildes. In Anspielung auf klassische Texte bezeichnete er die Kulturrevolution als Phase des "großen Chaos unter dem Himmel", welche allerdings auf die Errichtung eines Zustands "großer Ordnung" abziele.

Ende Juli 1966 kehrte Mao nach einer triumphal inszenierten körperlichen Leistungsschau bei einem Schwimmen im Yangzi-Fluss nach Beijing zurück. Er kritisierte die Parteiführung scharf für die angeblichen Fehler bei der Umsetzung seiner Vorstellungen. Im "16-Punkte-Programm" vom 8. August 1966 erhielt die Bewegung ein ebenso vages wie widersprüchliches Manifest, das gleichermaßen zur Rebellion gegen bourgeoise Autoritäten und "Personen in der Partei, die den kapitalistischen Weg gehen" aufrief, gleichzeitig aber zentrale Bereiche wie Wirtschaft oder Militär von der Kritik ausnahm. Das Dokument propagierte letztlich eher eine Reform als eine Revolution des gesamten Überbaus, die die Menschen "in ihren Seelen" berühren und von gesellschaftlichen Mentalitäten über den Bereich der Kultur bis hin zu politischen und staatlichen Institutionen reichen sollte. Hierdurch erhoffte sich Mao, das Wiederaufkommen kapitalistischer Strömungen in der Volksrepublik effektiv zu verhindern.

Kulturrevolution

Mit der Verabschiedung des 16-Punkte-Programms und der Rückkehr Mao Zedongs in das Zentrum der Macht begann die Hauptphase der Kulturrevolution, die sich von August 1966 bis in den Herbst 1968 erstreckte. Die Phase ist gekennzeichnet von einer direkten Massenmobilisierung, einerseits mithilfe der Medien und des Mao-Kults, andererseits durch persönliche Einflussnahme von Führungspersönlichkeiten in Beijing, die versuchten, die Bewegung durch direkte Kontakte mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen oder regionalen Führern in ihrem Sinne zu lenken. Zu den bekanntesten Beispielen der Mobilisierung zählen die acht "Massenbegegnungen", die im zweiten Halbjahr 1966 an verschiedenen Orten in Beijing organisiert wurden. Unter frenetischem Jubel absolvierte Mao schweigende Auftritte auf dem Tor des Himmlischen Friedens oder bei Rundfahrten in einem offenen Militärfahrzeug. Rund zwölf Millionen Menschen huldigten dem "Großen Lehrer, großen Führer, großen Oberbefehlshaber und großen Steuermann" der chinesischen Revolution und trugen den Aufruf zur kulturellen Revolution bis in die entferntesten Winkel des Landes.

Treibende Kraft in den ersten Monaten der Kulturrevolution waren die Rotgardisten, zumeist Schüler und Studierende in den großen Städten, die sich, angestachelt durch Aufrufe führender Politiker, durch Zerstörungen von Kulturgütern und brutale Misshandlungen von vermeintlichen Klassenfeinden hervortaten. Bereits Anfang August 1966 hatten Schülerinnen an dem von Töchtern der Parteielite besuchten Gymnasium der Pädagogischen Hochschule Beijing die stellvertretende Schulleiterin Bian Zhongyun brutal erschlagen. Viele weitere Gewaltakte folgten in den Wochen des "roten Terrors", dem von staatlichen Polizeibehörden kein Einhalt geboten wurde. Der Minister für Öffentliche Sicherheit Xie Fuzhi ließ sich gar mit der Aussage zitieren, dass das Erschlagen von Klassenfeinden "im Affekt" keine strafbare Handlung darstelle. Zahlreiche Kritikopfer, darunter prominente Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Lao She, entzogen sich dem Furor durch Selbstmord. Viele Rotgardisten reisten auf Staatskosten durch das Land, um die Ideale der Kulturrevolution zu verbreiten und ihre eigenen "Revolutionserfahrungen" zu sammeln. Maos Heimatort Shaoshan oder berühmte Orte der kommunistischen Parteigeschichte wurden zu Wallfahrtsorten eines Revolutionstourismus.

