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Jenseits des Menschen: Posthumanismus | Der Neue Mensch | bpb.de

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Jenseits des Menschen: Posthumanismus

Rosi Braidotti

/ 15 Minuten zu lesen

Verweise auf das Posthumane sind sowohl in akademischen Debatten als auch in öffentlichen Diskussionen mit Begeisterung wie mit Befürchtungen verbunden. Der Beitrag zeigt Grundlinien einer posthumanen kritischen Theorie auf.

Der Posthumanismus entspricht dem Zeitalter, das auch als "Anthropozän" bezeichnet wird – und durch die (negativen) Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Ökosystem der Erde gekennzeichnet ist. Den Begriff prägte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen; er beschreibt damit die gegenwärtige geologische Epoche und betont die technologisch vermittelte Macht unserer Spezies und ihre tödlichen Folgen. Als Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Epoche geht der Posthumanismus jedoch über die ökologische Zukunftsfähigkeit und die Auswirkungen technologischer Vermittlung hinaus und beschäftigt sich mit Themen der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Subjektivität. Die posthumane kritische Theorie, so meine These, stellt die konstruktive Antwort auf die widersprüchlichen Bedingungen unserer Welt dar. Die posthumane Ära ist gekennzeichnet durch die Kombination rasender wissenschaftlicher und technologischer Veränderungen als Bestandteil des fortgeschrittenen Kapitalismus mit den strukturellen Begrenzungen ökonomischer Globalisierung sowie einem umfassenden Risikomanagement in Verbindung mit dem "Krieg gegen den Terror", der globalen Sicherheit sowie Fragen der Netzsicherheit.

Verweise auf das Posthumane sind sowohl in akademischen als auch in öffentlichen Diskussionen üblich geworden und haben gleichermaßen Begeisterung wie Befürchtungen – etwa hinsichtlich einer Dezentrierung des Menschen – hervorgerufen. In der posthumanen Situation gilt es, einen neuen Konsens darüber herzustellen, was zur fundamentalen Referenzeinheit des Humanen zählt. Diese grundlegende Frage stellt den aktuellen Status des Menschen an die Spitze der gesellschaftlichen wie der akademischen Agenda – genauer: die Frage nach der Struktur der politischen und ethischen Subjektivität des Menschen.

Biogenetik, Neurowissenschaften sowie Nano- und Informationstechnologien fassen im Wesentlichen zusammen, was wir heute unter der Besonderheit des Menschen verstehen. Sie gehen zugleich in dem Maße eine komplexe Beziehung mit den akademischen "Humanities", den Human- und Geisteswissenschaften, ein, als deren Wissenschaftsdiskurse problemlos einen postanthropozentrischen Ansatz übernehmen, während Geisteswissenschaften immanent anthropozentrisch und der humanistischen Tradition verpflichtet sind. Mehr noch: Biowissenschaften betonen den Zusammenhang von menschlichem Organismus – besonders der perzeptiven, kognitiven und sensorischen Fähigkeiten – und einer Vielzahl nichtmenschlicher Elemente; dazu zählen in unsere Umwelt eingebettete ökologische Faktoren und Kräfte. Zugleich umfassen sie die Verbindungen zwischen den Generationen, Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies sowie umfangreiche Zusammenhänge mit technologischen Netzwerken. Angesiedelt am radikalen Rand der Geisteswissenschaften – dabei zutiefst technophil –, postuliere ich eine posthumane kritische Theorie auf der Grundlage des Konzepts eines nomadischen Beziehungssubjekts, ausgestattet mit einer Ethik, die sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Kräfte anerkennt.

Definition des Posthumanen

Die Bedingungen des Posthumanen entstehen durch die Annäherung von Post- und Antihumanismus einerseits und Anti- und Postanthropozentrismus andererseits. Häufig überlappen sich beide Stränge, beziehen sich jedoch jeweils auf unterschiedliche intellektuelle Genealogien und Traditionen. Der Antihumanismus konzentriert sich auf die Kritik des humanistischen Ideals vom "Menschen/Mann" (man) als universellem Repräsentanten des Menschen (human), während sich der Antianthropozentrismus gegen die Hierarchie der Arten wendet und ökologische Gerechtigkeit fordert. Der Begriff "posthuman" bezeichnet die Herausbildung einer neuen Perspektive, die nicht allein einen Kulminationspunkt beider Stränge, sondern einen qualitativen Sprung bedeutet.

