Der Schriftsteller Franz Werfel entwarf in Vorträgen, die er 1932 in Deutschland hielt, das Bild eines typischen Mannes von der Straße, eines vom Weltkrieg erschütterten, an Vernunft und Wissenschaft verzweifelnden Zeitgenossen. Dieser Mann hat zwei Söhne, die fortstrebend von ihrem Ich sich leidenschaftlich einer höheren Ordnung unterwerfen: der eine dem Kommunismus und der andere dem Nationalsozialismus. Beide Bewegungen, bisweilen auch als "politische Religionen" bezeichnet, boten eine Weltanschauung, die letztendlich mit anderen Konzeptionen, auch mit den existierenden religiösen Traditionen, unvereinbar war, und beanspruchten den Platz, den die überlieferte Religion in der Vergangenheit eingenommen hatte. Neben der Übernahme "religiöser Inhalte" (Dogma, Apokalypse und Eschatologie, Messianismus) erfüllten beide Bewegungen sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum bestimmte Funktionen traditioneller Religionen.
Der Neue Mensch im Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus
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"Politische Religionen" wie der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus knüpften in ihren Vorstellungen vom Neuen Menschen an christliche Traditionen an und formten diese im Rahmen ihrer jeweiligen Weltanschauungen um. "Erneuerung" wurde zur zentralen Kategorie.
Nicht zuletzt übernahmen "politische Religionen" von den christlichen Religionen die Suche nach dem und die Konstruktion des Neuen Menschen. In Anlehnung an Helmuth Plessner, Max Scheler und Arnold Gehlen weist der deutsche Theologe, Religions- und Kultursoziologe Gottfried Küenzlen darauf hin, dass als eine entscheidende Voraussetzung für jegliche Form von Religion das anthropologische Angelegtsein auf Selbsttranszendenz dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, "nach dem Neusein seiner selbst zu fragen".
Der Neue Mensch im Nationalsozialismus
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verband die Sehnsucht nach "wahrer" Gemeinschaft und dem ganzheitlichen Menschen, die Suche nach direktem, "authentischem" Erleben und Abenteuer sowie nach jugendlicher Autonomie und der Wunsch, sich zu bewähren und Verantwortung zu übernehmen, viele junge Menschen in Deutschland und grenzte sie von der Generation der Eltern ab.
Die Schaffung eines Neuen Menschen war schließlich auch ein Teil der nationalsozialistischen Doktrin von der allumfassenden "Erneuerung",
Bereits in "Mein Kampf" hatte Hitler die Grundsätze für den Sport- und Geschichtsunterricht sowie die Orientierung am Heer als der "höchsten Schule vaterländischer Erziehung" festgelegt. Unhintergehbare Voraussetzung für die "Neuwerdung" war die "rassische Gesundheit" beziehungsweise "Blutreinheit".
Zum Zweck der Schaffung des Neuen Menschen sollte das Leben des Einzelnen von der Wiege bis zur Bahre organisiert werden. Der erste Schritt auf diesem Wege war die "effektive" Sozialisation der Kinder und Jugendlichen. In Fragen der Erziehung erhob das "Dritte Reich" den Alleinvertretungsanspruch. Die älteren Kinder und die Jugendlichen wurden im Verband des Jungvolkes (zu diesem zählten die 10- bis 14-Jährigen, die sogenannten Pimpfe), im Verband der Jungmädel (10- bis 14-Jährige), im BDM und in der HJ mit nationalsozialistischen Inhalten vertraut gemacht und zur körperlichen Ertüchtigung, die bei den Jugendlichen durchaus bereits von paramilitärischem Charakter war, erzogen: "Die Gesinnungsgemeinschaft sollte zur 'Formation' werden."
1928 wurde Baldur von Schirach zum Reichsführer des NS-Studentenbundes, 1931 zum Reichsjugendführer der NSDAP und schließlich 1933 zum "Jugendführer des Deutschen Reiches" ernannt. Schirachs Interesse an der Jugend entsprang jedoch nicht nur machtpolitischem Kalkül, sondern für den Reichsjugendführer symbolisierte die nationalsozialistische Bewegung, indem sie die alte Ordnung hinwegfegte, einen "Neubeginn". Jugend war für Schirach ein Wert an sich: Die vitale Jugend wird bei ihm messianisch zum Träger einer Mission, zu den entscheidenden Akteurinnen und Akteuren der nahen Zukunft, die zwar für den letzten Krieg "zu spät" gekommen seien, sich jedoch nun in einer "mystischen Gemeinschaft mit den Weltkriegsgefallenen" wiederfinden.