Die Rotgardisten-Bewegung war weder sozial homogen noch einheitlich in ihren Zielen. Konflikte um den Klassenhintergrund der jeweiligen Mitglieder waren ebenso an der Tagesordnung wie divergierende Interessen, basierend auf persönlichen Erfahrungen oder der Einflussnahme vonseiten politischer Führungspersönlichkeiten. Hierbei taten sich insbesondere die Mitglieder der Zentralen Gruppe Kulturrevolution hervor, eines zwischen 1966 und 1969 äußerst einflussreichen Zusammenschlusses radikaler Kräfte um Maos Frau Jiang Qing, die die Bewegung durch persönliche Kontakte zu steuern versuchten. Ihre Kritik zielte nicht zuletzt auf die vormals einflussreichen Führer Liu Shaoqi und Deng Xiaoping, die im Oktober 1966 offiziell aus ihren Machtpositionen entfernt worden waren und in den folgenden Monaten als zentrale Ziele öffentlicher Kritik herausgestellt wurden. Liu Shaoqi sollte die Angriffe nicht überleben. Deng Xiaoping, von dessen Fähigkeiten Mao eine hohe Meinung hatte, verbrachte die Folgezeit als Arbeiter in einer Traktorenfabrik.

Die Rotgardisten-Bewegung hat durch das medienwirksame Bild jugendlicher Revolution und auch später durch die Darstellung des brutalen Terrors in lebensgeschichtlichen Erinnerungen die öffentliche Wahrnehmung der Kulturrevolution lange Zeit geprägt. Die unmittelbare Gewalterfahrung und das rücksichtslose Durchbrechen von Werten wie dem Respekt vor Älteren trugen zweifellos zur Prominenz dieser Phase in der biografischen Literatur bei. Hierbei gerät aber leicht in den Hintergrund, dass die meisten Opfer der Kulturrevolution erst in den Jahren 1968 bis 1970 zu beklagen waren. Rund drei Viertel der Todesopfer und rund 90 Prozent der politischen Verfolgungen der Kulturrevolution gingen nicht auf rotgardistischen Terror oder Fraktionskämpfe zurück. Vielmehr waren es staatliche Akteure in Form von Milizen, Armeeeinheiten oder Organen der öffentlichen Sicherheit, die die Hauptverantwortung für die etwa 1,7 Millionen Todesopfer der Kulturrevolution sowie politische Verfolgungen im zweistelligen Millionenbereich trugen.

Ab dem Herbst 1966 verbanden sich die Rotgardisten-Gruppierungen zu losen Großallianzen mit breiterer sozialer Basis. Im Dezember 1966 gestattete die Parteiführung auch offiziell die Bildung von revolutionären Zusammenschlüssen unter Beteiligung von Arbeitern und Bauern. Hierbei handelte es sich um einen gewagten Schritt Maos, da trotz der Vorgabe, dass die Produktion nicht unter der Revolution leiden dürfe, die Steuerungsfähigkeit der Bewegung durch die in den Grundfesten erschütterte Partei deutlich eingeschränkt wurde. China geriet damit an den Rand eines von Mao selbst provozierten Bürgerkriegs, insbesondere als im Januar 1967 mit seiner Billigung landesweit zu Machtübernahmen durch revolutionäre Kräfte aufgerufen wurde.

Die Machtübernahmen gestalteten sich regional sehr unterschiedlich. Am meisten Aufsehen erlangten die Geschehnisse in Shanghai, wo unter Führung der radikalen Politiker Zhang Chunqiao und Yao Wenyuan zunächst eine Kommune nach dem Pariser Vorbild des Jahres 1871 ausgerufen wurde. Die wachsenden Konflikte bewogen Mao Zedong jedoch dazu, im Februar 1967 zu intervenieren und das Kommunekonzept abzulehnen: "Kann etwa die Kommune die Partei ersetzen? (…) Man braucht einen Kern, ganz egal wie der sich nennt." Als es ernst wurde mit der Etablierung alternativer Herrschaftsstrukturen, schreckte Mao vor einer Schwächung der Rolle der KPCh zurück, ungeachtet seiner vormaligen Kritik an bürokratischen Auswüchsen. Stattdessen favorisierte er das Modell der Revolutionskomitees, demzufolge revolutionäre Vertreter der Massen gemeinsam mit revolutionären Kadern und Armeeangehörigen die Macht übernehmen sollten. Die Armee stellte sich bald als die maßgebliche Kraft der neuen politischen Institutionen heraus. Auch wichtige Infrastruktur, das Bankwesen, sogar ganze Provinzen wurden unter Militärkontrolle gestellt. Folglich warben Vertreter konkurrierender Rebellenorganisationen um militärische Unterstützung. Das Militär wiederum hatte die Vorgabe erhalten, nur "echte" Revolutionäre zu unterstützen, wobei das Entscheidungsrecht der Parteizentrale vorbehalten war. Die unklaren Kriterien des militärischen Engagements sorgten dafür, dass sich in den meisten Provinzen die Konflikte im Verlauf des Frühjahrs 1967 verschärften.