Posthumanismus beruft sich auf einen reichen und vielfältigen "Stammbaum", der den Antihumanismus der französischen poststrukturalistischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgreift. Als Studentin Michel Foucaults habe ich seine These vom "Tod des Menschen" als direkte Kritik der theoretischen und moralischen Grundlagen des europäischen Humanismus (als Ideal wie als welthistorische Erfahrung) übernommen. Foucault hinterfragte die humanistische Arroganz, den "Menschen" – das gebildete europäische männliche Subjekt – als Zentrum der Weltgeschichte zu betrachten. Dieser Anspruch auf Überlegenheit, der auf der Überzeugung basierte, die zentrale menschliche Eigenschaft sei eine einzigartige und bestimmte Idee der "Vernunft", wurde im 18. Jahrhundert zementiert. Foucault zufolge wurde das Modell der Aufklärung – die universelle Vernunft – als normative Kategorie für Individuen wie für Kollektive aufrechterhalten. Sie begründet, verbunden mit dem souveränen und liberalen Herrschaftsideal, die Rolle der Rationalität als Motor des historischen Fortschritts der Menschheit.

In Opposition zum so definierten Humanismus entwickelten die französischen Poststrukturalisten eine prägnante Kritik an der Komplizenschaft zwischen Vernunft – und wissenschaftlicher Rationalität – und der Gewalt und dem Terror. Den Titel einer berühmten Radierung von Goya abwandelnd, vertraten die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari die These, nicht der Schlaf der Vernunft gebiere Ungeheuer, sondern die wachsame und schlaflose Rationalität. Die Komplizenschaft erhabener humanistischer Ideale mit der Realität von Genoziden fußt auf der Analyse der konzeptionellen Wurzeln des europäischen Faschismus und des Holocaust (und wird wiederum durch sie gestützt). Wie Foucault einleuchtend in seinem Vorwort zum "Anti-Ödipus" feststellt, lehrt Deleuze, wie sich ein antifaschistisches Leben gestalten und aufrechterhalten lässt – nämlich durch eine pointierte Kritik der Macht, der Rationalität und des Staates. Diese Kritik umfasst die verschiedenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts – wie den Imperialismus und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Andere nomadische Denker weiten bei der Analyse der Vernunft als Instrument der Macht diese Einsicht ausdrücklich auf die feministische und die koloniale Dimension aus. Edward Said bemerkte, dass der Antihumanismus in den USA während der 1970er Jahre sich aus Opposition zum Vietnamkrieg speiste; auch er betonte die Kompatibilität von Vernunft und Gewalt. Und Tony Davies macht deutlich: "Alle bisherigen Humanismen sind imperial gewesen. Sie sprechen vom Menschen mit der Betonung und im Interesse einer Klasse, eines Geschlechts, einer Rasse, eines Genoms. Ihre Umklammerung erstickt all jene, die sie nicht ignoriert. (…) Es ist beinahe unmöglich, an ein Verbrechen zu denken, das nicht im Namen der Humanität begangen wurde."

Der vermeintlich universelle Standard, wie ihn das humanistische Bild des man of reason repräsentiert, wurde just wegen seiner Parteilichkeit kritisiert. Das Subjekt wird hier als männlich, weiß, urban, eine Standardsprache sprechend, heterosexuell in einen Fortpflanzungszusammenhang eingebunden sowie als Vollbürger eines anerkannten Gemeinwesens gedacht. Selbst der Marxismus fuhr – unter dem Deckmantel einer Theorie des historischen Materialismus und sozialistischen Humanismus – fort, das Subjekt des europäischen Denkens als einheitlich und vorherrschend zu definieren und ihm den Platz als Meister der Menschheitsgeschichte zuzuweisen.