1936 wollte Schirach Hitler einen ganzen Jahrgang zum Geburtstag schenken: Alle Zehnjährigen sollten am 20. April in das Jungvolk beziehungsweise in den Jungmädelbund eintreten. Mithilfe umfassender Werbe- und Propagandatätigkeit in Rundfunk, in den Kinos, in Schulen und auf Sportveranstaltungen konnte Schirach rund 90 Prozent des Jahrgangs für die Jugendorganisationen gewinnen. 1939 wurde schließlich die Zwangsmitgliedschaft in der "Staatsjugend" eingeführt; bereits zuvor war die HJ, die jede freie Minute der Jugendlichen bestimmte, zum wichtigsten Erziehungsträger neben Schule und Elternhaus geworden. Sport, Singen, ausgedehnte Fahrten und Zeltlager, Heimatabende, an denen die Kinder "weltanschaulich" geschult wurden, Reichssportwettkämpfe und vieles mehr fanden im Rahmen der HJ statt, die Anfang 1939 Sondereinheiten – beispielsweise die Marine-HJ, die Motor-HJ, die Flieger-HJ und die Nachrichten-HJ – bildete. Der "Schulung von Körper und Geist" waren auch die Mädchen verpflichtet, denn insbesondere sie seien für "die Reinerhaltung des Blutes als Teil des nationalen Blutbestandes" verantwortlich. Demgemäß hätten sie ihre "körperlichen Anlagen so zu entwickeln, daß die von ihnen weitergegebene Erbmasse die Nation bereichert". Der Neue Mensch sollte "gesund, kräftig, stark, wenn möglich blond (…) und selbstverständlich arisch sein".
Der Neue Mensch im Sowjetkommunismus
Die Schaffung eines Neuen Menschen war auch ein Heilsziel der Revolution von 1917, auf die sich nicht nur die Hoffnungen vieler Menschen in der Sowjetunion richteten, sondern auch jene des marxistischen Flügels in der westeuropäischen Arbeiterbewegung und eines Teils der "westeuropäischen Kulturintelligenz".
Der Schriftsteller Andrej Sinjawskij beschreibt die ersten Jahre nach der Revolution als eine Zeit der Entfaltung schöpferischer Energien: Karrieren jenseits der alten Klassenstrukturen wurden möglich, Bildung für alle wurde angeboten. Im Bereich der Kunst zeichneten die Futuristen in phantastischen Metaphern eine neue Zukunft, hier verbanden sich "utilitaristisches Pathos" mit beeindruckender "Phantastik", konkrete Taten mit erhabenen Ideen, Theorie mit Praxis. Kunst als Wert an sich wurde der Idee des Nutzens, der Idee der Revolution, unterworfen: "Und das bis auf die Spitze getriebene utilitaristische Denken wurde zum wichtigsten Zug des psychologischen Typus 'Bolschewik'."
In seinem Buch "Die Flüsterer" widmet der britische Historiker Orlando Figes den "Kindern von 1917" ein Kapitel. Eines dieser Kinder, die Anfang des Jahrhunderts geborene Jelisaweta Drabkina, war die Tochter eines Revolutionärs der ersten Stunde, der nach der misslungenen Revolution von 1905 zwölf Jahre lang im revolutionären Untergrund gelebt hatte. Sie charakterisiert den Habitus der bolschewistischen Revolutionäre folgendermaßen: "In ihren Kreisen, in denen jeder Bolschewik seine persönlichen Interessen der gemeinsamen Sache unterzuordnen hatte, galt es als 'spießbürgerlich', an sein Privatleben zu denken, solange die Partei in das entscheidende Ringen für die Befreiung der Menschheit verwickelt war." Die Bolschewiki schufen einen Kult des "selbstlosen Revolutionärs", wobei der revolutionäre Aktivist als "Urbild eines neuen Menschentyps", nämlich dem einer "kollektiven Persönlichkeit", figuriert. Die "bürgerliche" Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit sei aufzuheben, denn nichts im sogenannten Privatleben eines Menschen sei unpolitisch.
Zur Zeit des Bürgerkrieges kämpften die Bolschewiki an der "inneren Front" gegen die "Bourgeoisie", gegen frühere zaristische Beamte, Grundbesitzer, Kaufleute, "Kulaken", kleine Händler und die alte Intelligenzija. Nach dem Ende des Bürgerkrieges galt der "innere Kampf" nun dem Individualismus. Die "sogenannte Sphäre des Privatlebens dürfen wir nicht unbeachtet lassen", so der erste Volkskommissar für das Bildungswesen Anatoli Lunatscharski 1927, "denn hier liegt das zu erreichende Endziel der Revolution": die Schaffung des neuen Sowjetmenschen. Folgt man Leo Trotzki, führt der Mensch im Zuge seiner "Weiterentwicklung" eine "Säuberung von oben nach unten durch: Zuerst säubert er sich von Gott, dann säubert er die Grundlagen des Staatswesens vom Zaren, dann die Wirtschaft von Chaos und Konkurrenz und schließlich seine Innenwelt von allem Unbewußten und Finsteren."