Die Auseinandersetzungen kulminierten im Juli 1967 im sogenannten Wuhan-Zwischenfall, einem zentralen Wendepunkt der Kulturrevolution. In der Yangzi-Metropole war es zur Bildung zweier großer Massenorganisationen gekommen, von denen eine die Unterstützung des lokalen Militärs genoss. Als die Parteizentrale sich entschloss, die konkurrierende Fraktion zu unterstützen, kam es zu Ausschreitungen, und Abgesandte der Parteizentrale wurden verschleppt und misshandelt. Die Gefahr einer Militärrevolte hing über der Stadt, in der sich zufällig auch Mao Zedong aufhielt. Letztlich gelang es verblüffend rasch, die lokale Militärführung von Maos Unterstützung der Entscheidung zu überzeugen, worauf der Widerstand in sich zusammenfiel.

Mit dem Wuhan-Zwischenfall erreichte die Kulturrevolution einen letzten Höhepunkt radikalen Experimentierens. Mao Zedong beschloss, Vertreter als loyal befundener Massenorganisationen zu bewaffnen und ließ Schusswaffen aus staatlichen Beständen aushändigen. Parallel versorgten sich Rebellengruppierungen aber auch auf illegalem Wege mit Waffen und Munition, etwa von für den Vietcong bestimmten Zügen, sodass es zu zahllosen bewaffneten Auseinandersetzungen kam, die oft mit Holzknüppeln, teilweise aber auch unter Einsatz schwerer Artillerie und Boden-Luft-Raketen ausgefochten wurden. Im Nordosten Chinas experimentierten Gruppierungen sogar mit radioaktiven Sprengsätzen. Die radikale Linke attackierte unterdessen die konservative Haltung des Militärs und forderte eine Kulturrevolution auch in der Armee, was zu heftigen Konflikten zwischen der Zentralen Gruppe Kulturrevolution und dem Lager um Verteidigungsminister Lin Biao führte.

In Anbetracht der zerfallenden staatlichen Ordnung entschied sich Mao für einen radikalen Kurswechsel. Er untersagte die Attacken auf das Militär als letztem herrschaftsstabilisierenden Faktor der Parteidiktatur und stellte eine Reihe jüngerer Mitglieder der Zentralen Gruppe Kulturrevolution als Sündenböcke heraus, um "ultralinkes" Gedankengut zu kritisieren. Zudem forderte er die landesweite Einführung von Revolutionskomitees. Die Umsetzung dieser unter dem Titel "großer strategischer Plan" propagierten Maxime war ein komplexer Prozess, der sich in Abhängigkeit von lokalen Machtverhältnissen vollzog und vereinzelt noch bis in den September 1968 dauerte. Die Bildung der Revolutionskomitees ging einher mit intensiv ausgefochtenen Konflikten um Macht, Einfluss und Ideologie. Hierbei bemühten sich alle Parteien, jeweils als treueste Anhänger Mao Zedongs zu erscheinen. Folglich erlebte der Kult um Mao Zedong in dieser Phase seinen Höhepunkt. Statuen wurden errichtet, häufig ohne Billigung der Parteizentrale, die Alltagssprache wurde mit Zitaten aus dem "kleinen roten Buch" durchsetzt, jede Handlung symbolisch aufgeladen, da es zumeist keine harten Kriterien der Unterscheidung von vermeintlichen Mao-Gegnern oder -Anhängern gab. Um einige Dutzend Mangos, die Mao als Ausdruck seiner Unterstützung an Vertreter Beijinger Fabriken geschickt hatte, entwickelte sich ein veritabler eigener Kult, der die Absurdität der politischen Zustände treffend illustriert.