Die posthumanistische kritische Bewertung des Humanismus, häufig als postmoderner Relativismus oder als regelrechter Nihilismus abgelehnt, ist exakt das Gegenteil dessen, was ihr vorgeworfen wird. Anzuerkennen, dass Vernunft und Barbarei nicht von vornherein einander widersprechen, ist weit davon entfernt, in Relativismus und Nihilismus zu münden und erzeugt vielmehr eine radikale Kritik am Begriff vom Humanismus selbst sowie seiner Verbindung mit demokratischer Kritik wie emanzipatorischer Politik. Der Posthumanismus propagiert eine solide Ethik des Widerstands gegenüber eurozentrischer humanistischer Überlegenheit sowie blinder und militanter Formen des Anthropozentrismus.

Der Posthumanismus wird auf der Basis des Untergangs vom "Menschen" – dem einstigen Maß aller Dinge – postuliert; er stellt indes kein einfaches und einheitliches Phänomen dar, denn tatsächlich gibt es zahlreiche Humanismen und daher ebenso viele Traditionen und genealogische Linien des Antihumanismus: "den romantischen und positivistischen Humanismus, durch welche die europäischen Bourgeoisien ihre Herrschaft über [die Moderne] begründet haben, [den] revolutionären Humanismus, der die Welt erschütterte, und [den] liberalen Humanismus, der ihn zu zähmen suchte, [den] Humanismus der Nazis und [den] Humanismus ihrer Opfer und Gegner, [den] antihumanistischen Humanismus Heideggers und [den] humanistischen Antihumanismus Foucaults und Althussers, [den] säkularen Humanismus von Huxley und Dawkins oder [den] Posthumanismus von Gibson und Haraway".

Der inhärente Widerspruch im Erbe des Posthumanismus wird bei postkolonialen und Rassismustheoretikern besonders deutlich: Beide interpretieren den europäischen Humanismus entlang der Geschichte des Kolonialismus und der rassistischen Gewalt – und machen die Europäer für den Gebrauch beziehungsweise den Missbrauch humanistischer Ideale bei der Herrschaft über andere Kulturen verantwortlich. In der postkolonialen Theorie fällt indes auf, dass sie humanistische Voraussetzungen nicht vollständig ablehnt, sondern diese vielmehr erneuert, indem sie sie auf nichtwestliche Traditionen bezieht. Ökofeministinnen betonen in ähnlicher Weise die Komplizenschaft der eurozentrischen Hervorhebung des "Menschen" als selbsternanntes Maß aller Dinge mit der Beherrschung und Ausbeutung der Natur durch entsprechend missbräuchliche wissenschaftliche und technologische Praktiken. Sie plädieren für eine harmonischere und einschließende Art von Humanismus, der sich durch Respekt für die Verschiedenheit lebender Materie und aller menschlichen Kulturen auszeichnet.

Posthumane kritische Theorie erwächst aus all diesen kritischen Strömungen, bewegt sich jedoch in andere Richtungen. Ausgehend von der Tatsache, dass "Wir" nicht in derselben Art und Weise und in demselben Maß "menschlich" sind, halte ich eine Herangehensweise an das "Menschliche" für notwendig, die den Begriff nicht als neutralen, sondern als hierarchischen versteht – eine, die den Zugang zu Privilegien und Ermächtigungen aufzeigt, die sowohl mit der humanistischen Tradition als auch mit der anthropozentrischen "Ausnahme" in Verbindung stehen. Mit Blick auf postkoloniale und feministische Theorien möchte ich herausstreichen, dass – wenn historisch das Humane als Träger der Verteilung von Macht diente – das Posthumane darauf zielt, ein alternatives systematisches Konzept hervorzubringen. Das bedeutet: Der Posthumanismus bringt eine qualitative Veränderung der Perspektive mit sich und nicht etwa nur eine quantitative Zunahme neuer Untersuchungsgegenstände nichtmenschlicher Art – seien dies Tiere, Pflanzen, Mineralien und technologische oder außerirdische Materie. Mein Ansatz zielt auf verleiblichte (embodied) und eingebettete (embedded) Darstellungen vielschichtiger und komplexer Machtbeziehungen, die die Struktur des "Mensch-Seins" bilden und daher auch die unseres "Posthuman-Werdens" ausmachen.