Der erfolgreichen Sozialisierung der Kinder stehe die Familie im Wege, denn, "wenn die Familie ein Kind liebt", so die sowjetische Erziehungswissenschaftlerin Slata Lilina, "macht sie es zu einem egoistischen Wesen und ermutigt es, sich als Mittelpunkt des Universums zu betrachten". Diese "egoistische Liebe" zu den eigenen Kindern sollte durch eine "rationale Liebe" einer "erweiterten sozialen Familie" ersetzt werden.
"Neu" war in der Regel konnotiert mit "jung": "Der Kult der Jugendlichkeit, der Lobgesang auf die jugendliche Formbarkeit, Rücksichtslosigkeit, Stärke und Vitalität gehörte von Anfang an zur geistig-moralischen Grundausstattung des Bolschewismus."
Nach Ansicht Lenins hatte das sowjetische Russland die traditionelle "Sklavenmoral" und die Trägheit der Russen noch nicht überwunden. Der Neue Mensch sei also erst durch eine umfassende Kulturrevolution, insbesondere durch die industrielle Erneuerung Sowjetrusslands zu schaffen. Eine "scholastische Erziehungsdressur" lässt sich also bereits in der Lenin-Ära beobachten, nachdem alle Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion zu Mitgliedern einer internationalen, a-nationalen Nation, einer "neuen historischen Gemeinschaft" geworden waren: "Dieser neue 'Sowjetmensch' war eine neue Art von Mensch – herausgelöst aus seinen ethnisch-kulturellen oder ethnisch-nationalen Wurzeln und Eigenschaften."
Die Generation der zwischen 1905 und 1915 Geborenen, die weder in der Schule nach traditionellen Werthaltungen sozialisiert worden waren noch an den blutigen Kämpfen der Revolution und des Bürgerkrieges aktiv teilgenommen hatten, sollte schließlich für das stalinistische Regime eine zentrale Rolle spielen.
Schluss
"Politische Religionen" wie der Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus mit ihren apokalyptischen, eschatologischen und messianischen Zügen knüpften in ihren Vorstellungen vom Neuen Menschen an christliche Traditionen an und formten diese im Rahmen ihrer jeweiligen Weltanschauungen um.
Beide Ideologien knüpften dabei an die um die Jahrhundertwende sowohl in Deutschland als auch in Russland insbesondere in Intellektuellen- und Künstlerkreisen entwickelten Vorstellungen des Neuen Menschen an: "Physisch stark sollte er sein, der Neue Mensch, zugleich ausgestattet mit einem ausgeprägten Willen, intellektuell unverbildet, dafür aber instinktsicher und in Übereinstimmung mit seiner 'Natur' handelnd. Friedrich Nietzsches Vision vom 'Übermenschen', der sich seine eigene Welt in souveräner Verachtung christlicher Wertbezüge selbst schafft, hatte all diese 'menschheitlichen' Wandlungshoffnungen des Europäischen Fin de Siècle mehr oder weniger stark beeinflusst."
Bei der Schaffung dieses Neuen Menschen kam der Erziehung von Kindern und Jugendlichen eine entscheidende Rolle zu. Daher strebten sowohl Nationalsozialismus als auch Sowjetkommunismus im Sinne einer "totalen Erziehung" danach, diese nicht nur in der Schule, sondern auch in zahlreichen außerschulischen Organisationen nach ihren "Dogmen" und mithilfe zahlreicher Rituale und Kulte zu prägen. Beide Weltanschauungen waren gegen den modernen Individualismus mit seinen individuellen Freiheitspostulaten gerichtet und stellten stattdessen – auch in der Erziehung – das jeweilige Kollektiv in den Mittelpunkt. Dem Ziel einer neuen Weltordnung waren die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen – unter anderem Familie und Schule – untergeordnet.
Insbesondere die in Russland nach 1917 und in Deutschland nach 1933 sozialisierten Kinder und Jugendlichen kannten weitgehend nur das neue System, außer ihnen waren – in der nur mehr sehr eingeschränkt vorhandenen Privatsphäre – noch divergente Norm- und Wertvorstellungen vermittelt worden.
ist Soziologin und Historikerin und assoziierte Professorin am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz. E-Mail Link: sabine.haring@uni-graz.at