Jenseits des Menschen: Posthumanismus
Der Posthumanismus entspricht dem Zeitalter, das auch als "Anthropozän" bezeichnet wird – und durch die (negativen) Auswirkungen menschlichen Handelns auf das Ökosystem der Erde gekennzeichnet ist. Den Begriff prägte der Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen; er beschreibt damit die gegenwärtige geologische Epoche und betont die technologisch vermittelte Macht unserer Spezies und ihre tödlichen Folgen.[1] Als Auseinandersetzung mit den Herausforderungen unserer Epoche geht der Posthumanismus jedoch über die ökologische Zukunftsfähigkeit und die Auswirkungen technologischer Vermittlung hinaus und beschäftigt sich mit Themen der sozialen Gerechtigkeit und der politischen Subjektivität. Die posthumane kritische Theorie, so meine These, stellt die konstruktive Antwort auf die widersprüchlichen Bedingungen unserer Welt dar. Die posthumane Ära ist gekennzeichnet durch die Kombination rasender wissenschaftlicher und technologischer Veränderungen als Bestandteil des fortgeschrittenen Kapitalismus mit den strukturellen Begrenzungen ökonomischer Globalisierung sowie einem umfassenden Risikomanagement in Verbindung mit dem "Krieg gegen den Terror", der globalen Sicherheit sowie Fragen der Netzsicherheit.Verweise auf das Posthumane sind sowohl in akademischen als auch in öffentlichen Diskussionen üblich geworden und haben gleichermaßen Begeisterung wie Befürchtungen – etwa hinsichtlich einer Dezentrierung des Menschen – hervorgerufen.[2] In der posthumanen Situation gilt es, einen neuen Konsens darüber herzustellen, was zur fundamentalen Referenzeinheit des Humanen zählt.[3] Diese grundlegende Frage stellt den aktuellen Status des Menschen an die Spitze der gesellschaftlichen wie der akademischen Agenda – genauer: die Frage nach der Struktur der politischen und ethischen Subjektivität des Menschen.
Biogenetik, Neurowissenschaften sowie Nano- und Informationstechnologien fassen im Wesentlichen zusammen, was wir heute unter der Besonderheit des Menschen verstehen. Sie gehen zugleich in dem Maße eine komplexe Beziehung mit den akademischen "Humanities", den Human- und Geisteswissenschaften, ein, als deren Wissenschaftsdiskurse problemlos einen postanthropozentrischen Ansatz übernehmen, während Geisteswissenschaften immanent anthropozentrisch und der humanistischen Tradition verpflichtet sind. Mehr noch: Biowissenschaften betonen den Zusammenhang von menschlichem Organismus – besonders der perzeptiven, kognitiven und sensorischen Fähigkeiten – und einer Vielzahl nichtmenschlicher Elemente; dazu zählen in unsere Umwelt eingebettete ökologische Faktoren und Kräfte. Zugleich umfassen sie die Verbindungen zwischen den Generationen, Beziehungen zwischen verschiedenen Spezies sowie umfangreiche Zusammenhänge mit technologischen Netzwerken. Angesiedelt am radikalen Rand der Geisteswissenschaften – dabei zutiefst technophil –, postuliere ich eine posthumane kritische Theorie auf der Grundlage des Konzepts eines nomadischen Beziehungssubjekts, ausgestattet mit einer Ethik, die sowohl menschliche als auch nichtmenschliche Kräfte anerkennt.[4]
Definition des Posthumanen
Die Bedingungen des Posthumanen entstehen durch die Annäherung von Post- und Antihumanismus einerseits und Anti- und Postanthropozentrismus andererseits. Häufig überlappen sich beide Stränge, beziehen sich jedoch jeweils auf unterschiedliche intellektuelle Genealogien und Traditionen. Der Antihumanismus konzentriert sich auf die Kritik des humanistischen Ideals vom "Menschen/Mann" (man) als universellem Repräsentanten des Menschen (human), während sich der Antianthropozentrismus gegen die Hierarchie der Arten wendet und ökologische Gerechtigkeit fordert. Der Begriff "posthuman" bezeichnet die Herausbildung einer neuen Perspektive, die nicht allein einen Kulminationspunkt beider Stränge, sondern einen qualitativen Sprung bedeutet.Posthumanismus beruft sich auf einen reichen und vielfältigen "Stammbaum", der den Antihumanismus der französischen poststrukturalistischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgreift. Als Studentin Michel Foucaults habe ich seine These vom "Tod des Menschen" als direkte Kritik der theoretischen und moralischen Grundlagen des europäischen Humanismus (als Ideal wie als welthistorische Erfahrung) übernommen.[5] Foucault hinterfragte die humanistische Arroganz, den "Menschen" – das gebildete europäische männliche Subjekt – als Zentrum der Weltgeschichte zu betrachten. Dieser Anspruch auf Überlegenheit, der auf der Überzeugung basierte, die zentrale menschliche Eigenschaft sei eine einzigartige und bestimmte Idee der "Vernunft", wurde im 18. Jahrhundert zementiert. Foucault zufolge wurde das Modell der Aufklärung – die universelle Vernunft – als normative Kategorie für Individuen wie für Kollektive aufrechterhalten.[6] Sie begründet, verbunden mit dem souveränen und liberalen Herrschaftsideal, die Rolle der Rationalität als Motor des historischen Fortschritts der Menschheit.
In Opposition zum so definierten Humanismus entwickelten die französischen Poststrukturalisten eine prägnante Kritik an der Komplizenschaft zwischen Vernunft – und wissenschaftlicher Rationalität – und der Gewalt und dem Terror. Den Titel einer berühmten Radierung von Goya abwandelnd, vertraten die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari die These, nicht der Schlaf der Vernunft gebiere Ungeheuer, sondern die wachsame und schlaflose Rationalität.[7] Die Komplizenschaft erhabener humanistischer Ideale mit der Realität von Genoziden fußt auf der Analyse der konzeptionellen Wurzeln des europäischen Faschismus und des Holocaust (und wird wiederum durch sie gestützt). Wie Foucault einleuchtend in seinem Vorwort zum "Anti-Ödipus" feststellt, lehrt Deleuze, wie sich ein antifaschistisches Leben gestalten und aufrechterhalten lässt – nämlich durch eine pointierte Kritik der Macht, der Rationalität und des Staates. Diese Kritik umfasst die verschiedenen Katastrophen des 20. Jahrhunderts – wie den Imperialismus und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Andere nomadische Denker weiten bei der Analyse der Vernunft als Instrument der Macht diese Einsicht ausdrücklich auf die feministische und die koloniale Dimension aus.[8] Edward Said bemerkte, dass der Antihumanismus in den USA während der 1970er Jahre sich aus Opposition zum Vietnamkrieg speiste; auch er betonte die Kompatibilität von Vernunft und Gewalt. Und Tony Davies macht deutlich: "Alle bisherigen Humanismen sind imperial gewesen. Sie sprechen vom Menschen mit der Betonung und im Interesse einer Klasse, eines Geschlechts, einer Rasse, eines Genoms. Ihre Umklammerung erstickt all jene, die sie nicht ignoriert. (…) Es ist beinahe unmöglich, an ein Verbrechen zu denken, das nicht im Namen der Humanität begangen wurde."[9]
Der vermeintlich universelle Standard, wie ihn das humanistische Bild des man of reason repräsentiert, wurde just wegen seiner Parteilichkeit kritisiert.[10] Das Subjekt wird hier als männlich, weiß, urban, eine Standardsprache sprechend, heterosexuell in einen Fortpflanzungszusammenhang eingebunden sowie als Vollbürger eines anerkannten Gemeinwesens gedacht.[11] Selbst der Marxismus fuhr – unter dem Deckmantel einer Theorie des historischen Materialismus und sozialistischen Humanismus – fort, das Subjekt des europäischen Denkens als einheitlich und vorherrschend zu definieren und ihm den Platz als Meister der Menschheitsgeschichte zuzuweisen.