Posthumane kritische Theorie

Posthumanes Denken bereichert die antihumanistische Kritik des "Menschen" um eine neue Dimension – nämlich um die Ablehnung der Artenhierarchie. Die Besonderheiten und der Anspruch auf Überlegenheit seitens des anthropos als Repräsentant einer hierarchischen, hegemonialen und grundsätzlich gewalttätigen Spezies werden im Anthropozän aufgrund einer Kombination aus wissenschaftlichen Fortschritten und globaler ökonomischer Gier auf die Probe gestellt. Wenngleich wir auf die eine oder andere Art mit der Kritik am Humanismus vertraut sind, bringt das Lösen unserer Bindung an anthropos Schwierigkeiten mit sich. Einige sind methodischer, die meisten indes affektiver Art, denn die Abtrünnigkeit von unserer Spezies ist keine einfache Angelegenheit, und die Ent-Identifizierung mit der Menschheit bedeutet auch den Schmerz der Loslösung von einer gewohnten Idee und einer geschätzten Gemeinschaft.

Umso mehr, als die posthumane Situation sich nicht in einem Vakuum vollzieht, sondern in einer globalisierten Welt, die dahin tendiert, zutiefst inhuman zu sein, mit strukturellen Ungerechtigkeiten wie wachsender Armut und Verschuldung ebenso wie Vertreibungen aus Häusern und Ländern – mit der Folge, dass die Flüchtlings- und Obdachlosenzahlen steigen. Auch ruft die globalisierte Welt durch technologisch kontrollierte Kriegführung und Terrorbekämpfung eine "nekropolitische" Gouvernementalität – eine "Verwaltung des Todes", "die verallgemeinerte Instrumentalisierung der menschlichen Existenz und die materielle Zerstörung menschlicher Körper und Bevölkerungen" – hervor.

Die Widersprüche vervielfachen sich noch durch die Tatsache, dass dem fortgeschrittenen Kapitalismus eine technisch-wissenschaftliche Struktur zugrunde liegt, die auf der Annäherung ehemals getrennter Technologiezweige, insbesondere den Biowissenschaften und Informationstechnologien, beruht. Diese Bereiche umfassen Forschungen zu und Eingriffe in das Leben von Tieren, Samen, Zellen und Pflanzen sowie von Menschen. Auch "kognitiver Kapitalismus" genannt, funktioniert er wie ein Motor, der in die wissenschaftliche und ökonomische Kontrolle alles Lebenden investiert und gleichermaßen davon profitiert. Leben – menschliche und nichtmenschliche intelligente Materie (Zoé) – wird zu einem in die Marktökonomie des planetarischen Austauschs eingeschriebenem Profit- und Handelsgut, das in gleicher Weise verfügbar gemacht wird wie andere Güter. Als Resultat ihrer Subsumierung unter das Profitsystem etabliert sich daher eine Art postanthropozentrische Gleichheit der Arten.

Die Kapitalisierung lebender Materie erschafft eine neue posthumane politische Ökonomie. Heute sind Informationsdaten das wahre Kapital – sie beseitigen klassische Machtbeziehungen nicht, sondern ergänzen sie. Das hohe Maß an technologischer Durchdringung oder Vermittlung lebender Materie stellt eine der Manifestationen des fortgeschrittenen Kapitalismus im Anthropozän dar. Dieser verkauft die vom Markt angetriebene postanthropozentrische Wende und das erneute Interesse an der Interaktion zwischen Mensch und Nichtmensch als unproblematisch und tendiert dazu, entscheidende Differenzen unsichtbar zu machen – insbesondere strukturelle Diskriminierung und Ungerechtigkeit aufgrund vermeintlich antiquierter Variablen (Klasse, Geschlecht und Sexualität, Alter, Ethnie, race und körperliche Leistungsfähigkeit).

Die posthumane kritische Theorie widersteht solchen Vereinfachungen und hält dem entgegen, dass wir eine fundiertere und komplexere Kartografie der posthumanen Situation benötigen, um die Balance zwischen oberflächlicher Euphorie und Technopessimismus zu finden. "Wir" werden wohl das posthumane Universum bereits betreten haben; doch das "Wir" tritt nicht als homogene, geschweige denn universelle Einheit in Aktion, sondern eher als nomadisches Gefüge – in nichtlinearen, zickzackförmigen, verstreuten Beziehungen stehend und werdend und diese positiv bejahend (relational, transversal, affirmativ). Sorgfältige Vermittlungen sind hier notwendig, um neue Gefüge oder Allianzen zwischen Subjekten menschlicher und nichtmenschlicher Arten aufzubauen.