Im Juli 1968 machte Mao Zedong den prominentesten Führern der Rotgardisten und großen Rebellenverbänden in Beijing unmissverständlich klar, dass das Volk genug von Konflikten und Bürgerkrieg habe und ihre Zeit als gesellschaftliche Avantgarde daher abgelaufen sei. Sogenannte Arbeiter-Bauern-Propagandagruppen wurden in die Hochschulen geschickt, um wieder für Ordnung zu sorgen. Die Rotgardisten wurden hingegen landverschickt, häufig in Grenzregionen, wo sie unter harschen Bedingungen von den Bauern in körperlicher Arbeit angeleitet werden sollten. Rund 17 Millionen städtische Jugendliche betraf diese Umerziehungsmaßnahme in den Jahren zwischen 1968 und 1980. Mit der Etablierung der Revolutionskomitees und der forcierten Landverschickung der Roten Garden endete die Kulturrevolution im Sinne der Maximen des 16-Punkte-Programms. In den folgenden Monaten stabilisierten die neuen Machtorgane ihre Position durch massive Säuberungskampagnen und pervertieren die vormals propagierten Ideale einer von der Jugend getragenen Revolution gegen altes Denken sowie autoritäre Parteistrukturen.

Lin Biao-Affäre und langsames Ende der Kulturrevolution

Mit dem 9. Parteitag im April 1969 kehrte die KPCh formell wieder zu ihren regulären Organisationsprinzipien zurück, und die Kulturrevolution wurde für erfolgreich beendet erklärt. Gelegentliche Anspielungen Maos auf die weiterhin existierende Bewegung in der Folgezeit führten zu bis heute andauernden Debatten, ob die Kulturrevolution mit dem Ende der Massenphase oder erst mit Maos Tod endete. Es kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, dass mit der teils gewaltsamen Unterdrückung der Massenbewegung und der Rückkehr zu Formen parteistaatlich organisierter Teilhabe am politischen Gemeinwesen Kernanliegen der frühen Kulturrevolution negiert wurden. Allerdings blieben andere kennzeichnende Aspekte einstweilen bestehen, etwa die Personalisierung der Politik und die relative Schwäche der Institutionen. Vielen Aktivisten der frühen Phase wurde nun der Prozess gemacht. Rebellenführer und Parteikritiker wurden landverschickt, inhaftiert oder hingerichtet.

Lin Biao wurde auf dem 9. Parteitag offiziell zum Nachfolger Mao Zedongs ausgerufen, aber nur ein Jahr später ließen sich Spannungen an der Parteispitze nicht mehr übersehen. Diese sind nach heutigem Forschungsstand insbesondere auf Maos permanentes Misstrauen zurückzuführen und entzündeten sich an der Frage, wer dem 1969 verstorbenen Liu Shaoqi im Amt als Staatspräsident nachfolgen solle. Vertreter der radikalen Linken und des Militärs gerieten hierüber in einen scharfen Konflikt, wobei sich beide Seiten der Unterstützung durch Mao sicher wähnten. Letztlich stärkte Mao die Position der Linken und begann gezielt, die Stellung Lin Biaos zu unterminieren.

Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Lin Biao persönlich auf eine vorzeitige Machtübernahme drängte. Die enorm gewachsene Macht des Militärs wurde Mao Zedong allerdings spätestens deutlich, als Lin Biao im Herbst 1969 im Gefolge der Grenzscharmützel mit der Sowjetunion die Truppen landesweit in Alarmbereitschaft versetzen ließ, ohne dass Mao hierfür offiziell seine Zustimmung gegeben hatte. Letztlich strebte er in dieser Phase eine Situation permanenter Rivalität unter seinen Untergebenen an, die er je nach seinen Erfordernissen zu nutzen imstande war. Unabhängige Machtquellen nahm er hingegen als Bedrohung wahr. Lin Biaos Sohn schmiedete angesichts des sich verschlechternden Verhältnisses seines Vaters zu Mao bereits Attentatspläne, die jedoch nicht umgesetzt wurden. Während eines überhasteten Fluchtversuchs im September 1971 starb Lin Biao bei einer Notlandung in der Äußeren Mongolei.