Die posthumanistische kritische Bewertung des Humanismus, häufig als postmoderner Relativismus oder als regelrechter Nihilismus abgelehnt,[12] ist exakt das Gegenteil dessen, was ihr vorgeworfen wird. Anzuerkennen, dass Vernunft und Barbarei nicht von vornherein einander widersprechen, ist weit davon entfernt, in Relativismus und Nihilismus zu münden und erzeugt vielmehr eine radikale Kritik am Begriff vom Humanismus selbst sowie seiner Verbindung mit demokratischer Kritik wie emanzipatorischer Politik.[13] Der Posthumanismus propagiert eine solide Ethik des Widerstands gegenüber eurozentrischer humanistischer Überlegenheit sowie blinder und militanter Formen des Anthropozentrismus.[14]
Der Posthumanismus wird auf der Basis des Untergangs vom "Menschen" – dem einstigen Maß aller Dinge – postuliert; er stellt indes kein einfaches und einheitliches Phänomen dar, denn tatsächlich gibt es zahlreiche Humanismen und daher ebenso viele Traditionen und genealogische Linien des Antihumanismus: "den romantischen und positivistischen Humanismus, durch welche die europäischen Bourgeoisien ihre Herrschaft über [die Moderne] begründet haben, [den] revolutionären Humanismus, der die Welt erschütterte, und [den] liberalen Humanismus, der ihn zu zähmen suchte, [den] Humanismus der Nazis und [den] Humanismus ihrer Opfer und Gegner, [den] antihumanistischen Humanismus Heideggers und [den] humanistischen Antihumanismus Foucaults und Althussers, [den] säkularen Humanismus von Huxley und Dawkins oder [den] Posthumanismus von Gibson und Haraway".[15]
Der inhärente Widerspruch im Erbe des Posthumanismus wird bei postkolonialen und Rassismustheoretikern besonders deutlich: Beide interpretieren den europäischen Humanismus entlang der Geschichte des Kolonialismus und der rassistischen Gewalt – und machen die Europäer für den Gebrauch beziehungsweise den Missbrauch humanistischer Ideale bei der Herrschaft über andere Kulturen verantwortlich. In der postkolonialen Theorie fällt indes auf, dass sie humanistische Voraussetzungen nicht vollständig ablehnt, sondern diese vielmehr erneuert, indem sie sie auf nichtwestliche Traditionen bezieht.[16] Ökofeministinnen betonen in ähnlicher Weise die Komplizenschaft der eurozentrischen Hervorhebung des "Menschen" als selbsternanntes Maß aller Dinge mit der Beherrschung und Ausbeutung der Natur durch entsprechend missbräuchliche wissenschaftliche und technologische Praktiken. Sie plädieren für eine harmonischere und einschließende Art von Humanismus, der sich durch Respekt für die Verschiedenheit lebender Materie und aller menschlichen Kulturen auszeichnet.[17]
Posthumane kritische Theorie erwächst aus all diesen kritischen Strömungen, bewegt sich jedoch in andere Richtungen. Ausgehend von der Tatsache, dass "Wir" nicht in derselben Art und Weise und in demselben Maß "menschlich" sind, halte ich eine Herangehensweise an das "Menschliche" für notwendig, die den Begriff nicht als neutralen, sondern als hierarchischen versteht – eine, die den Zugang zu Privilegien und Ermächtigungen aufzeigt, die sowohl mit der humanistischen Tradition als auch mit der anthropozentrischen "Ausnahme" in Verbindung stehen. Mit Blick auf postkoloniale und feministische Theorien möchte ich herausstreichen, dass – wenn historisch das Humane als Träger der Verteilung von Macht diente – das Posthumane darauf zielt, ein alternatives systematisches Konzept hervorzubringen. Das bedeutet: Der Posthumanismus bringt eine qualitative Veränderung der Perspektive mit sich und nicht etwa nur eine quantitative Zunahme neuer Untersuchungsgegenstände nichtmenschlicher Art – seien dies Tiere, Pflanzen, Mineralien und technologische oder außerirdische Materie. Mein Ansatz zielt auf verleiblichte (embodied) und eingebettete (embedded) Darstellungen vielschichtiger und komplexer Machtbeziehungen, die die Struktur des "Mensch-Seins" bilden und daher auch die unseres "Posthuman-Werdens" ausmachen.[18]