Darüber hinaus weist die überbordende Ideenproduktion im Zusammenhang mit dem Posthumanen in unserer Kultur vielfach eine problematische Tendenz dahingehend auf, die "Menschheit" in dem Moment als einheitliche Kategorie zu verstehen, in dem sie sich als bedroht und gefährdet erweist. Diese rückwirkende Neuzusammensetzung der Menschheit drückt große Angst um die Zukunft unserer Spezies aus und postuliert eine negative Art kosmopolitischen Zusammenhalts aufgrund einer panhumanen Bindung der Verletzlichkeit. Beide, der Humanitarismus der Vereinten Nationen und der gemeinschaftliche (corporate) Posthumanismus, beschwichtigen diese Angst, indem sie eine hastige Neuformulierung des panhumanen "Wir" – das heißt, wer in dieser Krise dazugehört – propagieren.

In diesem Kontext erscheint es notwendig, posthumane Subjektformationen zu überdenken. Das schließt die Ablehnung universaler Kategorien ebenso ein wie die anhaltender Vorstellungen eines zwingenden Rationalismus. Dessen offenkundigstes Beispiel stellt das transhumanistische Projekt eines kognitiven Human Enhancement dar, das auf der Wiederbelebung des humanistischen Ideals der Aufklärung basiert, den Menschen mithilfe der Technologie zu perfektionieren. Ich lehne diese Menschheitsvision kategorisch ab – erscheint sie doch gleichzeitig in ihrem Potenzial unbegrenzt wie in ihrer Umsetzung gefährlich. Ich unterstütze stattdessen kollektive und demokratische Verhandlungen darüber, was "Wir" im Begriff sind zu werden. Gegen die Reduktion des Menschen auf ein mit globalen Computernetzwerken kompatibles Depot geistiger Fähigkeiten und gegen die Interessen der Roboterindustrie wie der für künstliche Intelligenz plädiere ich für eine posthumane Vision des Subjekts als verleiblicht und eingebettet, als relational und affektiv sowie im Prozess des Werdens.

Der konzeptionelle Kern des kritischen Posthumanismus ist eine neomaterialistische monistische Ontologie. Das "monistische Universum" bezieht sich auf den zentralen Gedanken des Philosophen Baruch de Spinoza, dass die Materie, die Welt und die Menschen keine dualistischen Entitäten sind, die durch einen Gegensatz von Innen und Außen strukturiert wären. Er postuliert die Einheit aller Materie. Der Monismus verlagert die Differenz heraus aus dem dialektischen Schema in einen komplexen, durch innere und äußere Kräfte strukturierten Prozess, der auf der Beziehung zu vielfältigen Anderen beruht. Die Beziehungsfähigkeit des postanthropozentrischen Subjekts bleibt dabei nicht auf unsere Spezies beschränkt, sondern schließt nichtanthropomorphe Elemente mit ein: das Nichthumane, die vitale Kraft des Lebens selbst, Zoé. Es ist die Kraft, die die Grenzen vormals getrennter Arten, Kategorien und Domänen durchschneidet und diese neu verbindet. Zoé-zentrierter Egalitarismus ist – für mich – der Kern der postanthropozentrischen Wende: Er stellt eine materialistische, säkulare, fundierte und unsentimentale Antwort auf die opportunistische artenüberschreitende Kommerzialisierung des Lebens als logische Konsequenz des fortgeschrittenen kognitiven Kapitalismus dar.

Gesellschaftlich konstruktivistische, binäre Gegensätze wie Natur/Kultur oder menschlich/nichtmenschlich werden aufgelöst. Wir bewegen uns in Richtung einer dynamischen Art von materialistischem Vitalismus, der auf dem Gedanken beruht, dass Materie – einschließlich der menschlichen Verleiblichung – intelligent und selbstorganisierend ist. Das führt zu einer "vitalen Politik", die den Weg für eine nichthierarchische und daher stärker egalitäre Beziehung der Arten untereinander ebnet. An Stelle der Betonung des rationalen und transzendentalen Bewusstseins – eine der Säulen des Humanismus und der Schlüssel zu dessen implizitem Anthropozentrismus – tritt eine radikale Immanenz und Prozessontologie.

