Herausforderung religiöse Vielfalt
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vermehrten sich die Anzeichen dafür, dass die religiösen Traditionen und Bewegungen nach wie vor höchst lebendig sind und ungebrochen große politische und gesellschaftliche Bedeutung haben.[1] Diese zu beobachtenden Entwicklungen lösten eine breite wissenschaftliche wie öffentliche Debatte über das Ausmaß und die Ursachen dieser wirklichen oder vermeintlichen "Rückkehr der Religion" aus. Im Zentrum stand die Frage, ob die säkularisierungstheoretische Erwartung eines grundlegenden Bedeutungsverlustes oder gar Niedergangs religiöser Traditionen in modernen Gesellschaften einer Korrektur bedürfe.[2] Auf den Prüfstand gerieten aber auch die vorherrschenden normativen Vorstellungen von der Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion und Politik einerseits und der Rolle religiöser Traditionen, Akteure und Positionen in der Politik andererseits.[3]Lange Zeit schien es so, als gingen diese Entwicklungen und Debatten an dem vom lateinischen Christentum geprägten Europa, dem weitgehend säkularisierten und religiös befriedeten Kontinent, vorüber.[4] Doch spätestens seit der Jahrtausendwende ist auch Europa durch eine Vielzahl religionspolitischer Konflikte gekennzeichnet. Gegenstand dieser Konflikte sind etwa religiöse Bekleidungs- und Speisevorschriften (Kopftuch, Burka), religiöse Rituale (Beschneidung, Schächten), die Präsenz religiöser Traditionen in der Öffentlichkeit (Minaretthöhe, Muezzinruf) und Formen der Religionskritik (Karikaturenstreit). Die Intensität und Dynamik dieser Konflikte hat sich noch einmal verstärkt, seit sich in einer Reihe europäischer Länder rechtspopulistische Bewegungen mit einer explizit antiislamischen Agenda formiert und etabliert haben. Aber auch die hergebrachten religionspolitischen Ordnungssysteme sind zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. So wird in Deutschland etwa darüber diskutiert, ob und wie ein gleichberechtigter Zugang muslimischer Religionsgemeinschaften zum grundgesetzlich gewährten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts oder zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ermöglicht werden kann. Gestritten wird aber auch über Arbeitnehmerrechte und Loyalitätspflichten von Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Diese Entwicklungen provozieren die Frage nach den Ursachen der Politisierung religionspolitischer Fragen auch in Europa.[5]
Veränderung der religiösen Landschaft
Es liegt zunächst nahe, diese Ursachen in den grundlegenden Veränderungen der religiösen Landschaft in Europa seit den 1960er Jahren zu suchen. Europa war auch während des Mittelalters trotz der Dominanz des lateinischen Christentums durch religiöse Vielfalt geprägt.[6] Diese nahm zwar durch dessen konfessionelle Spaltung im Zuge der Reformation zu, blieb aber trotzdem lange Zeit begrenzt. Denn sowohl die sich herausbildenden Staaten der Frühen Neuzeit als auch die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts nutzten die christlichen Konfessionen als Instrument zur Vereinheitlichung und Identitätsbildung. In der Folge entstanden unterschiedliche Gefüge religiöser Pluralität in Europa: protestantische Mehrheitsgesellschaften in Nordeuropa und Großbritannien, katholische Mehrheitsgesellschaften im Süden und bikonfessionelle Gesellschaften mit protestantischem Übergewicht im westlichen Kontinentaleuropa.[7] Sieht man vom Judentum ab, war die religiöse Pluralität im Wesentlichen eine innerchristliche.Seit den 1960er Jahren haben sich diese Muster jedoch grundlegend verändert. Sowohl die Zahl der religiösen Traditionen als auch ihre Unterschiedlichkeit haben in einem historisch unbekannten Maße zugenommen.[8] Dazu haben vier Entwicklungen beigetragen.
Erstens hat in der Bundesrepublik die (Arbeits-)Migration seit den 1960er Jahren, verstärkt durch die Effekte von Flucht und Vertreibung seit den 1990er Jahren, dazu geführt, dass der intern ausgesprochen vielgestaltige Islam neben den beiden großen christlichen Kirchen zur drittgrößten religiösen Tradition avanciert ist.[9]
Zweitens hat durch die sich ebenfalls seit den 1960er Jahren verstärkenden Prozesse der Entkirchlichung auch die Zahl der Konfessionslosen erheblich zugenommen. Durch die Vereinigung der Bundesrepublik mit der weitgehend entchristlichten DDR ist die Gruppe der Konfessionslosen noch einmal deutlich gewachsen. Sie bilden inzwischen die größte religionspolitische Gruppe.