Der in den Staatsmedien lange verschwiegene Tod des offiziellen Nachfolgers führte zu zahlreichen Krisensymptomen. Nicht nur Mao Zedong persönlich fiel gemäß der Erinnerungen seines Leibarztes zeitweilig in Depressionen, auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Richtigkeit der propagierten Wahrheiten sank in Anbetracht der zahlreichen Kurswechsel rapide. Der sich zeitgleich zu den innenpolitischen Konflikten vollziehende außenpolitische Wandel, sichtbar vor allem in der Annäherung an die Vereinigten Staaten mit dem Nixon-Besuch 1972 sowie in der Aufnahme in den UN-Sicherheitsrat im Oktober 1971, hatte neben dem Aufbrechen der außenpolitischen Isolation nicht zuletzt auch den Hintergrund, dass der Einfluss des Militärs geschwächt werden sollte. Durch die Stärkung des zivilen Staatsapparates unter Premierminister Zhou Enlai verschoben sich die innenpolitischen Machtverhältnisse. Ein erheblicher Teil der auf rund sechs Millionen Soldaten angeschwollenen Volksbefreiungsarmee wurde demobilisiert und 1973 mit Deng Xiaoping ein wesentliches Kritikopfer der Kulturrevolution als Hilfe für den an Krebs erkrankten Zhou Enlai rehabilitiert.

Es kam jedoch bis zu Maos Tod zu keiner Stabilisierung der politischen Verhältnisse. Sein Versuch, eine Balance zwischen ideologischer Radikalität und effizienter Organisation zu finden, erwies sich als Schimäre. Der kurzzeitig als Mao-Nachfolger auserkorene Shanghaier Arbeiterführer Wang Hongwen erwies sich als inkompetent und beeinflussbar. Die Gräben zwischen den Radikalen um Jiang Qing auf der einen und Deng Xiaoping auf der anderen Seite waren nicht überbrückbar und führten zu teilweise absurd anmutenden ideologischen Kampagnen, die mithilfe historischer Figuren erneut gegenwärtige Zustände kritisieren sollten. Anlässlich des Todes Zhou Enlais entlud sich die angestaute öffentliche Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen in Form direkter Kritik an den Radikalen und öffentlichen Sympathiebekundungen für Zhou und Deng am Totengedenktag im April 1976. Der schwer kranke Mao Zedong ließ sich davon überzeugen, dass Deng Xiaoping als Drahtzieher hinter den Protesten stecke. Diese Ansicht hatte bereits einige Monate zuvor Nahrung erhalten, als sich Deng geweigert hatte, sich der von Mao vorgeschlagenen Bewertung der Erfahrungen der Kulturrevolution als 70 Prozent gut und 30 Prozent schlecht anzuschließen. Die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens wurden als "konterrevolutionär" gebrandmarkt, Deng ein weiteres Mal gestürzt und mit Hua Guofeng ein weitgehend unbekannter Politiker aus Maos Heimatprovinz Hunan in die Nachfolgeposition gehoben. Der Rückhalt der Radikalen in Partei, Militär und Bevölkerung war allerdings zu gering, als dass sie den Verlust von Maos Unterstützung hätten überstehen können. Nur einen Monat nach Maos Tod am 9. September 1976 wurden ihre führenden Vertreter, die nunmehr als "Viererbande" bezeichnet wurden, in einem Putsch gefangengenommen und fünf Jahre später von einem Sondergerichtshof für den Versuch der Usurpierung der Staatsgewalt zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Erbe und Deutungsstreit