Mit der Verlagerung der Perspektive endet auch die kategorische Unterscheidung zwischen menschlichem Leben und dem Leben der Tiere und Nichtmenschen. Monismus betont die transversale, verleiblichte Struktur des posthumanen Subjekts als zusammengesetztes Gefüge menschlicher, nichtorganischer, maschineller und anderer Elemente: ein technologisch vermitteltes "Menschentier". In dieser posthumanen Perspektive erscheint die lebendige "Materie" als Prozessontologie, die in vielfältiger Weise mit gesellschaftlichen, psychischen und natürlichen Umgebungen interagiert und so vielfältige Zugehörigkeitsökologien produziert.

Der Verweis auf eine monistische Ontologie und ein Konzept der Immanenz (an Stelle transzendentaler Vernunft) führt auch zur Ablehnung der Rückkehr zur abstrakten Idee einer "neuen", durch eine gemeinsame Verletzlichkeit oder Angst ums Überleben beziehungsweise vor der Auslöschung des Menschen verbundenen Panhumanität. Angesichts der globalen Reichweite der Probleme in der gegenwärtigen Ära des Anthropozän ist es indes in der Tat so, dass "Wir" diese Krise gemeinsam erleben. Dieses Bewusstsein sollte jedoch die Machtungleichheiten, die innerhalb des kollektiven Subjekts ("Wir") und der Krise bestehen, nicht verschleiern.

Die posthumane kritische Theorie ruft zum Widerstand gegen eine übereilte und reaktive Neuzusammensetzung panhumaner Bindungen auf – insbesondere gegen jene, die paradoxerweise aus Angst und xenophober Ablehnung Anderer erfolgt. Stattdessen könnte es nützlicher sein, auf eine vielfältige Aktualisierung neuer transversaler Allianzen, alternativer Visionen und Praktiken von dem, was posthumane Subjekte und Gemeinschaften fähig sind zu werden, hinzuarbeiten. Um besser zu verstehen, was wir im Begriff sind zu werden und wieviel posthumane Mutation unser verleiblichtes und eingebettetes Selbst verträgt, müssen wir mit unseren Potenzialen experimentieren. Eines ist sicher: Um in Richtung vieler, differenzierter und nichtlinearer Wege für ein gemeinsames Eine-Welt-Werden zu arbeiten, müssen wir lernen, anders über uns zu denken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paul J. Crutzen, Geology of Mankind, in: Nature 415/2002, S. 23.

  2. Vgl. Francis Fukuyama, Das Ende des Menschen, Stuttgart–München 2002; Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2001; Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999; Papst Franziskus, Encyclical Letter Laudato si’: On Care for our Common Home, Rome 2015.

  3. Vgl. Rosi Braidotti, Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen, Frankfurt/M. 2014.

  4. Vgl. dies., The Contested Posthumanities, in: dies./Paul Gilroy (Hrsg.), Conflicting Humanities, London 2016, S. 9–45.

  5. Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1971.

  6. Vgl. Michel Foucault, What is Enlightenment?, in: Paul Rabinow (Hrsg.), The Foucault Reader, New York 1984, S. 32–50.

  7. Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Anti-Oedipus. Capitalism and Schizophrenia I, Minneapolis 1983. In der deutschen Ausgabe (Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/M. 19774) fehlt das Vorwort von Michel Foucault.

  8. Vgl. Rosi Braidotti, Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 20112; Edouard Glissant, Poétique de la relation, Paris 1990.

  9. Vgl. Tony Davies, Humanism, London 1997, S. 141.

  10. Vgl. Genevieve Lloyd, Das Patriarchat der Vernunft. "Männlich" und "weiblich" in der westlichen Philosophie, Bielefeld 1984.

  11. Vgl. Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin 1979; Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1993.

  12. Vgl. Fukuyama (Anm. 2); Joseph Ratzinger/Jürgen Habermas, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg/Br. 20118; Martha C. Nussbaum, Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität, Spezieszugehörigkeit, Frankfurt/M. 2010.

  13. Vgl. Luce Irigaray, Equal to Whom?, in: Naomi Schor/Elizabeth Weed (Hrsg.), The Essential Difference, Bloomington 1994, S. 63–81; Edward Said, Humanism and Democratic Criticism, New York 2004.