Drittens haben die nachlassende Prägekraft konfessioneller Traditionen und kirchlicher Autoritäten, ein wachsender religiöser Analphabetismus und die zunehmende Praxis, Elemente unterschiedlicher religiöser Traditionen miteinander zu kombinieren,[10] dazu geführt, dass auch die religiösen Vorstellungswelten von Individuen immer vielfältiger werden. Das zeigt sich nicht nur auf dem Feld der Familien- und Sexualethik, sondern betrifft auch zentrale Dogmen und Glaubensinhalte.
Viertens haben auch die verstärkte mediale Präsenz bisher unbekannter oder neuer religiöser Angebote aus anderen Teilen der Welt, aber auch die Entstehung transnationaler religiöser Identitäten und Bewegungen die Pluralisierung der religiösen Landschaft vorangetrieben.
Die grundlegende Veränderung der religiösen Landschaft schlägt sich auch in einem Wandel der zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen den Religionsgemeinschaften nieder: Waren in den 1950er Jahren noch über 95 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Mitglied der beiden großen christlichen Kirchen, so hat sich bis Ende 2015 ihr Anteil auf knapp 57 Prozent reduziert. Der Anteil der Konfessionslosen lag 2010 bereits bei 30 Prozent und ist seitdem weiter gestiegen; in Ostdeutschland beträgt ihr Anteil sogar über 70 Prozent. Zum Islam bekennen sich etwa fünf Prozent. Jeweils knapp zwei Prozent der Bevölkerung zählten 2010 zu den Mitgliedern der orthodoxen Kirche und der christlichen Freikirchen. Zum Buddhismus bekannten sich 0,3 Prozent der Bevölkerung, zum Hinduismus 0,1 Prozent und ebenfalls 0,1 Prozent waren Mitglieder jüdischer Gemeinden.[11] Hinzu kommt eine Vielzahl kleinerer Religionsgemeinschaften.
Religiöse Vielfalt als Konfliktpotenzial?
Allerdings gehen religiöse Pluralität und Diversität weder notwendig noch regelmäßig mit Konflikten einher.[12] Denn sie müssen keineswegs als Bedrohung, sondern können auch als Bereicherung empfunden werden.[13] Vielmehr bedarf es besonderer Bedingungen und Kontexte, die zur Wahrnehmung von religiöser Vielfalt als Problem und in der Folge zu Konflikten führen.Religiöse Traditionen, die absolute, exklusive oder überlegene Wahrheitsansprüche reklamieren und diesen universale Geltung verschaffen wollen, können religiöse Differenz als Ausdruck eines Irrtums betrachten, der das "Seelenheil" der Gläubigen oder gar aller Menschen gefährdet. Religiöse Hierarchien wie auch Gruppen innerhalb solcher religiösen Traditionen können sich dann dazu genötigt sehen, religiöse Unterschiede innerhalb wie außerhalb der eigenen Tradition zu beseitigen, gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt. Besonders problematisch ist eine solche Konstellation, wenn es derartigen religiösen Akteuren gelingt, auf Instrumente und Akteure politischer Herrschaft zurückzugreifen. Umgekehrt kann religiöse Vielfalt auch dann zu einem Problem werden, wenn einzelne religiöse Traditionen als Mittel zur Erzeugung der Identität oder gar Homogenität politischer Gemeinwesen genutzt werden. Die religionspolitischen Konflikte der Frühen Neuzeit sind tendenziell Ausdruck der ersten Konstellation, die Konfessionalisierungspolitiken im Zuge der Staatenbildungsprozesse der Frühen Neuzeit wie die vielfach zu beobachtende starke Verknüpfung von Religion und Nation in den Prozessen der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts Beispiele für die zweite Konstellation.
Nun haben die in Europa dominierenden Kirchen sich trotz der von ihnen zum Teil bis heute verfochtenen Absolutheit, Exklusivität oder Überlegenheit ihrer Wahrheitsansprüche in langen Lernprozessen auf religiöse Pluralität eingestellt. Im Falle der katholischen Kirche fand dieser Lernprozess erst mit der auf dem zweiten Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 verkündeten Erklärung zur Religionsfreiheit einen Abschluss.[14] Auch die Staaten Westeuropas haben trotz ihrer unterschiedlichen religionspolitischen Ordnungen und trotz der vielfach nach wie vor sichtbaren mehrheitsreligiösen Prägungen ihrer Religionspolitik und politischen Kultur ein Grundmodell der Ordnung religiöser Vielfalt etabliert. Dieses beruht auf Gleichheit, Religionsfreiheit, einem weitgehend gleichen Abstand des Staates von religiösen Traditionen bis hin zu staatlicher Neutralität sowie der wechselseitigen Autonomie von Staat und Religionsgemeinschaften.[15] Prinzipiell ist dieses Grundmodell religionspolitischer Ordnung mit einer unbegrenzten religiösen Pluralität vereinbar.