Das Erbe der Kulturrevolution stellte die KPCh vor eine schwere Belastungsprobe. Die Bewegung hatte in ihrem Verlauf beinahe alle Beteiligten in einen Strudel aus Gewalt, politischen Verdächtigungen und ideologischen Kämpfen gezogen. Täter der frühen Phase waren in späteren Abschnitten selbst verfolgt worden, sodass die Verantwortung nur schwer lokalisierbar schien und fast alle sich als Opfer darstellen konnten. Nachdem sich Deng Xiaoping, gestützt auf seine politischen und militärischen Netzwerke, bis Ende 1978 wieder als maßgeblicher politischer Akteur etabliert hatte, entschied sich die vorwiegend aus rehabilitierten Altkadern und damit aus Opfern der Kulturrevolution bestehende Parteiführung dazu, eine strikte Trennlinie zwischen politischen Fehlern und kriminellen Taten zu ziehen. In Anbetracht des Negativbeispiels der Entstalinisierungspolitik Chruschtschows wurden Mao Zedong zwar schwere politische Fehlentscheidungen vorgeworfen, jedoch unterblieb eine Generalabrechnung. Vielmehr wurde Maos Rolle als zentraler Akteur der Parteigeschichte in einer Resolution festgeschrieben. Als Verantwortliche für die Gewalt und Exzesse der Bewegung wurden hingegen Vertreter der Radikalen sowie einige Getreue Lin Biaos abgeurteilt. Das Instrument eines juristischen, auf klaren Regeln basierenden Verfahrens diente dabei auch didaktischen Zwecken und sollte den Bruch mit der Willkürherrschaft verdeutlichen.

Unterhalb der Ebene der politischen Führung wurden Millionen von kulturrevolutionären Fällen neu aufgerollt und bewertet. Auch wenn es sich meist nur um symbolische Rehabilitationen handelte und Wiedergutmachungszahlungen oder die Rückerstattung von entwendeten Gütern nur in begrenztem Umfang stattfanden, so wandte die Parteiführung um Deng doch erhebliche Zeit und Mittel dafür auf, das Protestpotenzial aufgrund historischer Unrechtsfälle gering zu halten. Mit der Festschreibung einer einzigen korrekten Version der Geschichte wurden weitere Debatten über die Vergangenheit weitgehend unterbunden und auch der künstlerischen Verarbeitung entsprechender Themen enge Grenzen gesetzt.

Gleichzeitig richtete sich der Blick auf die Zukunft und die ökonomische Modernisierung Chinas. Die sozialen und politischen Folgen der Reformpolitik hingegen schienen, insbesondere aus der Warte getreuer Anhänger Mao Zedongs, dessen düstere Prognosen hinsichtlich einer Wiederkehr des Kapitalismus in China zu bestätigen. Der oftmals obszön anmutende Reichtum hochrangiger Parteikader und ihrer Familien, der primär auf der Verfügungsmacht über staatliche Ressourcen basiert, sowie die wachsenden sozialen Unterschiede, haben dazu geführt, dass der von der Partei vorgegebene Deutungsrahmen der "umfassenden Verneinung" der Kulturrevolution keinen uneingeschränkten Zuspruch mehr findet. Die politische Instrumentalisierung der Kulturrevolution zieht sich somit bis in die Gegenwart fort. Der vormalige Ministerpräsident Wen Jiabao warnte noch 2012 angesichts eines wachsenden Personenkults um den später verurteilten Parteisekretär der Metropole Chongqing Bo Xilai vor einer Wiederkehr kulturrevolutionärer Zustände in China. Der aktuelle Parteichef Xi Jinping untersagte Ende 2013 kritische Forschungen zur maoistischen Vergangenheit, stützt sich aber andererseits zunehmend auf ein Arsenal an Herrschaftstechniken, die eng mit Mao Zedong verbunden sind. Letztlich greift jede Seite willkürlich die Aspekte der Kulturrevolution heraus, die die jeweiligen politischen Ziele zu untermauern scheinen. Die dringend gebotene Historisierung und Aufarbeitung dieses zentralen Abschnitts der neueren chinesischen Geschichte wird hierdurch erheblich erschwert.

Ph.D., geb. 1977; Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Werthmannstraße 12, 79098 Freiburg/Br. E-Mail Link: daniel.leese@sinologie.uni-freiburg.de