  14. Vgl. Rosi Braidotti, Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming, Cambridge 2002; dies., Transpositions: On Nomadic Ethics, Cambridge 2006; Neil Badmington, Theorizing Posthumanism, in: Cultural Critique 53/2003, S. 10–27; Donna Haraway, Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/M.–New York 1995, S. 33–72; dies., Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan©_Meets_ Oncomouse™. Feminism and Technoscience, London–New York 1997; Cary Wolfe (Hrsg.), Zoontologies. The Question of the Animal, Minneapolis 2003.

  15. Davies (Anm. 9), zit. nach Braidotti (Anm. 3), S. 55.

  16. Vgl. als signifikante Beispiele Avtar Brah, Cartographies of Diaspora: Contesting Identities, New York–London 1996; Vandana Shiva, Biopiracy. The Plunder of Nature and Knowledge, Boston 1997; Patricia Hill Collins, Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment, London–New York 1991; Drucilla Cornell, The Ubuntu Project with Stellenbosch University, 2002, Externer Link: http://www.fehe.org/index.php?id=281; Paul Gilroy, Against Race. Imaging Political Culture beyond the Colour Line, Cambridge, MA 2000.

  17. Vgl. Maria Mies/Vandana Shiva, Ökofeminismus, Zürich 1995; Val Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature, London–New York 1993; dies., Environmental Culture, London 2003; Donna Haraway, The Companion Species Manifesto. Dogs, People and Significant Otherness, Chicago 2003.

  18. Vgl. Braidotti (Anm. 8).

  19. Vgl. Paul Rabinow, Anthropos Today, Princeton 2003; Roberto Esposito, Bios. Biopolitics and Philosophy, Minneapolis 2008.

  20. Vgl. Deleuze/Guattari (Anm. 7); Maurizio Lazzarato, The Making of Indebted Man, Los Angeles 2012.

  21. Vgl. Achille Mbembe, Nekropolitik, in: Marianne Pieper et al. (Hrsg.), Biopolitik – in der Debatte, Wiesbaden 2011, S. 63–96, hier S. 65.

  22. Vgl. Yann Moulier Boutang, Le Capitalisme cognitif. La Nouvelle Grande Transformation, Paris–Amsterdam 2007.

  23. Vgl. Nicholas Rose, The Politics of Life Itself: Biomedicine, Power and Subjectivity in the Twentieth-first Century, Princeton 2007.

  24. Mein Begriff "Zoé" weicht grundlegend von der negativen Definition Giorgio Agambens ab, der wegen der Tilgung feministischer Perspektiven auf die Politik von Natalität und Mortalität sowie für seine Anklage gegen das Projekt der Moderne schlechthin von feministischen Wissenschaftlerinnen kritisiert wurde. Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. Zur Kritik vgl. Melinda Cooper, The Silent Scream: Agamben, Deleuze and the Politics of the Unborn, in: Rosi Braidotti/Claire Colebrook/Patrick Hanafin (Hrsg.), Deleuze and Law: Forensic Futures, Basingstoke 2009, S. 142–162; Claire Colebrook, Agamben: Aesthetics, Potentiality, Life, in: South Atlantic Quarterly 1/2009, S. 107–120; Braidotti (Anm. 3).

  25. Vgl. Social Text 106/2011 mit dem Schwerpunkt "Interspecies".

  26. Vgl. Braidotti (Anm. 8 und 14).

  27. Vgl. Dipesh Chakrabarty, The Climate of History: Four Theses, in: Critical Inquiry 35/2009, S. 197–222; Braidotti (Anm. 4).

  28. Siehe hierzu das Future of Humanity Institute in Oxford: Externer Link: http://www.fhi.ox.ac.uk; Nick Bostrom, Superintelligence. Paths, Dangers, Strategies, Oxford 2014.

  29. Vgl. Braidotti (Anm. 3), S. 61f.

  30. Vgl. Deleuze/Guattari (Anm. 11); Braidotti (Anm. 14).

  31. Vgl. Felix Guattari, Die drei Ökologien, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 2016.

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ist Professorin für Philosophie an der Universität Utrecht und Gründungsdirektorin des "Centre for the Humanities and Gender Studies". Externer Link: http://www.rosibraidotti.com